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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 20 (Juli 1910)
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Leppin, Paul: Daniel Jesus, [11]
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Döblin, Alfred: Gespräche mit Kalypso, [15]: Ueber die Musik
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0161

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nachkam, unä vvürde sie nich't strafen. Es war
Nacht und sie ganz allein.

An der Tür eines Vorsaals banden ihr zwei
Diener eine Maske vor die Augen. Ein Faschings-
fest im Frühling, dachte Marta-Biank'a und öffnete
die Tür zum Saal. Eine jauchzende Tan^musik
lockte, sehnsüchtig und wundcrvoll, heiter und
träumerisch, als ob bunte Perlen von den Fiedel-
bogen zur Erde rollten, schmerzlich und schwär-
mend. Liebeslieder, in denen Glut und Andacht und
Verlangen brannte, und die siiß waren wie die
Küsse einer Frau. Helles LiCht umfing sie. Sie
mußte die Augen schließen und tastete hilflos mit
den Händen nach der Wand. Als sie aufsah', strahlte
der silberne Saal von Blumen und Lichtern, mit
schimmernden Glastränen an den Lustern und
farbigen Kristallen vor den Flammen. Die Musik
spielte unsichtbar hinter einem Vorhang. In der
Mitte des Saales saß Daniel Jesus auf einem schär-
lachfarbenen Thron neben einer nackten, unge-
heuren Frau, die das Haar wie eine Krone gebunden
hatte und mit leuchtendem Gesidht den büäkligen
Jesus ansah. Und in der Runde tanzten die Men-
schen toll und erhitzt im Rausch, den die Musik
über die Herzen brachte, und der sChwer und rot
wie die Liebe ähr Blut überkam beim Tanze. Alle
Weiber trugen eine Maske und waren nackt wie die
große Frau in der Mitte auf dem Thron. Das grelle
Licht der tausend Kerzen funkelte auf der weißen
Haut, die feucht und matt geworden war in den
fasternen Stunden des Abends wie der Opal, der
in den Ohrgehängen der Gräfin glomm. Marta-
Biankäs Augen hatten sie jetzt im Gewühl der
Qäste gefunden. Ein langer, wasserblauer Schleier
umflog ihren Leib, desscn gelbe Glut sich' seltsam
Von dem Milchglanz der andern abhob. Ein goldener
Ring hielt das Gewebe am Halse zusammen, dort,
wo die rote Narbe wie ein Riß durch die dunkle,
klopfende Ader ging. Die knoCbigen Hände Valen-
tins, der mit der Gräfin tanzte, hätten breite Lücken
in ihren Schleier gerissen, daß sie mit nackten
Brüsten und mit nackten Schenkeln in seinen Ar-
men hing, gerade wie die andern Tänzerinnen, die
Marta-Bianka nicht erkannte.

* *

*

Ein brauner, biegsamer Körper glitt dörch den
Saal, mit stählernen Muskeln an den hägern Glie-
dern, schlank und zäh 1 wie eine Katze. Die Zi-
geunerin. Durch die zitternden Frauen und die
stammelnde Lust der Tänzer entkäm sie zum Fen-
ster, das zur Hälfte offen stand. Sie stieß es aüf
Und pfiff mit den Lippen. Draußen kratzte der
Mörtel an den groben Schuben des Schusters, der
am Gesimse emporkletterte und mit beiden Händen
am Rande des Fensters hing. Jetzt h’ob sich sein
wildes, totenbleiches Gesicht än die Höhe, und seine
Augen stierten in den Saal.

Siehst Du Dein Weib neben Daniel JeSüs?

Siehst Du, wie er die Finger in ihr glühendes
Fieisch Iegt, und wie sie den Mund öffnet im
Qlück?

