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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 2 (März 1910)
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Lasker-Schüler, Else: Der Amokläufer
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Kraus, Karl: Pro domo et mundo
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Rubiner, Ludwig: Crommelynck
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0015

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dragupta in der Stadt weilt, bieten alte, fratzenhafte
Weibchen in den Winkeln der Straße oder in den
Oruben hinter ihren Häusern heimlich verbotene
Spielereien, den stillen Mädchen von Jericho feil.
In Urnen halten die Freundinnen Schlömes die
kleinen Heidenliebesgötter gefangen und lächeln so
eigen im Schlaf mit ihnen. Aber Tschandragupta
sinnt, das hartherzige Herz des Priesters zu ge-
'vinnen. Mühsam gräbt er nach Qold in den Wäi-
dern der Oase und belegt den Hügel, auf dem der
ersehnte Qottestempel steht, mit seinem Fleiß.
Prägt 'ein Stück Leben seines Nackens nach der
edeisten Miinze des Judenlandes und legt das
atmende Qold zu dem verglommenen. Und die
Leute der Stadt sehen von ihren Dächern den
strahlenden Hiigel. Eilen in des Oberpriesters
Liaus: „Die Sonne ist vom Himmel gefallen!“ Aber
der weiß, wer alles die Pracht gesäet, verbirgt sein
Angesicht; denn er hat den Fremdling lieb. Und
Schlome hängt sich an ihres Vaters Schoß, bittet
'Ln, den frommen Wunsch des Jüngiings zu er-
Itülen. Aber er sendet ungeduldig von den ehr-
Hchen Hirten zwei zu dem Hiigel, daß sie sammeln
sollen das Qold in Säcken und nicht ein Stäubchen
verloren gehe. Ist doch die lebendige Miinze aus
Soldenem Fleisch und Biut schon abhanden ge-
Lommen. Da pocht der Deuter an das Haus des
iürsorglichen Priesters, warnt ihn des beieidigten
Volkes wegen: Der Enkel des Melechs wird dein
^inziges Kind töten. Aber der zuversichtliche
Priester erinnert ihn an den Morgen, da er den
sanften Heiden seines Hauses beschimpfte und die
J-eute beängstigte. Die sammeln sich auf den
Plätzen in murrenden Scharen und ziehen vor ihres
Oberpriesters Haus. Die Männer reißen an seinen
starken Wurzeln und die Weiber springen wie
Katzen um seine Balken. Und sie fordern von ihm,
jjaß er den friedfertigen Fremdling zu Jehova fiihre.
peschimpfen ihren obersten Priester einen Dieb an
Jonovas Gaben. Und Schlöme stehtauf dem Dach,
cI' e Stadt sieht zum erstenmal ihr nacktes Ange-
sicht. Wie eine lechzends Fiamme seufzt ihre
ytimme und schiirt das Volk geg'en ihren Vater auf.
V°r seines ehrwiirdigen Raumes' Pforte lauscht
schandragupta, seine Augen sind eir.lgesunken und
sein Atem hungert. Da kommt über ihn daJ F.ifh?.''
seines Stammes nach verlorener Schlacht. Mit ge-
ot.netem Rachen irrt der Fremdling an die Wände
er Häuser vorbei. Die verscheuchten Rosen der
eeKen fiattern auf, sein Atem peitscht die Bäume
l,na Sträucher um. Ueber die tobende Menge setzt
er wer wagt Schaitän zu bezwingen! Bis zu den
Knieen waten die bebenden Hirten heimwärts ihren
'-ämmern voraus, die sind von Menschensaft be-
spritzt. Um den Hügel, worauf der Tempel steht,
Kreist Tschandragupta, ein böser Stern, ihm rinnt
flas Blut schwarz aus den Poren. Und die Leute
gedenken des Deuters und kriechen auf Knieen, auf
flem Leibe kriechen sie über die Dächer und dringen
?° 'p fles Oberpriesters Haus. Fordern sein Opfer,
,'?I er doch soviel Ungiück gebracht über die
mhende S^adt. Und Schiöme salbt ihre G'ieder
w' e zur Hochzeit. sie hatte des Deuters Warnung
Vernommen. Und sie schwingt sich herab, eine
^ aj’! e Wolke von der Höhe ihres Hauses und wan-
.. I lächeind immer näher dem tödlichen Kuß. Es
'nstern die Sterne wie das Haupt des Häuptlings:
as drohte ihr unzählige Male auf dem Vorhang der
enigen Qerätschaften. Ueber die Namen der Wild-
ater, die jn heidnischen Zeichen und Bildern
<' en[ägt sind in Tschandraguptas Fleisch, fiießt
cnlömes geweihte Süßipkeit, tiber seine poidenen
enden hinab, wie rosenfarbener Honigseim. Zwi-
■cnen seinen Zähnen trägt er verzückt sein letzts
Pfer, ihren Leib hin über Jericho. Die schmei-
,. eInde Dunkelheit beieckt die Straßen und Piätze,
le Prunnen biuten nicht mehr. Und aus des Ober-
p 'fsters Haus, in den Schleie''n Schiömes tritt
? [.chandragupta wie die Frauen der Stadt. O und
^dn Wesen so liebevoll tastend, wie ein’ kindtra-
* endes Weib. Zwischen den schaudernden Frauen.

