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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 3 (März 1910)
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Wronski, Stefan: Ein Neugieriger
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Kraus, Karl: Das Ehrenkreuz
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0021

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Hü? cheinungstag: Mittwoch

Einzelbezug: <0 Pfennig

DERSTURM

WOCHENSCHRIFT FÜR KULTUR UND DIE KÜNSTE


Redaktlon und Verlag: Berlin-Halensee, Katharinenstrasse 5
^ernsprecher Amt Wilmersdorf 3524. Anzeigen-Annahme
durch den Verlag und sämtliche Annoncen - Expeditionen


Herausgeber und Schriftleiter:
HERWARTH WALDEN


Vierteljahresbezug 1,25 Mark / Halbjahresbezug 2,50 Mark/
Jahresbezug 5,00 Mark / bei freier Zustellung / Insertions-
preis für die fünfgespaltene Nonpareillezeile 60 Pfennig


ERSTER jAHRGANG BERLIN/DONNERSTAG/DEN 17. MÄRZ 1910/WIEN NUMMER 3

KAtP^T: STEFAN WRONSKI: Ein Neugieriger /
V* KL KRAUS: Das Ehrenkreuz / THADDÄUS RITTNER:
lAM e,ati° n / ARN0LD OPPEL: Zwei Gedichte/ADOLF
HADn^-' ^' e Hochze'* d es QiUes de Rais / FERDINAND
RDEKOPF: Nymphenburg / ADOLF LOOS: Der Sattler-
•ster / FELIX STÖSSINGER: Die neu inszenierte
eatermoraI / THEATER SIEGMUND KALISCHER: Ins-
E sondere „Judith“ / ELSE LASKER-SCHÜLER: Der
^senbahnräuber / MYNONA: Von der Wolke, welche
TRf ern regnen mögen / ALFRED DÖBLIN: Glossen /

Unsere Lieblinge

Ein Neugieriger

^° n Stefan Wronski

^ em Primitiven Herrn, der es Neugier nennt,
be T 1 •Pan eine ooiitische Straßendemonstration zu
Erf achten wünscht, ist von einigen Seiten das
i"ad° rtleri' cile S 652#! worden. Als ob es nicht ge-
heit^ ^ 011 ar* stokratischen Enthusiasten der Schön-
in Q re' zen müßte, das Volk in Bewegung zu sehen,
es (im Aufflammen fiir ein Ziel, von dem
^ uiaiver und rührender Weise) ein bißchen mehr
läCj! 1Sci lenwiirde erhofft! Natürlich ist es eine
W L. rllche Chimere, von irgendeinem preußischen
pa - lreeht, von einem noch so demokratischen
Wick ar ntarisrius etwas tnr anständige Ent-
Hat^ 6 Ung deutscher Dinge erwarten zu wollen.
land? Cil etwa ^ Ceist je durchgesetzt in Deutsch-
eil. Ach, er schlägt nur mit den Flügeln und fällt
hns Ce 4 zu ^ oci en- Sind etwa die Klassiker in
erer heutigen Kultur lebendig? Lassalle hat
hber n- nur wie ein terner Kranichschwarm sind sie
Abe^ °| e hürgerliche Geseilschaft dahingezogen ...
PreuR' ^°lhsmassen, die jetzt auf den Straßen
ein ISciler Städte demonstrieren, g 1 a u b e n an
Wj nontisches Ideal, an die Mögiichkeit geistiger
Sedii UU?’ 311 tl eri Lrfolg behagiich organisierter und
in? fter 7ribünenreden... Und — wer weiß?
vieii nUem sie sicil tur ^ioso N ee in-Trott setzen:
lejciÜ Icilt werden diese Kleinbürger schön? Viel-
Her 1 ammt in diesen beruhigten, enregistrierten

Ist

em Hauch von Glut, von Religion auf?

da^rf " icht T^flicht und Reiz, das zu erkunden? Wer
nUn eUle S0 ehstatische und oft enttäuschte Hoff-
Se]b g ais „Neugier“ erledigen wollen, ohne sich
rer , St zu entiarven? ... Man mag Francesco Fer-
v0n p' en* hassen oder gleichgültig finden: das Volk
die ar’s, als es zu Hunderttausenden gegen die,
gjn ltln ketötet hatten, demonstrierte, war schön ...
ieva ?^hlange ringelte sich zischend über die Bou-
Ver ru. s‘ Hiese wüsten Gesichter, diese heiseren
sje ^nschungsschreie, diese fanatischen Gesten —
ElP aren schön, wie das milde Todeslächeln der
n°ra Duse schön ist...