Die Augen des Schüsters wurden groß und leer
Wie ein finsterer Schächt. Die Lichter der Deck'e
Und in den Leuchtern starben auf einmäl Jn ihrer
Dunkelheit. Und die Zigeunerin kniete vor ihüi
und flüsterte mit zuckender Zunge:

Siehst Du Dein Weib, Schüster Anton? Siehst
Du Dein Weib?

* *

i | ! ; 1 :

Marta-Bianka lehnte noch 1 imüier an der Tür.
Sie verstand diese Nacht nicht mehr. In ihrer Seele
War ein Grausen und ein seltsamer, steiler Schrecken
vor Daniel Jesus und der Frau mit dem ungeheuren
f-eibe, die neben ihm auf dem ScharlaCh' saß und
'hr rotes Haar wie eine Krone gebunden trug. Sie
fürchtete sich Vor dem Schimmer in den Blicken
der Weiber, die an ihr vorüberflogen, vor der Musik,
die nicht einhielt zu spielen, und vor ihrer Mutter,
die nackt unter hundert Leuten tanzte. Sie Wollte
*u ihr, sie bitten, mit ihr nach Hause zu gehen.
vier Hände hielten sie zurück; sie wandte sich
um. Zwei Lakaien zeigten auf ähre Kleider und
hewegten den Kopf. Sie waren stumin und konnten
uicht reden. Marta-Biankä verstand sie. Ihr Ge-
sicht war bleich’ geworden, wie die Liebe, die sie
|mmal im Herzen getragen hätte vor vielen Tagen.
^ie knöpfte Iangsam ihr weites Gewand am Halse
uüd an den Schültern auf und stand nackt iintex den
ubrigen.

Ein Kin'd — hörte sie eretaunt eane Stimme
rufen.

Die Leute wichen betroffen zurück und bildeten
eine Gasse, durch die Marta-Bianka zu ihrer Mutter
schritt. Die Frauen unterbrachen den Tanz und
sahen sie an und wunderten sich. Ihr bernstein-
gelbes Haar floß wie ein BaCh über ihren silbernen
Rücken, und ihr Leib war weiß wie eine Birke.
Im grellen Licht der Kristalle funkelten die Warzen
ihrer kleinen Brüste wie zwei Wunden, und ihre
Augen blickten weit und voller Demut, als sie vor
den Füßen ihrer Mutter kniete. Die Gräfin er-
schrak. Verwirrt und erechüttert suchte sie in dieser
Stunde den Weg zu ihrem' Kinde, wie sie ihn einmal
in jener Nacht gegangen war, als Marta-Bianka ihre
Beichte sagte. Sie stand und zitterte. Da hob Valen-
tin mit beiden Händen das knieende Kind vom
Boden auf und lachte:

Komm tanzen, Biankä!

Bianka schaute zu ihüi' auf. Sie kannte jenen
Glanz in seinen Augen. In den Augen des Barons
Sterben hätte sie ihn oft gesehen. Baron Sterben
war tot. Hatte er seine Augen an fremde Männer
vererben können ? Baron Sterben war tot. Sie hätte
ihn sehr geliebt, sie hätte ,ihm alles zuliebe getan,
seiner Augen wegen, dieser Augen wegen, die sie
jetzt wiedersah.

Die Gräfin stand noch imrtaer schweigend und
zitterte. Der Schleier an ihrem' Hals war zerrissen
und die Narbe glühte auf ihrem Nacken. Bianka
trat einen Schritt näher und schäute Valentin an
und seine grausamen Hände, und sagte leise,
stockend und heimlich wie im Schlaf:

„Mutter — wer — hät — dir —?“

Ueber das Gesicht der Gräfin ging ein Schäuer.
Mit großen, schreckhaften Augen säh' sie zu Valentin
hinüber. Der hatte seine Hände um den Leib
Biankäs gelegt und sprach im Fieber immer die-
selben Worte:

„Komm mit mir tanzen — Marta-Biankä!“

Eine gelle heischende Trompete blies einen
klingenden Tusch irgendwo im Saale. Daniel Jesüs
und das ungeheure Weib standen von ihrem Sitz
auf, und die zwei stummen Lakaien trugen eine
schwarze Krone herein, in der die Edelsteine toten-
blaß wie Tränen waren. Und Daniel Jesus nahm
den schwarzen Reifen und setzte ihn auf seinen
großen phantastischen Kopf. Die Musik' begann
einen wilden hetzenden Takt zu spielen. In den
Augen Valentins zerriß ein Licht.

