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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 54 (März 1911)
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Mehr Kinder
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Brentano, Lujo: [Antwort auf eine Rundfrage]
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Hiller, Kurt: Calé und Impressionismus
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0434

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Mehr Kinder

Es werden hier weitere Antworten auf unsere
Rundfrage veröffentlicht (Siehe Nummer 53 dieser
Wochenschrift).

Die Fragen lauteten:

1) Ist der gegenwärtige Zustand, wonach jeder
berechtigt ist, die Konzeption durch geeignete Mittel
zu verhüten, beizubehalten?

2) Ist dafür Sorge zu tragen, dass jede Konzep-
tions-Verhütung verboten wird? (Paragraph 6 und 8
des Kurpfuschergesetzes).

3) Ist im Gegenteil darauf hinzuwirken, dass weniger
aber desto lebenskräftigere Kinder geboren werden?

4) Ist durch eine Einschränkung der Geburten
tatsächlich eine Bevölkerungsabnahme zu befiirchten?
Oder würde sich nicht vielleicht durch eine Verminde-
rung der Sterblichkeit ein Ausgleich ergeben? (Amt-
liches statistisches Material: Der Durchschnitt der Ge-
burten in Arbeiterfamilien beträgt acht Kinder. Deutsch-
land besitzt die grösste Kindersterblichkeit unter allen
Ländern, demnach wäre also der Wert nicht auf die
Qualität des Nachwuchses zu legen.)

Professor Lujo Brentano:

1) Das Wort „geeignete“ Mittel ist so vieldeutig,
dass es alles in sich schliesst, was die Konzeption
verhindert. Von der Enthaltung vom Zeugungsakt an-
gefangen bis zu verbrecherischem Eingreifen. Ich muss
es daher ablehnen, diese Frage zu beantworten.
Im Uebrigen dürfte das Verhalten der Eheleute stets
von ihrem eigenen Gewissen abhängen, gleichviel,
was das Gesetz bestimmt.

2) Siehe die Antwort auf Frage eins.

3) An sich ist es gewiss wünschenswerter, dass
weniger, aber dafür lebenskräftigere Kinder geboren
werden. Nur lehne ich es ab, dies in Gegensatz zu
Frage 2 zu setzen, und insbesondere lehne ich das
Wort „hinwirken“ ab, aus Gründen, welche aus der
Antwort auf Frage eins hervorgehen.

4) Die Angabe, dass Deutschland die grösste
Kindersterblichkeit unter allen Ländern hat, ist nicht
zutreffend, die Kindersterblichkeit in Oesterreich, Ungarn
und Russland und einigen anderen Ländern ist grösser
als in Deutschland Vergieicht man, wie viele im ersten
Lebensjahr Gestorbene auf je zehn Kinder kommen,
die zu tausend Seelen der vorhandenen Bevölkerung
neu hinzukommen, so sind die Zuwachsverhältnisse in
Deutschland besser, als in zahlreichen anderen Ländern.
Am schlimmsten sind da die Zustände in Mexiko,
Frankreich, Australien, einigen amerikanischen Staaten,
Russland undsoweiter.

Einstweilen wird in Deutschland die Verminderung
in der Geburtsziffer durch noch grössere Abnahme der
Sterblichkeit ausgeglichen. Es liegt in der Natur der
Dinge, dass der Abnahme der Sterblichkeit eine Grenze
gezogen ist Denn Stillstand in der natürlichen
Bevölkerungszunahme ist unausbleiblich

Professor Dr. med. Dührssen:

1) Jedes Individuum ist berechtigt, die Konzeption
durch geeignete Mittel zu verhindern und wird hierzu
selbst dann noch in der Lage sein, wenn alle anti-
konzeptionellen Mittel verboten werden. Ohne zwin-
genden Grund ist ein solches Vorgehen allerdings un-
sozial, da die Machtstellung eines jeden Staates auf
der Zahl seiner Angehöngen beruht.

2) So wie der Arzt berechtigt ist, bei Lebens-
gefahr der Mutter eine vorhandene Schwangerschaft
zu beseitigen, so ist er auch berechtigt, in gewissen
Fällen zu einer Konzeptionsverhütung zu raten. Es ist
daher wünschenswert, dass er für solche Fälle Mittel
empfehlen kann, die die Gesundheit nicht schädigen.

3) Es ist darauf hinzuwirken, dass alle Kinder
lebenskräftig bleiben. Vielleicht bietet die innere
Kolonisation hierfür ein Mittel und die Bestrebungen,
arme Stadtkinder schon in frühem Alter auf das Land
zu verpflanzen.

4) Durch eine Einschränkung der Geburten ist
allerdings eine Bevölkerungsabnahme zu befürchten —

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und zwar besonders in den staatserhaltenden Schichten
(Bürger- und Bauernstand). Der Arbeiter dagegen
wird für die Anwendung antikonzeptioneller Mittel kaum
zu haben sein, und nach wie vor mehr Kinder in die
Welt setzen als er grossziehen kann. Zur Verhütung
diese Misere ist das sub 3 Gesagte in Erwägung zu
ziehen.

