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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 19 (Juli 1910)
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Leppin, Paul: Daniel Jesus, [10]: Roman
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Hiller, Kurt: Oskar Kokoschka
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Lasker-Schüler, Else: Leise sagen
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Döblin, Alfred: Gespräche mit Kalypso, [14]: Ueber die Musik
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0154

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gestoßcn Kat für die Sünde. NocH einmal ralfte
er sich auf und stieß sie ins Dunkle. Sie hatte
ihr Kleid an den Achseln gelöst und stand nackt im
Zimmer mit Schuhen und Strümpfen. Wie eine
Katze kroch sie zu ihm. Er wendete sein Qesicht
und wehrte sich mit den Armen gegen sie. Sie
hatte sein Hemd über der Brust geöffnet, und als
der Schuster ihre heiße, lüsterne Zunge an seinem
Leibe spürte, als ihm ihr Speichel in glühenden
Streifen die Haut versengte, sank seine Hand wie
Metall zu Boden und ließ es geschehen, daß die
Zigeunerin seinen großen Körper, nach dem sie
so lange gelechzt hatte, mit ihrer ekstatischen Liebe
verheerte wie der Hagel ein Feld.

Leise sagen —

Von El*e Lasker-Schüler

Du nahmst dir alle Sterne
Ueber meinem Herzen.

Meine Qedanken kräuseln sich
Ich muß tanzen.

Immer tust du das, was mich aufschauen läßt,
Mein Leben zu müden.

Ich kann den Abend nicht mehr
Ueber die Hecken tragen.

Im Spiegel der Bäche
Finde ich mein Bi!d nicht mehr.

Dem Erzengel hast du

Die schwebenden Augen gestohlen.

Aber ich nasche vom Seim
Ihrer Bläue.

Mein Herz geht langsam unter
Ich weiß nicht wo —

Vielleicht in deiner Hand.

Ueberall greift sie an mein Gewebe.

Gsspräche mit Kalypso

Ueber die Musik

Von Alfred Döblin
Aehtes Gesprieh

Im Sande des Strandes, unter einem dürftigen
Hüttendache, kauem der Alte und 'Jüngere des
ersten Gespräches. Es ist Spätnachmittag.

Der Junge

Wo mögen sie heut bleiben. Dies ist ihre
Stunde.

Der Alte

!n ihr geht etwas vor. Die ihr dienen, haben sie
gestern aus der Grotte kommen sehen; Lachen und
Schreien ging aus ihrem Munde, ihre Augen blitzten
abwesend. Vor der Höhle brach sie zusammen.
So kalt und todfinster wie an diesem Abend, hat
sie noch keiner gesehen. Alle zitterten, welches
Opfer ihr brütender Geist fordem würde. Aber sie
betete, brünstig, hingeworfen, lange, so lange. O,
sie liebt den Olympier. An diesem Abend, während
das Meer hungrig brüllte, hat nur ihr Freund ge-
lächelt und vor sich hingeträumt, wie eine Schwalbe
summend.

Der junge

Sie kommen heute nicht. Sie nehmen uns den
schönen, heimlichen Ort nicht.

Der Alte

Und nicht wenig macht ihn schön, daß Kalypsos
Leib hier gelegen hat, daß ihre Stimme in dieser
Luft stand, vielleicht ein Rest von ihrer Stimme
noch schwimmt. (Der Junge schweigt.) — Die
Welt geht unter, und sie plaudern. Sie plaudern
von Musik, und die Weit geht unter. Kalypso ist
unwandelbar; einstmals blieb sie leben; wer weiß,
was das Geschick über ihr diesma! verhängt. Sie
scheint sich zu bangen; wo bliebe sonst ihre Süße ?
Der Junge

Laß. Sie tun gut beide. Wie eine Flaumfeder
am Leben hängen, ohne Schwere und Harm. Ist's
wirklich so verblendet, vom Süßesten, Entferntesten
zu plaudcrn, wo sich Ungeheures vorbereitet? Dem

Unheimlichen den Rüdcen kehren und Größe be-
weisen?

Der Alte

Es ist Hochmut; ich blase mich nichf auf mit
Worten. Wir verlieren nicht viel an uns.

Der Junge

Du bist viel gewandert. (Mit ieiser Stimme.)
Was ist es mit dieser Musik?

