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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 44 (Dezember 1910)
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Hübner, Fritz: Nietzsches Bild
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Soyka, Otto: Bücher
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0356

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Meinung über dasselbe tief in die Unwaiirheit einge-
senkt ist.“ Diesen Vexiersyllogismus entkräften? Aber
das hat Nietzsche selbst längst besorgt. Man lese nur
nach, was er gegen D F. Strauss erwidert, der einen
ähnlichen Witz über Schopenhauer ausheckte (Erste
unzeitgemässe Betrachtung Seite 217, 218).

Gemeinplätzig ist die vorliegende Kritisierung Nietz-
sches ausserdem insofern, als sie nur die eklatanten
Merkwürdigkeiten seiner Philosophie bemerkt, sie aber
nur mit den landläufigen Einwänden befehdet. Es sind
die simplen. allbekannten Lamentationen gegen den
Uebermenschen, die Herrenmoral, die Ewige Wieder-
kunft Was so unschwer und verlohnend ist, und wo-
rauf es bei einer Wert beanspruchenden Abschätzung
Nietzsches bei den durchdringenden Untersuchungen,
die über den Gegenstand existieren, ankommt: nämlich
neue Gesichtspunkte zu seinem Verständnis oder zu
seiner Ablehnung beizubringen, weiss diese Kritik ganz
und gar nicht

Es fehlt den Fischerschen Behauptungen an gedie-
gener Begründung. Es kommt nur zu flatternden
Redensarten. Man urteile selbst: „Es gibt in seinen
(Nietzsches) Schriften eine Unzahl von blendend geist-
reichen Gedanken, aber kaum ursprüngiiche Ideen.
Denn seine Stärke liegt im Angriff, und ursprüng-
liche Ideen heilen, zugespitzte Begriffe ver-
wunden“ (79) „Einen Ursprung beleuchten, könnte
nur der ursprüngliche Mensch. Aber einer, der dies
durch subtile Verstandeskünste erreichen wiil, wird uns
durch das Licht seines Geistes nur die deutliche Leere
zeigen, anstatt eines Ursprungs, der immer der
dunklen, dem Lichte abgewendeten Seite der
Natur angehört“ (150). „Hat Nietzsche jemals
im Goethischen Sinne an die Gottheit gerührt? Im
dämonischen Ehrgeiz rührte er nur an sich selbst; und
seine vermeintliche Fülle, in der die Unsichtbar-
keit fehlte, das Dunkel, das mehr als
Licht ist, weil aus ihm das Licht entspringt,
diese Fülle ist Leere vor dem Auge, das sich nicht
durch Begriffe blenden lässt, sondern die Ahnung
der bleibenden Werte, den Glauben an ursprüngliche
Ideen hat“. (214). „Ursprünglichkeit hat ein Kind
und ein kindlicher Geist; doch Nietzsche hat sie nicht.
Hätte er wahrhaft an sich geglaubt, so wäre sein Geist
stark geblieben, und der Dämon hätte ihm nicht das
Gleichgewicht zwischen Gemüt und Verstand ver-

1'mLA.« 'u V, i z. w'lv-op'dlilgL 'MwlUvJtl * IS. a 11 il

ihm verfallen, der Einheitiiche nicht.“ (211).
Wünscht man noch linkischere, läppischere Argumen-
tationen? Zu dienen: — „Er (Nietzsche) sucht die
Schönheit überall draussen mit brünstiger Gedanken-
spannung; aber in seinem Herzen hat sie nicht ge-
wohnt. Denn wo sie ihren Sitz im Herzen
aufschlägt, dort erhält sie ihre Lieblinge
gesund, wie Goethe; allerdings auch mit Ausnahmen,
wie Hölderlin und Lenau, zu denen aber Nietzsche
nicht gehört, der scheinbar harte römische Triumphator
gar nicht gehören möchte“ (81). „Geister, die
aus der Wirklichkeit schöpfen, bleiben ge-
sund bis an ihr Lebensende. Nietzsches Geist
hat sich selber anfgerieben, weil er alles aus sich
selbst zu schöpfen suchte; denn die ganze bisherige
Erfahrung, die ganze Natur der Geschichte widersprach
ihm. Wer aber gegen den Strom der Dinge
schwimmt, vernichtet nicht diese spndern
sich selbst“ (47). Um einen Nietzsche tu wider-
Iegen, dazu braucht es denn doch mehr, als sölch einer
täppischen, ungesäuerten Dialektik.