QCis^ ie soziälisdsehc Presse, wenn sie ein bißchen
riser j tte’ s°Ht e ietzt hervorsuchen, wie die Pa-
tione ^ nte" ehtuellen“ durch die Straßendemonstra-
S01 n Von 1848 fasziniert wurden. Da wurde ein
er Verächter populärer Instinkte, wie es

Charles Baudelaire war, von der Inbrunst
dieser Voikskundgebungen hingerissen. Er bewun-
derte Wronski und Blanqui, ohne tibrigens dabei
seinen höhnischen Dandysmus, seine Abneigung
gegen alle demokratischen Phraseure einzubüßen.
Und für seine fast widerwilligen humanen Sympa-
thien fand er die böse Formulierung: „Wir haben
alle den republikanischen Geist in den Adern, wie
die Lustseuche in den Knochen. Wir sind demo-
kratisiert und syphilisiert.“ Aber er stieg herab
aus seinem Elfenbeinturm, in den Februartagen, er
ging auf die Straße und mischte sich unter das
Voik...

Baudelaire bei der Insurrektion! Baudelaire
bei den Elenden der Barrikaden! Eine Haltung, die
doch keinen überraschen darf, dem in den „Fleurs
du mal“, diesem größten lyrischen Buche der Welt-
literatur, das tiefe, tiefe Mitleid mit den Leiden der
Verdammten, der Ausgestoßenen, der Literaten und
Dirnen nicht entgangen ist. Noch drei Jahre nach
der Revolution schrieb Baudelaire für die „Chan-
sons“ des Pierre Dupont eine Vorrede, in der die
achtundvierziger Erschütterung in diesen Sätzen
weitergrollt:

„Als ich das Lied der Arbeiter hörte, diesen
wundervollen Schrei aus Schmerz und Meiancho-
lie, war ich betäubt und zärtlich berührt. Wie lange
hatten wir gewartet auf ein bißchen starke und
wahre Poesie! Welcher Partei man auch angehöre,
mit welchen Vorurteilen man genährt sein mag:
es ist unmöglich, nicht gerührt zu sein von dem
Schauspiel dieser kranken Menge, die da atmet den
Staub der Werkstätten, Baumwoüe schluckt, sich
vergiftet an Bleiweiß und Quecksilber und allen
Giften, mit denen man Meisterwerke schafft —;
dieser Menge, die da schläft im Ungeziefer tief in
den Stadtteilen, wo die elendesten und die erhaben-
sten Tugenden hausen neben den verstocktesten
Lastern und den Schleimfetzen der Eingekerkerten;
— dieserMenge, die da seufzet und hinsiecht, und
der die Erde ihre Wunder verdankt; die
ein wildes Purpurblut durch ihre Adern rollen fühlt;
*die einen langen, trauerschweren Biick wirft auf
dieSonne un t auf die schattigen Alleen dergroßen
Parks, und die, als Trost und Erhoiung für das
alles, aus vollem Haise nur immer in ihren Heilands-
ruf ausbricht: Wir wollen uns untereinander
lieben!“

. . . Gewiß, dies Fieber hielt nicht an. Das
Vo!k, entmutigt und banalisiert, ward für Baudeiaire
wieder uninteressant. Aber es hatte ihm doch eine
große, herrliche Erregung geschenkt, ihm, dem
Dandy, dem einsamen Empörer: ihm, dem „Neu-
gierigen“ . . .