'. er den Qittern setzt er sich in den Tcmpel und
't, eine Gebete tönen zwischen seinen Lippen,
^uftes Qurren der Taube. Niemand hemmt den
' andel des Melech’s Enkel. Auch im ergrauten
Cerkleid der tempelalte Knecht nicht.

fro domo et mundo

0n Karl Kraus

Was mich zum Fluch der Qesellschaft
yucht, an deren Rain ich iebe, ist die Plötz-
"chkeit, mit der sich Renommden, Charaktere,

Qehirne vor mir enthülien, ohne daß ich sie ent-
larven muß. Jahrelang trägt 'einer an seiner Be-
deutung, bis ich ihn in einem unvorhergesehenen
Augenbiick entlaste. Ich lasse mich täuschen, so-
lange ich wili. Menschen zu „durchschauen“ ist
nicht meine Sache, und ich stelle mich gar nicht
darauf ein. Aber eines Tages greift sich cin Dumm-
kopf an die Stirn, weiß, wer er ist, und haßt mich.
Ich haite es viel länger mit der Langeweiie aus, als
sie mit mir. Die Schwäche flieht vor mir und sagt,
ich sei unbeständig. Ich lasse die Gemütlichkeit
gewähren, weil sie mir nicht schaden kann; einmal,
wenns um ein ja oder nein geht, wird sie von selbst
kaput. Ich brauche nur irgendwann Recht zu
haben, etwas zu tun, was nach Entscheidung
riecht, oder mich sonstwie verdächtig zu machen,
und automatisch enthüllt sicli der Nachbar. Wenn
es wahr ist, daß schlechte Beispiele gute Sitten ver-
derben, so gilt das in noch vie! höherem Grad von
den guten Beispielen. Jeder, der die Kraft hat, Bei-
spiel zu sein, bringt seine Umgebung aus der Form.
Und die guten Sitten, die den Lebensinhalt der
schlechten Gesellschaft bilden, sind immer in Qe-
fahr, verdorben zu werden.



* *

Ich betrachte es als mein unveräußerliches
Recht, das kleinste Schmutzstäubchen, das mich
berührt, in die Kunstform zu fassen, die mir beliebt.
Dieses Recht ist ein dürftiges Aequivalent gegen-
über dem Recht des Lesers, nicht zu lesen, was
ihm nicht beliebt.

*

* *

Ich habe noch nie eine Person um ihretwiiien
angegriffen, selbst dann nicht, wenn sie mit Namen
genannt war. Wäre ich ein Journalist, so würde
ich meinen Stoiz darein setzen, einen König zu
tadeln. Da ich aber dem Qewimmel der Kärrner
zu Leib gehe, so ist es Größenwahn, wenn sich der
einzelne getroffen fühlt. Nenne ich einen, so ge-
schieht es nur, weil der Name selbst die plastische
Wirkung der Satire erhöhen kann. Meine Opfer
soliten nach zehn Jahren künstlerischer Arbeit so
weit geschult sein, daß sie das einsehen und das
Lamentieren endlich iassen.

*

* *

Das VerlangeiT, ü'aß eih' jweima! geiesen
werde, weil erst dann ein Qedanke aur'gcht, gilt
für anmaßend oder hirnverbrannt. So weit hat
der Journalismus den Leser gebracht. Er kann
sich unter der Kunst des Wortes nichts anderes
vorstelien, als die Fähigkeit, eine Meinung zu be-
kleiden oder eine Stimmung gesellschaftsfähig
zu machen. Man schreibt „über“ etwas. Die An-
streicher haben das Gefühi für Malerei noch nicht
so gründiich korrumpiert, wie die Journalisten
das Qefühl für das Schrifttum. Oder der Snobis-
mus hilft dort und bewahrt das Publikum da-
vor, zuzugeben, daß es auch am Gemälde nur den
Vorgang erfasse. Jeder Galopin weiß heute,
daß er anstandshalber zwei Minuten vor einem
Biide stehen bleiben muß. In Wahrheit ist er auch
damit zufrieden, daß über etwas gemalt wird. Die
Heucheiei, mit der die Blinden von der Farbe reden,
ist schlimm. Aber schlimmer ist die Keckheit, mit
der die Tauben die Sprache als Instrument des
Lärms reklamieren.