Worin das Fischersche Zetermordio gipfelt, wird
man bereits gemerkt haben. „Nietzche ist nicht ur-
sprünglich.“ Dreist und beharrlich wirds behauptet.
Was unter „Ursprünglichkeit“ zn verstehen sei, wird
hingegegen nicht gesagt. Ich wenigstens gebe mich
mit unklaren, zu nichts verbindenden aber immer
kategorisch auftretenden — Definitionen wie den schon
zitierten oder wie zum Beispiel der folgenden nicht
zufrieden. „Nietzsche ist nicht ursprünglich. Dazu
fehlt ilim das intuitve Erkennen, die Demut der Grösse,
das grosse Schweigen, aus dem die Ideen, die Ur-
formen auftauchen“ (150). Ueberhaupt handhabt
Fischer das so verhäkelte, viel umstrittene, nach gründ-
licheren phsychogenetischen Einblicken geradezu un-
lösbarer Problem der Ursprünglichkeit viel zu einfach
und ausgemacht. Auf dergleichen biedere Ideen er-
widert Nietzsche: „Zuletzt erfindet er (gemeint ist
eigentlich D F Strauss) noch für seine Gewöhnungen,
Betrachtungsarten, Ablehnungen und Begünstigungen die
allgemein wirksame Formel „„Gesundheit““ und besei-
tigt mit der Verdächtigung krank und überspannt zu
sein, jeden unbequemen Störenfried. So redet David
Strauss, ein rechter satisfait unserer Bildungzustände

und typischer Philister, einmal mit charakteristischer Rede-
wendung von „„Arthur Schopenhauers zwar durchwegs
geistvollen, doch vielfach ungesnnden und unerspriess-
lichen Philosophieren.““ Es ist nämlich eine fatale
Tatsache, dass sich ,,„der Geist““ mit besonderer Sym-
pathie auf die „„Ungesunden und Unerspriesslichen““
niederzulassen pflegt, und dass selbst der Philister,
wenn er einmal ehrlich gegen sich ist, bei den Philo-
sophemen, die seines Glcichen zur Welt und zu
Markte bringt, so etwas empfindet von vielfach geist-
losem, doch durchweg gesunden und erspriesslichem
Philophieren.“ (Erste unzeitgemässe Betrachtung
Seite 193.)

