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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 25 (August 1910)
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Blümner, Rudolf: Frank Wedekind als Ästhetiker: Kritik seines Glossariums 'Schauspielkunst'
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Dreyfus, Alfred: Gedichte
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Walden, Herwarth: Das Ende
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0203

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dutLke!

Herr Suse und Herr Sello, zwei Verteidiger in
Strafsachen des Herrn Harden.

Solche Irrtümer sind die Folgen oberflächlicher
Lektüre. Noch vor wenigen Jahren hatte Wedekind
laut eigenem Geständnis niemals eine Zeile von
Harden gelesen. Offenbär hät er inzwischen das
Versäumte nachgeholt, begreiflicher Weise aber für
das Studium von zehn Jahrgängen „Zukunft“ nicht
die genügende Muße gefunden.

Uebergang

Zum ersten Male erklingt das große Leitmotiv
der BrosChüre: die selige Naturalismus-Schim'pf-
weise. Aber das Thema ist wenig originell. Inte-
ressant wäre nur zu wissen, welfche Dramatiker und
Schauspieler Wedekind mit dem Schimpfwort Natu-
ralismus abtun will, Hier und da wird auf Ibsen
ges tichelt, später wird er wieder zu den ganz Großen
addiert. Auf Hauptmann zu tippen, getraut man
sich nicht. Eher auf Hartleben oder Sudermann.
Vielleicht aber ist das Glossarium „Schauspiel-
kunst“ eine SchTüsselschrift mit dem apokryphen
Untertitel: „LoS ! von Max Dreyer!“

Leichter ists, hinter die naturalistischen SChäu-
spieler zu kommen. Die paar, die es gegeben hat,
sind sch'nell genannt: Rittner, Sauer, Reicher, Bas-
sermann, Reinhardt, Lehmann, Eysoldt. Die Eysoldt
erklärt Wedekind zwar später für ein Genie, zu-
nächst aber schreibt er: „Diese Schauspieler sind für
uns nicht mehr zu gebrauchen, die heutige Dramatik
behandelt ernstere Probleme.“ Was denn? Wie
denn? Ernstere? Ernstere afe wer? Ich hoffe, ern-
stere afe Hauptmann oder Ibsen. Denn ich habe
nie gehört, daß Sauer der größte Dreyer-Spieler
sei. Und wer sind nach! Wedekind die modernen
Problem-Dramatiker? Wilhelm von Scholz und
Herbert Eulenberg, die Langeweile und Trocken-
brödelej in fünffüßige Jarnben und altertümelnde
Redensarten bringen.

I b s e n

Von dem einzigen Dramatiker der Weltliteratur
sagt Wedekind, er habe keine neue Dramatik ge-
schaffen. Gegen Ejlert Lövborg und Ulrjk Brendel
werden die Schülerschen und Eulenbergschen Schwa-
droneure ausgespielt, gegen Hedda Gabler und Re-
bekka West die Amalien, Louisen und Theklas.
Wenn Sentimentalitäten und rhetorisches GesChwätz
hinreichen, um dramatisches Interesse zu erwecken,
dann hat Wedekjnd ReCht. In der zerebralfcn Entwick-
luug aber sind die nordischen Frauen den deutsfchen
überlegen und die Erotik sitzt im Hirn, nicht in den
Genitalien. In einer Hedda oder Rebekka ßteckt mehr

LeidensChaft und Tatkraft, als in sämtlichen Gänsen
und Puten von Schillers 1 Gnaden. Um von Eulenberg
zu schweigen.

Im Ka m p f

Erneutes Schimpfen auf den erledigten Natura-
Iismus. Wenn man nur sicher wüßte, wer gemeint
ist. Wirklich Dreyer? Auch Sudermänn käme in
Frage, oder Fulda. Aber sfchließlich dichten die alle
noch wacker drauf lös, und zwar genau so schlecht,
wie damals, als der Naturalismus noch nicht ab-
gesagt war. Auch jst es nicht ganz logisch’, jeden
Dramatiker der Unnatur einen Naturalisten zu
nennen, bloß um auf den Naturalismus schimpfen
zu können.

B e r 1 i n

Wedekind schreibt: „ N a c h d e m nun diese

beiden künstlerisChen Erlebnisse.Berliner

Kinder waren und nur durch.verständlich

si nd.“ i

Verrrdammt, verrrdammt!