Das Ehrenkreuz

Von Karl Kraus

In Oesterreich gibt es für junge Mädchen, die
sich dem Laster in die Arme werfen, eine Klimax
der Strafbarkeit. Man unterscheidet Mädchen, die
sich der unJbefugten Ausübung der Prostitution

schuldig machen, Mädchen, die fälschlich angeben,
daß sie unter sittenpolizeilicher Kontrolle stehen,
und schließlich Mädchen, die zwar zur Ausübung
der Prostitution, jedoch nicht zur Tragung eines
Ehrenkreuzes befugt sind. Diese Einteilung wirkt
auf den ersten Blick verwirrend, entspricht aber
durchaus den tatsächlichen Verhältnissen. Ein
Mädchen, das einem Detektiv bedenklich schien
— nichts scheint einem Detektiv bedenklicher als
ein Mädchen —, gab an, sie stehe unter sittenpoli-
zeilicher KontroHe. Sie hatte sich nur einen Scherz
erlaubt; aber man ging der Sache nach. Da sich
ihre Angabe als unrichtig herausstellte, wurde sie
wegen unbefugter Ausübung der Prostitution In
polizeiiiche Untersuchung gezogen. Da sich aber
auch dieser Verdacht ais ungerechtfertigt erwies
und sich demnach heraussteilte, daß das Mädchen
iiberhaupt keine Prostitution ausübe, so erhob die
Staatsanwaltschaft die Anklage wcgen Faiscinne!-
dung. Das Mädchen hatte sich, wie es in der An-
klage hieß, „gegenüber dem Detektiv eine soziaie
Steilung angemaßt, die ihr nicht zukam“. Sie
trieb weder erlaubte noch unerlaubte Prostitution,
sie war also eine Schwindlerin, und nur weil sie bei
der Verhandiung auf die Frage des Richters, was
sie sich dabei gedacht habe, die Antwort gab:
„Nichts“, entging sie der Verurteiiung. Um also
zu rekapitulieren: Sie hatte behauptet, sie stehe
unter sittenpolizeilicher Kontrolle. Weil dies eine
Unwahrheit war, wurde sie unter dem Verdachte
des unsittlichen Lebenswandels in Untersuchung
gezogen. Sie konnte nun zwar beweisen, daß sie
nicht unsittlich genug sei, um einen unsittlichen Le-
benswandel zu führen, aber sie konnte doch wieder
nicht beweisen, daß sie sittlich genug sei, um unter
sittenpolizeilicher Kontrolle zu stehen. So blieb
nichts übrig, ais sie wegen Falschmeldung anzu-
kiagen, wegen deren ja schließlich auch die Mör-
der in Oesterreich verurteilt werden, wenn man
ihnen den Mord nicht beweisen kann. Jetzt gehen
wir einen Schritt weiter. Wenn ein Mädchen zur
Ausübung der Prostitution befugt ist, so könnte es
vorkommen, daß sie es verschweigt und schwindel-
hafterweise angibt, sie sei zur Ausübung der Pro-
stitution nicht befugt. Sie würde sich also einen
unsittlichen Lebenswandel anmaßen, den sie nicht
deshaib führt, weil sie dazu befugt ist, sondern den
sie führt, wiewohl sie dazu nicht befugt ist, w'äh-
rend sie in Wahrheit bloß befugt ist, einen unsitt-
lichen Lebenswandel zu führen, den zu führen sie
befugt ist. Solche Fälle kommen in der Praxis
selten vor, und die Judikatur des Obersten Ge-
richtshofes ist schwankend. Am schwierigsten ist
aber der Fall, der sich kürzlich in Wiener-Neustadt
zugetragen hat. In einem dortigen Freudenhause
lebt ein Mädchen, das zur Ausiibung der Prostitu-
tion befugt ist und bisher noch keinen Anstand ge-
habt hat, Sie hat sich nie einen unsittlichen Le-
benswandel angcmaßt, den sie nicht führt, und es
ist ihr noch nicht einmal nachgewiesen worden,
daß sie fälschlich angegeben hat, eine Prostitution
nicht auszuüben, zu der sie befugt ist. Aber der
Teufel reitet das bisher unbescholtene Mädchen,
und sie geht eines Abends im Salon des Hauses mit
einem Militärjubiläumsehrenkreuz an der Brust

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