Der dritte, der unerquicklichste Defekt dieses An-
griffs auf Nietzsche ist seine gelegenliche Hässlichkeit.
Hässlich ist jenes aufdringlich-familiäre Dutzen Nietz-
sches. Eine Gardinenpredigt wie die folgende (an
einen Abgeschiedenen, an eine Heroen!) ist einfach
abstossend. „Du Nietzsche warst vernünftig und bist
irrsinnig geworden. Warum hast du dein eigenes Ge-
bot nicht gehalten? Wäre Deine Natur du selbst (!)
geblieben, so hätte dies nicht geschehen können. Denn
die Natur kann nur das werden, was sie ist. Das ist
ihr Grundsatz. In dir ist sie aber als reine Natur
nicht zum Audruck gekommen, und die Folge davon
war ein Riss deines Wesens “ (78). Hässlich sind auch
jene blümchenfrommen Salbadereien wie etwa diese:
„Doch der wahre Uebermensch dass heisst der reine
Mensch, wird Herr über Dämonen, wie Goethe; der
scheinbar, dass heisst der vom Wahn geblendete, wird
von ihnen besiegt, wie Nietzsche Das ist der Gegen-
satz von Gesundheit und Krankheit, von geistigem
Licht und geistiger Umnachtung. So dienen seine An-
hänger einem Nachtgeiste von dämonischer Beredsam-
keit und keinem Lichtgeiste, einem der seine Gottes-
kindschaft verloren hat, einem, der vermeinte, das
Ideal, das verschiedene Völker verschieden benannt
haben: Gott abzusetzen und an seine Stelle den
Uebermenschen, dass heisst sich selbst auf den Thron
des Erdgeistes zu setzen. Und die Nemesis, die Tra-
gik dieser Empörung wider das Ideai der Menschheit,
wider Gott: er versank in die Nacht, in den geistigen
Tod. Man könnte gläubig werden im alten Sinne,
soweit man auch davon entfernt ist, wenn man dieses
Schicksal betrachtet“ (157). Hässlich ist ferner jenes
Genugtuungsgefühl über Nietzsches geistiger Umnachtung,
uaa Sicu ufcispieiswfcise aut oüue 54 so ausseri: „nrmei
Nietzsche, du Uebermensch in Fesseln, die dir dein
eigener Leib schlug, dein Herr, vergaltest du dir nicht
auch selbst? Du bist irrsinnig geworden, sagt man.
Armer neuer Gott! — Nun ward auch dir das so ver-
achtete Kreuz auf den Rücken gelegt, ,„,der schlimmste
aller Bäume,““ ob du mochtest oder nicht; und der
du immer göttlich lachen und himmlich tanzen wolltest,
du trägst in Dunkelheit als Mensch dein Kreuz —- ob
du davon weist oder nicht. Nun verbiete den andern
das Mitleid, wenn du kannstl“ (34). Hässlich ist vol-
lends jenes Beginnen „Nietzsches Streben nicht nur in
seinen Ergebnissen, sondern auch in seiner Redlichkeit
und fanatischen Wahrheitsliebe zu verdächtigen.“ (W.
Michel). Eine dieser Stellen Iautet: „„Die Unwahrheit
als Lebensbedingung zu gestehen.““ „Wie ist das
kühn und läuft allem dem, was die Menschen seit un-
vordenklichen Zeiten gesagt haben, zuwider. Das ist
doch neu, originell, und vor allem kühn I Und doch
so natürlich. Denn wir stehen ja auf einem Boden,
wo man ungestraft alles sagen kann: im Traumland;
jenseits von Gut und Böse. Da sind wir neu, wenn
wir alles, was andere vor uns gesagt haben, in mehr
oder minder geistreicher oder witziger Form verneinen.
Wir sagen, das Gegenteil sei wahr. Eine Unwahrheit
ist wahr. Wer kann uns etwas anhaben, jenseits von
Gut und Böse ? Mit diesem geistreichen Einfaile haben
wir uns von der „übermenschlichen“ Vernunft selber
einen Freibrief erkauft, alles zu sagen, wodurch wir
den Schein der Ursprünglichkeit: die Empfindung der
Neuheit erwecken“ (18). Bezichtigungen dieser Art
sind verzeihlich, wenn die Verblendung einer leiden-
schaftlichen durch Nietzsche in ihrem Sanctissimum
sich verletzt fühlenden Seele sie ausspricht. So arg-
listig, stichelnd, plump spassend Nietzsches philoso-
phische Rechtschaffenheit zu beargwöhnen, nenne ich
hingegeri frivolen Insult.

Was mit Unziemlichkeiten, mit stilistischen und ge-
danklichen Mängeln unter Umständen aussöhnt, dies
eben fehlt dem Fischerschen Polemisieren gänzlich:
die Inbrunst. Seine Auseinandersetzung mit Nietzsche
gibt sich als ingrimmige Gewissenssache und berührt
doch nur wie eine taube nörgelnde Bierbankgeste.
Nietzsches Protest wider alles Heutige entsprang hei-
liger Not: — Wie weit, wie schaueriich weit steht

also Fischers Protest wider Nietzsche schon im Ur-
sächlichen diesem nach I

Dass dieser Angriff auf Nietzsche für niemandep
als für Fischer eine Blamage bedeutet, dürfte nach
alledem am Tage sein.

Fritz Hilbner

Wilhelm Flscher in Graz: Nietzsches Bild Verlag Georg Müller
München

Bücher

Von Otto Soyka

Lesen ist eine bequeme und schmerzlose Art, Er-
fahrungen anzuhäufen. Hart im Raume stossen sich
die Dinge, leicht aufeinander stapeln sich die Bücher.
Der Strom der Lebensenergie mancher Menschen wählt
eben den Weg des geringeren Widerstandes. Der geht
durch die Literatur Man schwelgt dort in Situationen
und Gefühlen, ohne viel zu riskieren. Das nennt man
dann sich ausleben.