Professor A. Florel:

1) Ja unbedingt. Es ist nicht nur ein unbefugter
Eingriff in die persönliche Freiheit, dem Individuum die
Regelung seiner Empfängnisse verwehren zu wollen,
sondern es bedeutet eine direkte Förderung der Ver-
brechen des Kindsmordes und der künstlichen Ab-
treibung.

Ausserdem wird dadurch jeder Möglichkeit einer
rationellen Besserung der Rasse entgegengearbeitet.

2) Nein. Es wäre dies eine bedenklich rück-
schrittliche Massnahme und ein schwerer Verstoss
gegen die Rassenhygiene (Siehe 1).

3) Unbedingt ja.

4) Die Qualität der Geburten ist unbedingt wichtiger,
ais deren Quantität — besonders heute, wo die
Zeichen zunehmender Entartung der Kulturrassen sich
bedenklich mehren

Die Zahl der Empfängnisse ist bei allen Degene-
rierten und Minderwertigen einzuschränken. Die Ge-
sunden und Tüchtigen sind dagegen zu belehren, sich
kräftig zu vermehren. Das wird aber nicht durch
drakonische Gesetze gegen antikonzeptioneile Mittel,
sondern durch Erziehung zur Schlichtheit und Einfach-
heit, sowie durch Bekämpfung des Alkoholgenusses
und des Geldkultus (Kapitalsherrschaft) erreicht.

Inwiefern quantitativdie Verminderung einerschlechten
Natalität durch Verminderung der Sterblichkeit ausge-
glichen wird, entzieht sich meiner Berechnung.

Weitere Antworten folgen

Caleund Impressonismus

Walter Cale ist, noch heute, deswegen von Inte-
resse, weil er die Postulate der gemässigten litterarischen
Rechten, als immerhin jungberliner Analytiker, fein for-
muliert hat. Man wird vielerlei gegen ihn sagen müssen
—: aber dass er verschwommen gewesen wäre, mystisch
in der Form, unlucide, schwelgend, ein qualliger Magus
— das darf keiner von ihm behaupten. Man ist nicht
wehrlos gegen seine Moralismen; die Finger gleiten
nicht ab; man vermag ihn anzupacken; er gehört zu
den Dankenswerten, die widerlegbar sind.

Wer den grauumpappten Nachlassband aufschlägt,
findet, im Beginn des „Tagebuchs“, eine Polemik gegen
den (dichterischen) Impressionismus. Zunächst
ist das ein wunderschönes Psychologisma. Es gebe
Kunstwerke, sagt Cale, die nicht rund, unangreifbar,
in sich geschlossen seien, nur auf sich bezogen, wie
eine Kugel von Glas — sondern die aus sich heraus
Beziehungen zum Leser eröffneten, auf ein vom Leser
aus dem Kulturinhalt der Zeit geschöpftes Aspiori
spekulierten; erst mit dem Hinzutreten des Lesers
werde der Ring des Werkes geschlossen, erst im Ge-
niessenden vollende es sich. Die Folge davon aber
sei dieses: wenn jener Kulturinhalt der Zeit im Laufe
der Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte einmal entglitten,
dann sei aus dem Buch ein Arsenal von Schatten ge-
worden, die vergeblich darauf warteten, so wie früher
belebendes Blut geliefert zu bekommen. Impressionis-
tische Bücher also hätten zwar die grösste Moment-
wirkung (da jeder sich in ihnen wiederfinde), aber sie
veralteten rasch; ihre Wirkung sei eben die eines
Spiegelbildes, nicht die eines Porträts . . .

Den psychologischen Ductus gebilligt, bleibt ein
falsches Ethos übrig. Gewiss, solche Bücher veralten
schneller. Aber ist das ein Fehler? Feinde des Archiv-
staubs, der Retrospektive, der philologischen Ver-
dummung werden darin eher einen Nutzen sehen; zu-
mindest ist Gefahr des Veraltens kein argumentum
contra. Welcher Mensch liest ein Buch unter dem
Gesichtspunkt: „Wie langs wird es am Leben bleiben ?“
So liest allenfalls ein Prognostiker, ein Statistiker, ein
Historiker; nie einer, der Kunst geniessen will. Aber

die Intensität, die Intensität des Genusses, die gibt
allerdings ein Argument ab. Was heisst: Bücher haben
die grösste Momentwirkung? Die grösste Wirku ng,
heisst das, haben sie. — Warum diese Moral des
Moderantismus ? Warum einen temperierten aber langen
Effekt einem lodernden aber kurzen vorziehen? Natür-
lich: alles Mässige hält Iange vor, und alles Gewaltige
verraucht eilig; aber wer das Mässige, um der Dauer willen,
Iiebt und das Gewaltige, des raschen Endes wegen, hasst,
der macht sich verdächtig, das Mässige zu lieben und das
Gewaltige zu hassen.. Mich schiert es den Teufel, ob eine
Dichtung „Ewigkeitswert“ besitzt, wenn sie nur jenes
undefinible Gefühl des Herangerissen- und Hereinge-
zogenwerdens mirgibt; jenen Schauer; jenes pathetische
Selbstvergessen, welches ein religiöses Erleben des ge-
reinigten und gesteigerten Selbst ist. Ich bekenne, dass
mir mein Spiegelbild (so rasch immer es vergeht) in-
teressanter ist als das bleibende Porträt irgend eines
gleichgültigen Erdgenossen — übrigens ein Bekenntnis
aller derer, glaube ich, die sich nur selten in den Spiegel
sehn. . .