D e r A i t e

(Lächelnd.) O so, mein junger Freund. Ein
Hauch von ihr schwimmt in der Luft. (Nachdenk-
lich ihn betrachtend.) — Aber von einer anderen
Kunst will ich zu Dir sprechen, den ich so stam-
meln und seufzen höre. Verehrst Du nicht die
Tanzkunst? Sie muß Deinem Herzen näher stehen;
denn so seid Ihr ja von heute: frauenhold, tänze-
rinnenhold. Wir beteten keine Frauen an, wir
spielten mit ihnen und lebten uns, gingen unseren
klirrenden Schritt. Kam uns ein Weib sehr nahe,
so begehrten wir es, schützten es als unser Eigen-
tum, waren ihm dankbar, weil es kräftigte, zu
schaffen und zu kämpfen. Daß die Künstler jetzt
zu den Weibern herabgesunken sind und sinken
wollen, daß sogar die Tanzkunst eine Kunsf der
Tänzerinnen, besagt mir, daß die Männer des
Weibes voll sind und nicht des Kampfes. Denn die
Tanzkunst verlangt wie eine der Männer, mein
Freund, diese hoheitsvolle, strenge Kunst, die die
Zähmung des Willens betreibt, die Unterjoehung
des Leibes unter den Willen, — darin eine gottvolle,
tieffromme Kunst. — die Willenskunst. Aber Eure
Tanzkunst zeigt nicht den gezüchteten, fromm ge-
wordenen Körper, sondern das gezüchtete Weib
oder den fraugewordenen Mann; sie zeigt Eure
Unzucht. Von Liebe faselt Ihr, die Geschlechtlich'-
keit wuchs Eucli ziu dem wichtigsten, wohiigsten
Rätsel aus, wurde Euer Geheimestes, Echtes, Ern-
stes; sogar Eure Denker säuseln von dem Brenn-
punkt des Daseins. Ich giaube, es geht Euch zu
üppig; Ihr durftet vieles vergessen. Ihr ließt Euch
den Tanz aus d^n Händen reißen, kennt nur den
Tanz der Geschlechter, den Eintanz, kaum den Viel-
tanz, den Tanz der Männer. Ihr Ueppigen,
Schweren, Blöden!

Der Junge

(Hartnäckig.) Ich kenne Lieder und Werke
aller Art. Ich möchte wissen, was es mit der
Musik ist.

Der Alte

Ich hörte ihnen manchmai zu; vieles blieb mir
unverständlich.

Der Junge

Ich bin wohl recht töricht, denn mir ist alles
klar. Ein Lied ist — ein Lied — ein Musikspiel,
schön oder häßlich.

Der Alte

Nun, merkwürdig und nachdenklich dünkt mich
doch manches ati der Musik. Auch nicht so entlegen
ist es, wenn sie von ihr sprechen; es hängt ein
Hauch von ihr in der Luft. Denn was ist nah’,
was entfernt? Das Unscheinbarc trägt Fittige und
stößt an die Ewigkeit. Ja, das Reich der Musik
ist gewaltig und unheimlich; denke nicht spöttisch
an sie. Willst Du etwas von der Anbetung und Ehr-
furcht kennen, die wir gegen Göttliches, Unnah-
bares tragen, willst Du von jener Ehrfurcht kennen,
so betrachte ein Lied, mit Ernst wie einen Stein
oder ein Tierskeiett. — Ich begreife es wohl, daß
es sie beide lockt, sich hier hinein zu verstecken,
unter die Gestalten, die der Geist tönend angenom-
men hat. — Schwer lassen sich die Erscheinungen
der Musik trennen; so rund und scharf wie das
Auge, unterscheidet das Ohr nicht. Es gibt Katzen,
Würmer, Fische, Möven, — aber welche Arten
Musik gibt es? Soll ich den Tanz eine Art und
Form nennen, weil es sich dazu tanzen läßt, oder
das Lied, weil dazu gesungen wird, oder die Sin-
fonie, weil nur Werkzcuge in ihr auftreten? Doch
so wenig, wie ich die Tiere teile in solche, die
ich brate, und solche, die sich gar nicht fangen
lassen.

Der Junge

So sprich fort. Ich staune, wie sich das Tote
in Deiner Rede verlebendigt.

Der Alte

O, das Tote! Ja, tot heißt, mein Freund, was
wir nicht fassen; wir, wir sind immer tof, die
nicht das Lebendige in uns hineinziehen.