Man liest schon lange bevor man erlebt. Und
was könnte derjenige Neues erleben, der genug gelesen
hat? Keine Szene kann ihm die Wirklichkeit bringen,
die er nicht schon beschrieben und glossiert vorherkennt.
Er weiss die Rolle ganz genau, die ihm bei jedem
Erlebnis zufällt. Er spielt sein Leben herumer, statt
es zu leben. Schauspieler, Publikum und Kritiker
zugleich ist er bei dieser Aufführung viel zu sehr be-
schäftigt, als dass er an sich selber denken könnte.
Er hat so viel zu erinnern, dass er nicht Zeit behält,
sich nach besonderen eigenen Empfindungen oder
Wünschen zu. fragen. Er empfindet und wünscht nach
dem Buch. Wenn ihm sein Leben gelungen ist, so
ist es wie geschrieben gewesen.

Zweiter Aufguss vom Leben wird genossen; aus
dem literarischen Absud gewinnt mann einen neuen,
den man wieder Leben nennt. Eventuell schreibt man
darüber wieder Bücher. Die haben dann die richtige,
abgeklärte Note. Dritter Aufguss vom Leben

Der OecensaD ZBdscbfftJ.. 1 £bep.. "r.'L 1 ■LLU'L'Ü.
zwischen Plastik und Fläche wird nicht zur Kenntnis
genommen. Man vertauscht nach Gutdünken. Im
Dienst der Lächerlichkeit ist dieses Uebergreifen der
Gebiete fruchtbar.

„Was tut man in dieser Situation?“ ist die nie aus-
bleibende Frage. Sie wird nicht dem Empfinden,
sondern dem Gedächtnis gestellt. Der ohnehin ziemlich
matten Farbe der Entschliessung schadet die Blässe
des fremden Gedankens kaum. Wenn sich aber ein-
mal eine Situation findet, der gegenüber die Erinnerung
versagt? Es könnte ja sein, dass die Partnerin nicht
das richtige Stichwort bringt. Sie flüstert vielleicht ein
verschämtes Ja, statt eines entrüsteten Mein Herr!
Was dann ? Es stockt die ganze Maschine. Die Ge-
schwindigkeit des Liebeserfolges war nach Vorschrift
auf soundsoviel Meter eingestellt. Wie konnte man
denn jetzt schon an dieser Station halten. Unbegreiflich!
Ist vielleicht die Maschine durch eigenes zutun eine
Nacht durchgefahren ? Es bleibt nichts übrig, als den
Mechanismus zu untersuchen, abzubrechen und nach-
zulesen für diesen Fall. Sie flüstern ja, dann — Fort-
setzung folgt, mein Fräulein.

Spleen und Blasiertheit sind noch harmlose Er-
scheinungen der „Krankheit am Buch“. Schlimm ist
die selbsgefällige Zufriedenheit der Buchgerechten, ihr
Pharisäerstolz gegenüber dem wirklichen Leben. Sie
wissen immer genau, wie es werden soil, und wird es
anders, hat das Leben unrecht. Sie gehaben sich als
unfehlbare Sachverständige der Lebensweisheit.

Das Buch nimmt das Leben vorweg, raubt dem
späteren Erlebnis die Jungfräulichkeit. Aber neun Zehntel
der heute gelesenen Bücher geben ein unwahres Bild
von der Wirklichkeit. Aus Gründen der Moral oder
anderer geschäftlicher Rücksichten auf die Wünsche
des Lesers Wie ist es mit ihnen? Märchen sind
die Jugendbücher mit ihren idealisierten Menschen, die
Familienliteratur mit unterschlagenen Wünschen und
Zwecken, die schöngefärbten geschichtlichen Darstellungen
der nationalen Entwicklung. Und wie harmlos sind die
Ammenmärchen früherer Tage, die ab und zu ein
Köpfchen verdrehten, gegen diese Märchen von heute,
die sich mit soviel Wahrscheinlichkeit zu geben wissen
und nicht von Mund zu Mund, sondern in Auflagen
von vielen Tausenden verbreitet werdenl Romanfiguren

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