Jedenfalls hätte Calö, gleich jedem seiner über-
lebenden Mitklassizisten, sich sehr gehütet, diese tempo-
ralistische Doktrin des Schönen auch als Doktrin des
Wahren zu verkünden; es fällt ihnen nicht ein, Philo-
sopheme etwa für desto wahrer zu halten, je länger
sie ancrkannt sind; aber dass ein Kunstwerk desto
wertvoller sei, je länger es geniessbar bleibt, das finden
sie selbstverständlich. Wo doch dem Logos billig sein
muss, was der Aisthesis recht ist.

Dabei stimmt nicht einmal, dass die unimpressionis-
tischen, vollständigen, „runden“ Dichtungen gefeit gegen
Veraltung seien. Die veralten nur auf andere Weise.
Sie werden fade, wurst, gleichgültig — während die
impressionistischen es nur zur Unverständlichkeit bringen.
Und fürwahr: leiber noch komme ich mir vor wie
jenes Tier vorm neuen Tore, als dass ich, zu ehr-
fürchtiger Bewunderung verurteilt, mich langweile wie
ein melancholisches Krokodil- Darauf bestehe ich: dass
der grösste Tort, den ein Poeta uns anzutun vermag,
der Ennui ist Nun frage ich aber alle Ehrlichen,
warum sie sich den Sophokles - Schwindel, den Dante-
Schwindel, den Stifter-, Mörik’-, Droste-Schwindel immer
noch gefallen lassen. Warum sie nicht endlich ohne
Angst bekennen, dass eine Seite von Wedekind, oder von
George, oder von Heinrich Mann, dass eine Zeile von
Kerr, ein Beistrich von Kraus, ihnen mehr Pulsschlag,
Freude, Erschütterung schenkt als alle Lfcistungen dieser
„Ewigen“ zusammen. Mag sein, dass das „Zeitlos-
Menschliche“ es ist, was die Seelen am wildesten packt;
aber ich schwöre, dass sie sich nur packen lassen,
wenn es realisiert ist an Zeitlichem. Von keiner Tat-
sache des Daseins bin ich heftiger überzeugt als von
der Verlogenheit derer, die erst dann zum wahren Ge-
niessen zu kommen behaupten, wenn der Gegenstand
gehörig von ihnen distanziert ist. Allen Formalisten,
Gebärdenfexen und Ibsenverhöhnern in die Ohren ge-
brüllt: Sich wiederzufinden, sich selber
s c h 1 a c k e nr e i n u n d p r i n z ip ial isie rt wieder-
zufinden, das ist der Kern des Rausches
der Kunst. (Wer im Gehalt nur ein Mittel, ein not-
wendiges Übel, die Materie der Formung sieht — der
ist ein Flachkopf, oder ein Flachkopf aus Eigensinn:
zu deutsch ein Snob.) Den Teil aber von sich wieder-
zufinden, worin man, nach Gottes unerforschlichem
Ratschluss, allen Menschen aller Tage gleicht — das
ist etwas stupide auf die Dauer. Doch freilich, heute
gehört ein kräftiger Schuss Stupidität, Unbesonnenheit,
espritlosen Ernstes zum guten Ton in litterarischen
Dingen. Vornehm und schwachsinnig, tief und öde,
werden annähernd als Synonyma gebraucht. „Je
menschenferner, desto besser I“ knurren und säuseln,
knurrsäuseln die Ästheten; und warum wohl? Mir
schwant: aus keinem anderen Grunde als deshalb, weil
sie zu feige sind; weil sie sich fürchten sich, wieder-
zufinden; weil sie den Ekel vor ihrem Spiegelbild
haben; weil sie sich masslos ängsten vor sich selber.

Der anständige Mensch, wo er zu Dichtungen
flüchtet, flieht zu sich; der verlogene flieht vor sich.
Ich habe immer gefunden, bei Theoretiken des Ästhe-
tischen: je unreiner, unehrlicher, plebejischer einer im
Leben ist, mit desto grösserer Strenge fordert er von
der Dichtung „Distance“ und das, was er „Haltung“
nennt. Die Sauberen zieht es mehr zur „Rinn-
steinkunst“ . ■ .

Man sieht: ich mache Reklame für einen neuen
Naturalismds (dieses Wort gibt zu Missverständnissen
Anlass), und in der Tat, der zieht hinauf. Gruss und
Heil dir kommender freudenschaftlicher Formung des
Herrlich-Heutigen I — Aber ich muss noch ein Wort
 
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