Der Junge

Versteh’ ich recht, so meinst Du, es sei das
Reich der Musik schier unübersehbar; wolie man

aber Grenzen in ihr setzen, 60 mtissen diese nicht
spielerisch gezogen werden, sondern es müssen die
Regeln der Trennung aus der Musik selbst hervor-
gehen. I ! ! 1 IJ

Der Alte

Es gibt Tonfolgen in der Musik, längere und
kürzere, kaum oder nicht begrenzte, die auf irgend-
eine Weise in sich zusammenhängen oder doch zu-
sammen zu hängen scheinen. Viele Ordnungen in
den Tönen müssen schon getroffen sein, damit nur
jener Zusammenhalt der Töne in sich oder sein
Schein ermögiicht werde, damit nicht der einzelne
Ton haltlos wie getroffen zu Boden stürze. Aber
ihr Zusammenhalt soli nur als Bedingung und Vor-
aussetzung, als Stoff gelten, einem weiteren Anein-
anderschluß, den der Zusammeahänge unter sich;
sie bilden Bestandteile, Säulen, aus denen erst ein
Tempe! gebaut werden soü. Ich könnte Dir ver-
gleichsweise von Worten sprechen, aus denen die
Rede gebildet werden soll; jene Zusammenhangs-
möglichkeiten schaffen erst das Wörterbuch der
Musik. Doch führen alle Bilder irr. — Sieh, wenn
durch jene niederen Zusammenhangsregeln die Be-
stimmtheit, der musikalische Sinn der einzelnen Ton-
folgen gesetzt wird, so muß eine weitere Regel
festsetzen, was den Zusammenhang der so be-
stimmten und gesinnten Tonfolgen angeben soll.
Es müssen Verbände geschaffen werden; es müssen
ferner alle Tonfolgen umgrenzt werden zu diesem
Zwecke. — Die weiteren, umfassenderen Zusam-
menhänge stellen, das sagt Dir schon das Wort,
keine bloßen Reihungen der kleinen Bruchstücke
dar; Zusammenhang ist Ordnung, nicht Häufung.
Besteht aber die Möglichkeit, einer Tonfoige über-
haupt den Schein des Zusammenhangs zu geben,
so ist damit auch die Möglichkeit eines Verbandes
solcher Tonfolgen gewährleistet. Denn jene selbe
Regel kann, wie unter den Tönen, so unter Ton-
folger. Ordnung bewirken: die Wiederkehr oder
Nachahmung einer zusammenhängenden Tonreihe
ist das Urbiid auch eines Tonreihenverbandes.

Der Junge

Wofern ich Dich verstand, möchte ich schon
rasch eine kleine Form oder umfassenden Zu-
sammenhang entwickeln. Der Veränderungsmög-
lichkeiten einer Tonfolge sind ja viele; es könnte
in einem Verbande eine begrenzte und bestimmte
Tonfolge wiederkehren, — nachdem sie allein ge-
tönt hat, gefolgt oder begleitet von einer veränderten
Wiederkehr in einer zweiten Stimme, dann von einer
dritten und vierten wieder veränderten Stimme, wo-
mit schließlich der Verband enden würde. Durch
die stets sich erneuernde Tonfolge wäre solch Ver-
band streng und einfach geschlossen. Wäre dies
nicht der Weg zur Fuge? Noch einfacher möchte
wohi der Weg zum Kanon sein, der nicht ändert,
nur nachahmt.

Parttetzenc de< achten Oespräches in Nummer 20

Oskar Kokosc hka

Ein fetter orientalischer Misant, der die Acker-
schollen Brandenburgs karg besiegt, ungeistige
Monotonie für ein Kriterium echter Kunst hält,
und sich dumpf-süß aufregt an Klang, Begriff und
Assoziationen des Wortes „Verhaltenheit“, der darf
auf keinen Fall in die inneren Säle des S a I o n s
C a s s i r e r gehn. Denn dort umsprudeln, um-
glotzen, umlärmen ihn exhibitionistisdh Larven von
Europäern, Weltstadt-Antlitze der Zermürbten und
der Fainosen, Fratzen Aufgegipfelt-Verfeinerter.
Sie schwimmen in sensationenvollen Hintergründen
(meist nicht im Tageslicht, sondern in den grellen
Dämmern lcünstlicher Beleuchtungen) und platzen
vor Psychologie. Man sieht den Peter Altenberg»
mit sehr viel strohgelben Tönen, aber rotem, freient
Hals; halb, wie Walder Nornepygge es formuliert
hat: Kaffeehaus - Jesus, halb aber: Droschkenkut-
scher in Aeonen. Man sieht, schvvarz, sich ver-
zehrend, antischnörklerisch, Adolf Loos dasitzen,
den Äsketen einer Idee. Dann: den „Trance-
spieler“; den „Sadcgassenmenschen"; den „Grafen
de Montespin“. Ferner, mit Tigerzähnen, abef
rumpflich verkrumpelt (also die Karikatur deS
Blond-Bestiösen), den „brutalen Egoisten“. Fer-
ner: Herwarth Walden, dahineilend, als Kultur-
kämpfer, auf dem Posten. Dann: „eine unglück*
liche Frau“, bleich, nervious, abgehärmt, mi*
dämonischen Kufiaugen von depressiver Geschützt-

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