Marta-Bianka stand weiß wie eine Flamme.
Sie sah das Gesicht Valentins und die Narbe der
Gräfin, sie sah 1 die Krone, die Daniel Jesus trug,
und die beiden Lakaien, denen er die Zunge aus
dem Munde geschnitten hätte, damit sie stumm sein
mußten, ihr Leben lang. Ein irrsinniges, großes
Entsetzen fiel in ihr Herz. Sie dachte an den Baron
Sterben und an die tote Valeska, oh'ne irgend einen
Zweck. Einen langen hellen Schrei tat sie im
Schrecken, daß alles aufschäute und es still ward
und man das Klirren der Glaskristalle an den Metall-
lustern der Decke hörte. Sie sah ihrer Mütter mit
einer bangen, verzweifelten Liebe in die starren
Augen, schrie noch' einmäl, und floh wie eine Tolle
aus dem Saal, an den nackten Brüsten der Frauen
vorbei und an dem riesigen Leibe Margaretens,
neben der die Krone auf dem 1 Schädel Daniels
schmerzlich wie eine Natter lag. Sie Iief. Sie lief
die Treppe hinab in den Garten, nackt und mit der
schwarzen Maske vor den Augen. Weiter fort im
Entsetzen. Vor den Fenstern des Saales lag dic
Zigeunerin wie eine Puppe im Gras und schaute
lächelnd, die Augen von einem blinden Irrsinn ver-
löscht, zu dem großen Akazienbaum auf. Der
streckte einen starken, blühenden Ast in daS Fenster
hinein, an dem sie vor einer Stunde gekniet und
mit dem Schuster geflüstert hatte.

Die Zigeunerin lächelte mit einem heißen, son-
derbaren Mund. Farbige vergessene Tränen stießen
an ihre Seele wie die GoldfisChe an die Kugelwände
des Glases. Ihre Flossen blitzten im Wasser und
läuteten.

Die Zigeunerin lächelte. Sie lächelte eretaunt
und härmlos wie ein Kind, und war froh 1, weil sie
sich an nichts erinnem konnte. Sie lächelte nur,
weil der Schuster Anton, der sich' oben auf dem
Akazienbaum an ihrem Gürtel erhängt hütte, die
Augen und den Mund aufriß wie die goldnen Fische
im Glase... Du bis't weiß wie ein Toter, SChüster
Anton, und ich hab diCh liebl

*

* , *

Die Straße, von der man den Springbrunnen
im Garten der Villa Jesus belauschen konnte, wenn
er sich mit dem Fliederstrauche neckte, war ganz
erfüllt von Mondschein und Sternen. Der Wind
blies aus einer fernen, kleinen Wolke einen warmen
Regen in das Licht. Silberweiß wie eine Birke, das
gelbe Haar über den erechreCkten Augen, nackt
und mit der schwarzen Maske vor dem Gesicht,
lief Marta-Biankä mit ihrem Herzen voll Grauen
und Liebe. Sie lief in einer unbekünnten Rich-
tung, die seitab von der Stadt führte, weiter und
weiter, und das Blut ihrer zerrissenen Füße blieb
an den Steinen der Straße kleben wie rote Korallen.