Vom Elend und Sterben der deutschen
Schauspielkunst

Nochmafe wird für Schiller, insbesondere für
die Braut von Messina eine Lanze gebrochen. Total
zerbrochen, eine aus morschem Holz. Seit den
Schillerjubelfeiern haben Aesthetiker und Dramatiker
sich daran gewöhnt, dreimal täglich den Dichter
des Wahren, Guten und Schönen hochlfcben zu
lassen. Das rejnigt in den Augen der Feuilleton-
Reaktionäre von dem Verdacht der Neuerungssuclit
und des Naturaljsmus und erweckt Sympathie beim
Pöbel, der siCh ! seinen Thekla-Konstrukteur nicht
rauben läßt. Aber wenn man beim Pöbel von jeher
afe „Naturalist“ gegolten hät, dann hilft dagegen
kejne Schillerbegeisterung. Und wenn Wedekind
gläubt, die Unfähigkeit der SChauspieler, Wede-
kind zu spielen, hänge mit ihrer Verachtung Schil-
lerS zusammen, so jst er erbärmlich orientiert. Sie
stehen wje e i n Schiller auf seiner Seite und können
sich kaum fassen vor Begeisterung für den Mann,
dessen „Schwung“ und Unlnenschlichkeit ihrem
„Temperament“ sö sehr zusagt. Denn an dem
„Temperament“, dessen überrasChend neue For-
derung Wedekind an den Künstler stellt, fehlt es
ihnen nicht. Nur verwechiselh sie genau wie Wede-
kjnd Temperament und Talent. Auf das bloße
talentlose Temperament fallen Direktoren und Kri-
tiker immer herein. Das sind die bekannten jungen
Talente, die sich gar schrecklich aufregen, schreien,
keuchen und ganz entSetzlich schwitzen. Nach fünf
Jahren allgemejnes Erstaunen, daß aus dem „großen

Talent“ nichts geworden ist. Inzwischen hät man
ein Dutzend Künstler zu Grunde gehen lassen, weil
man jhr „Temperament“ niCht keuchen hörte.
Schluss folgt

Cedichte

Von Albert Dreyfus

Mainacht

Du Stolze,

Du Wehrende, Weichende,

in dieser MainaCht

müßtest du meine Lippen suchen.

Die brennenden Rufe
von atemlbsen Wassern her,
die Düfte der mondtollen Wiesen
sind wie Herolde der Minne.

Du müßtest gehorchen, dich auftun,
wie der Wald, wie die Nacht.

Du ließest meinen Händen dein Gewand
in dieser Mainacht,
wie die Blumen dein Wind
ihre KnospenhüIIen.

Du ließest dich schälen aus Dunkelheiten,
daß sie entlang dir glitten,
zu deinen Füßen sich kauerten,
unterwürfig wie Hunde.

Im Geäste der Nacht
säh ich dich schimmern
wie eine weiße weiße Blüte.

r" —f-

I \ i i ; ;

Deine Arme wären entbreitet
wie Blütenblätter,

und du würdest verwelken vor Schwermut
in dieser Mainacht,

wenn ich nicht deine Brüste berührte,
dich küßte auf deines Leibes
zitternde Narbe.

Du Stolze,

du Wehrende, Weichende,

in dieser MainaCht

müßtest du meine Lippen suchen.

Atelier

Der Wind wirft Regen an die großen Scheiben
wie Pfeile bäld und bald wie Klagelaute;
vom Ofen rot schwingt Wärme, und die Lampe
streut goldne Strahlen aus der seidnen Hülle.
Vom Licht umsponnen sitzest du und schaust
und rührst mit keinem Ton und keinem Wunsch an
die Stille dieses Raumes und schenkst dich ganz
doch mir und schenkst dich so, als hätte sich
von draußen in der Welt die Schönheit aus'
dem Lärm des Leides, dem die SCheiben wehren,
zu dir geflüchtet.

Wallfahrten / ein Gedichtband von Albert Dreyfu 5,s ,,''
erscheint im Herbst dieses Jahres bei Oesterheld & Co,

Oas Ende

Nach dem Deutsch-Amerikaner und der Pro-
vinzialin ergreift der „FaChmann“ im „Berliner Lo-
kalänzeiger“ das Wort. SChlichte Erinnerungen an
Lenbach. Herr Professor Paul Meyerheim feiert
ihn und sich und gibt es der verffuchten Moderne
tüfchtig. Am erfreulichsten jedoch bleibt, daß man
endlich einmal erfährt, was diese drei Herrschaften
von der Maferei fordern und erwarten. Meyerheim,
dieser verdünnte Oberländer, rühmt das Photo-
graphisCh-Naturwahre einer Böcklinschen
Landschaft. Afeo auf eine Linsenwahrheit kommt es
hinaus Und so erklären sich höchst einfach die
retouchierten Gesichter und Landschaften der vielfcn
biederen Künstler. Ich atme auf. Endlich ein An-
hältspunkt für die Kritik. Das vollendete Auto-
mobil überfährt das letzte Pferd und das sChwarze
Tuch des perfekten Apparates für f a r b i g e Pho-
tographie dient dem Ifctzten Maler afe Grabeshülle.

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