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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 52 (Februar 1911)
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Nr. 53 (März 1911)
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Friedlaender, Salomo: Kants Vermächtnis
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Mehr Kinder
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Schmoller, Gustav von: [Antwort auf eine Rundfrage]
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0425

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WOCHENSCHRIFT

FÜR KULTUR UNDDIE kOnste

Einzelbezug 10 Pftnnig

JAHRGANG 1911 BERLIN/SONNABEND DEN 4. MÄRZ 1911/HANNOVER NUMMER 53

INHALT: MEHR KINDER / Eine Rundfrage: PRO-
FESSOR DR. G. VON SCHMOLLER: Erste Antwort /
DR. S. FRIEDLAENDER: Kants Vermächtnis / PAUL
SCHEERBART: Der Kaiser von Utopia / JAKOB
VAN HODDIS: Der Tag der Stadt / FRIEDRICH
KURT BENNDORF : Mystik / ALFRED DÖBLIN : Der
Rosenkavalier / FRITZ SCHWIEFELT: Lina Lossen /
J. A.: Die Musen

Mehr Kinder

§ 6. Der Bundesrat kann den Verkehr mit Gegen-
ständen, die bei Menschen die Empfängnis verhüten,
oder die Schwangerschaft beseitigen sollen, beschränken
oder untersagen . . .

Soweit der Bundesrat den Verkehr mit einzelnen
Gegenständen untersagt hat, ist deren Einfuhr ver-
boten . . .

§ 8 . . . Mit der gleichen Strafe (Gefängnis bis
zu sechs Monaten und Geldstrafe bis zu 1500 Mark)
wird, wenn nicht nach anderen gesetzlichen Bestim-
mungen eine schwerere Strafe verwirkt ist, bestraft,
wer öffentlich ankündigt oder anpreist, Gegenstände
oder Verfahren, die den Menschen . . . zur Ver-
hütung der Empfängnis oder zur Beseitigung der
Schwangerschaft dienen würden . . .

Diese Paragraphen findet man in dem neusten
Gesetzentwurf zur Bekämpfung der Kurpfuscherei, der
demnächst in einer Kommission des Reichstages zur
Beratung steht. So etwas soll in Deutschland Gesetz
werden. In Deutschland, das den traurigen Ruf der
grössten Kindersterblichkeii besitzt, das an sozialer
Fürsorge so gut wie nichts leistet und den Schutz der
Mütter und der neugeborenen Kindern Privatpersonen
iiberlässt. Der Verfasser des Entwurfs befindet sich
in dem ahnungslosen Zustand eines neugeborenen
Kindes gegeniiber allen sozialen, hygienischen und
volkswirtschaftlichen Erfahrungen und Kenntnissen.
Man weiss nicht, wie weit die Kommission orientiert
ist. Es erschien mir daher angebracht, einige hervor-
ragende Persönlichkeiten iiber Wesen und Bedeutung
dieses Teils des Gesetzentwurfes zu befragen. Die
Antworten seien hier veröffentlicht.

Professor Dr. G. von Schmoller:

Ich habe weder Zeit, die Fragen ausfiihrlich zu
beantworten, noch habe ich den Gesetzentwurf zur
Bekämpfung der Kurpfuscherei so studiert, dass ich
ein Urteil abgeben könnte. Ich will daher nur kurz
meine Ueberzeugung äussern.

Der Neumalthusianismus, der die Empfängnis zu
hindern empfiehlt, ist heute in den oberen und teil-
weise auch in den mittleren Klassen so verbreitet, dass

auch ein Verbot des Verkehrs mit den ihm dienenden
Mitteln nicht viel nutzen wird. Die Verhinderung der
Empfängnis mag in vielen Fällen unberechtigt sein, in
vielen anderen ist sie berechtigt; so gegenüber schwäch-
lichen Frauen, gegenüber Frauen und Eltern, die durch
mehr als zwei bis drei Kinder in wirtschaftliche Not
kommen. Frühe Heiraten von Leuten, die fiir die
ersten fiinf bis zehn Jahre die Empfängnis hindern,
können in zahllosen Fällen ein grosser Vorzug gegen-
iiber Spätheiraten sein, das sittliche Familienleben viel-
mehr fördern als hemmen. Dagegen ist richtig, dass
der iibertreibende Neumalthusianismus den Egoismus
der Eltern, die Abneigung gegen die Erfiillung von
Pflichten steigert, hiergegen helfen aber nicht Verbote,
wie sie jetzt vorgeschlagen sind, sondern wirtschaftliche
Massnahmen, die die Familiengriindung erleichtern, wie
gleichmässigere Vermögens- und Einkommensverteilung
und moralische Mittel, die den Egoismus der oberen
Klassen zuriickdrängt.

Wo — wie in den unteren Klassen in Deutsch-
land vielfach - die Mittel der Hinderung der Emp-
fängnis noch garnicht bekannt sind, ändert das Verbot
nichts; ist gewissermassen iiberfliissig. Aber gerade
von diesen Kreisen wird man sagen miissen: Weniger
Geburten, aber lebensfähigere wären erwiinscht. — —
In den armen Familien, die heute noch so vielfach
sechs bis zehn Kinder haben, sterben eine Ueberzahl
vor dem fiinfzehnten Jahre. Das ist eine nationale
Kalamität.