Ende

Gespräche mit Kalypso

Ueber die Musik

Von Alfred Döblin

Aehtes Gespräeh: Indes die Göttin krank
liegt / Von den höheren Tonordnungen

Portsctiani

Der Alte

Es gibt engere und losere Verbände, mein
Freund; Du zeigtest den Weg zu einem schon
recht engen, einfachen Verband. Aber Du mußt
nicht glauben, so den strengsten und engsten Ver-
band finden zu können. Deine Tonfolgen werden
durch die Einheit der Wiederkehr zusammenge-
halten, doch gibt ihnen diese Einheit keine Gliede-
rung. Du merkst, worauf ich ziele. Sie fügen sich
wie Kettenstücke hintereinander, aber die Kette
schließt nicht. Eine Ordnung wird für den Ver-
band gefordert, welche die wiedeikehrenden Reihen
unterscheidet und wertet, sie gliedert, so ein
Ganzes aus den Einheiten schafft. Du wirst zU-
geben, daß Deine Fuge wie Dein Kanon eher einem
Haufen als einer marschierenden Truppe ähnelt.
Ein Mittelpunkt soll geschaffen werden, ähnlich dem
Tonmittelpunkt für die Tonhöhen, und nähere und
weitere Entfernung; es soll über- und untergeordnet
werden; eine Herrschäft, eine Hierarchie will wieder
Platz greifen. Sollen die Gruppen gewertet und
gewürdigt werden, so kann dies auf einem Wege
geschehen, auf dem auch sonst in der Musik ge-
wertet wird, mittels der Tonleiter: die wieder-
kehrenden Gruppen kehren auf verschiedenen Stufen
der Tonleiter wieder. Ich kann es so fassen: die
ganze Einzeltonfolge wird als ein Ton genommen,
die Tonbewegung in einer Folge erfolgt um einen
Hauptton herum; die einzelnen Haupttöne aber
sind durch die Tonleiter einander untergeordnet oder
bezogen, oder centriert auf den gemeinsamen Grund-
ton des Verbandes. — Wie nun stellt sich dieses
Wertsystem dar, wie regelt es sich, welche Ton-
folge zeitlich vor der andern, welche zuletzt er-
scheinen soll? Diese zeitliche Gruppierung ünd
Ordnung hat mit der Tonleiterordnung nichts zu
schaffen. Die Hierarchie der Tonhöhen ist über-
zeitlich; und so hat der Grundton nichts mit dem
Ende zu tun, der fünfte nichts mit der Mitte, ünd
so fort, in Schluß und Halbschluß. Es tritt aber
die Nötigung ein, da Tonfolgen sich zeitlich reihen,
die überzeitliche Wertung einer fest vorhandenen
zeitlichen anzupassen. Denn einzelne Punkte jedes
Ablaufs sind an sich ausgezeichnet, weil sie natur-
gemäß auffallen, so der Anfang, besonders das
Ende, im geordneten Zusammenhang jeder Gliede-
rungspunkt. DaS Ende einer Bewegung erecheint
leicht als Ziel dieser Bewegung; was zeitlich ver-
läuft, kann diese Wertsätzungen nicht vemach-
lässigen und umgehen. Wenn die überzeitliche Ord-
nung der Tonfolgen im Verband sich auch zeit-
lich darstellen will, so wird sie sich dieser Wertung
bedienen, das Ende der Bewegung, alsl den wich-
tigsten Punkt, anerkennen im Gmndton, ihn, auf
den sich alles' zubewegt. Die Bewegung der wieder-
kehrenden Tonfolgen kann dann in dem Weiter-
schreiten von den ferneren zu den näheren „Ver-
wandten“ des Grundtons liegen, oder in Abkehr
von ihm und Umkehr, oder ähnlich, denn dies be-
darf keiner starren Bestimmung, wofem nur der
Grundsatz feststeht der auch zeitlich geordneten,
scheinbar zielbegabten Bewegung.

Ich weise Dich auf daS Lied; es hat die gleich’e
Bindungsweise oder die Form wie die Fuge. Es
ist aber geordnet und gegliedert wie keine musd-
kaliscÜe Fonn sonst; das engste Gebilde der

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