Der ganze Neumalthusianismus mit seinen Mitteln
ist ein zweischneidiges Schwert. Völker, die ihm zu
sehr huldigen, werden senil, breiten sich nicht mehr
aus, haben keinen Zuwachs wie Frankreich und ein-
zelne Teile respektive Schichten Nordamerikas. Anderer-
seits kann es prinzipiell nicht falsch sein, wenn der
Mensch mit sittlicher Ueberlegung die Kinderzahl regu-
liert; der richtige Weg freilich, führt haarscharf zwischen
zwei Gefahren hindurch. Ich würde es fiir richtiger
halten, zunächst nicht mit mechanischen Verboten in
dieses Gebiet einzugreifen. Die Sache ist nicht
spruchreif.

Weitere Antworten folgen

Kants Verraächtnis

Von Dr. S. Friedlaender

Zum Philosophen wird man durch die Fähigkeit, lauter
Probleme dort zu sehen, wo der gemeine Kopf lauter
Tatsachen findet Schon, dass etwas sein könne ausser
ihm, unabhängig von ihm, erstaunt den Philosophen
bis zur schwermütig brütenden Nachdenklichkeit. Er
fühlt sich Alles in Allem. Er verlässt sich allein auf
sich selbst.

Ein Phänomen des Erkennens ist Philosophie
nur auf der Fläche. In ihrer Tiefe ist sie die Sehn-
sucht nach Weltaneigung. Der Mensch, als Philosoph,
ist im Grunde so gesättigt vom Gefühle seiner Freiheit,

seiner Unvergänglichkeit, dass alle dagegen schreiende
Erfahrung ihm einen schmerzlichen Unglauben erregt,
und dass er sich auf Schritt und Tritt aufgefordert
fühlt, sein Besserwissen auszusprechen.

Hier nun beginnt die Gefahr der Philosophie, die
Möglichkeit des jähen Umschlagens aus der äussersten
Vertrauensseligkeit in die äusserste Verzweiflung. Eine
Gefahr, der sie daran war, zu erliegen, als ihr,
gegen das Ende des achzehnten Jahrhunderts, ein
mächtiger Wender ihrer Not erstand. Immanuel
Kant, der zum ersten Male den Versuch machte, weder
dogmatisch noch skeptisch zu verfahren; sich gegen
die Welterfahrung weder zu verstocken, noch sie
resigniert m aller ihrer Wankelmütigkeit hinzunehmen,
mit demütiger Unterwerfung. Sondern, der zwar noch
mit der Gebärde schüchterner Zurückhaltung, aber mit
bescheidener Entschiedenheit das unberechenbare Welt-
kind der Sinneserfahrung fcei sich aufnahm und sich
auf die Disziplinierung dieses spröden Wesens ein-
schränkend, sich aller Ansprüche auf vermeintlich
höheren Beruf entschlug.

Es ist das erste, langsame, halb noch widerwillige
Wegwenden des Blicks vom Traumbild einer hölderen
Jenseitigkeit. Es ist das erste, noch herb schmeckende
Hoffnung auf blutechte Wirklichkeit des Selben, was
man vordem hinter die Welt verlegt, oder worauf man
in allen Graden der Skepsis verzichtet hatte.

Dass alles Endliche ein Irrtum, ein Traum und Alb-
druck, höchstens ein Gleichnis sei, ist der Gesang
aller Zeiten. Vieleicht gab es einmal eine so göttliche
Gesundheit des Lebens, dass man nicht erst über die
Welt und in Märchenphantasien oder zur Kunst zu
flüchten brauchte, das ewig Wirkliche gewahr zu
werden — es klingt uns heute wie Mythologie. Jeden-
falls hat man sich sehr früh pathologisch zum Wirk-
gestellt, indem man entweder gegensätzliche Ideale
bildelte oder allen Idealen entsagte.

Den Anfang des Endes dieser langen Quälerei le-
deutet uns Kant, der den Geist gesetzgebend für die
Erfahrung, ihn ihren Schöpfer sein liess. Die Dignität
der Erfahrung stieg hierdurch beträchtlich. War es
auch erst ein Anfang mit allem Ächzen und Krächzen
mühseliger Beladenheit, so war nun zu hoffen, dass
von dorther eine unerhörte Gesundung nicht nur der
Theorie, dieser belebenden Atmosphäre der Praxis,
sondern der Praxis selbst in immer tieferem Durch-
greifen sich anhebe. Denn hier erschien eine junge
Art der Resignation, welche sich ebenso streng den
Luxus des Ausschweifens ins Imaginäre wie den arm-
seligen Reiz des Klebens am puren Sinnlichen ein und
alle mal verbot Eine Resignation, welche Raum doch liess
für ein ungeheures Problem, vor dem sich Kant selbst
den Finger auf die geschlossenen Lippen drückte, und
das mit der ganzen Zukunft schwanger geht. —

Von Cartesius rührt in der Metaphysik das ernst-
liche Streben nach Gewissheit her. Zu loben ist hier,
wie bei Anfängern in der Regel, nicht viel mehr als
der redliche Wille. AHzuschnell war das pou sto bei
der Hand. Vor lauter Bäumen sah man kaum den
Wald, vor lauter Begriffen kaum die Welt. Man un-
terschied das denkende Subjekt und das körperliche
Objekt und stritt über die Abgrenzung der Kompetenzen.

Es schien nicht gelingen zu können, des Objekts
habhaft zu werden, ohne entweder es subjektiv zu be-

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