*

* *

Die Entdeckung der Eitelkeit hat noch nie ein
Schriftst Jler seinem Leser Ieichter gemacht als
ich. Dei n wenn dieser es selbst nicht merkte, daß
ich eitel bin, so erfuhr er es doch aus den wieder-
holten Geständnissen meiner Eiteikeit und aus der
rückhaltlosen Anerkennung, die ich diesem Laster
zuteil werden iasse. Die iäcneinde Informiertheit,
die eine Achillesferse entdeckt, wird also an einer
Bewußtheit zuschanden, die sie schon vorher frei-
wiiiig entblößt hat. Aber sie können es nicht ver-
stehen, daß, wer mit einer Sache verschmolzen ist,
immer zur Sache spricht, und am meisten, wenn er
von sich spricht. Sie können es nicht verstehen,
daß, was sie Eitelkeit nennen, jene nie beruhigte
Bescheidenheit ist, die sich am eigenen Maße mißt
und das Maß an sich, jener demütige Wilie zur
Steigerung, der sich dem unerhittlichsten Urteil
unterwirft, das stets sein eigenes ist. DieWelthat
nur eine psychologische Norm für zwei Geschlech-
ter und verwechselt die Eitelkeit eines Kopfes, die
sich im künstlerischen Schaffen erregt und befrie-
digt, mit der geckischen Sorgfalt, die an einer Fri-
sur arbeitet. Wie eitel aber ist die Frau, die nie
in den Spiegel schaut!

Crommelynck

Von Ludwig Rubiner

Crommelynck ist ein Dichter, der derart nur
aus der Stimmung der Zeit schöpft, daß es falsch
wäre, für sein Schaffen die Heimat Belgien verant-
wortlich zu nennen. Hier ist ein neuer Typus des
Talents. Man häit zuerst für seine besten Fähig-
keiten die des Sammlers. Sein Vers-Akt „Der
Maskenschnitzer“ ist ein großer Wirbel, in dem
Hoffnungen, fiüchtige Piäne, zaghaft formulierte
Wünsche aus den letzten Jahren der französischen
Dichtkunst als Erinnerungsblätter auffliegen. Der
erste Eindruck ist vielleicht nicht: In diesem Stück
ist alles! — sondern: in diesem Stück bleibt nichts
erspart! Maeterlincks frühe Puppenspiele, wenn
die vertrauten Menschen mit niederländischen Win-
igkeiten plötzlich hinter gläsernen Särgen
sprechen, und nichts mehr an uns rührt ais ein
dumpfes Klirren verwirrenden Schalles von Stim-
men, die gegeneinander rangen. Verse französi-
scher Symboldichter, in denen unwirkliche Klänge
zu greifbar glänzenden Dingen werden. Und auch
ihr geliebtes Sinnbild und Gleichnis ist da, das in
den Händen der Nachahmer zur leersten Farce
wurde, die Maske. Crommeiyncks Bühnenzeit ist
ein macabrer Karneval, zweifellos nur mehr ein
Requisit einfältigster Kabaret-Symbolisten. Dies
alles gleitet hinein in den grelien Alexandriner vom
strengen Klange der parnassischen Dichter. Die-
ser Aiexandriner klassischer Rhetoren, farbig ge-
brannt in allen Feuerwerken der Romantisten, und
einst der Parnassier stärkstes und neuestes A.us-
drucksmittel, erscheint heut schon als klassisch.
Kein Franzose wird je mehr Verhaerens neuen
Rhythmus vergessen können! Derart sind alle
Mittel Crommelyncks alt. Und auch die Biihnen-
führung des Aktes ist iibernommen. Es ist streng-
ste französische Theatertechnik. Jene Fertigkelt
szenischer Attacken, deren bereiteste Repräsentan-
tenstücke von Sardou sind.

Alle Werkzeuge, die ein Dichter erst mit einer
Arbeit in Frucht und Taurnei selbst schaffen muß,
um die Bilder des eigenen Blutes iiberhaupt mit-
teilen zukönnen. nimmt Crommelynck mit einer un-
geheuren und rücksichtslosen Unbefangenheit von
Fremden. Stimmungsmotive, Sprache, Szenenbau
siiVu ul25 Werk anderer.

\ fri lHpr TpiIph wird pfu’fis splir

Einfaches und ganz neues geschaffen. Cromme-
iyncks Werk erscheint nicht ais die Arbeit eines
geschmackvollen Wähiers, sondern steht ais Schöp-
fung da. Die innere Struktur dieses Dramas führt
die maeterlinckhafte Stimmung der Symbole als
handelnde Wirklichkeit gegen die alte maskenhafte
Technik der Biihne und Crommelynk nimmt die
unzweifelhaftesten Mittel der absoluten Biihnen-
kunst gerade als Material, aus dem er schafft. Das
ist neu. Wie ein Bildhauer aus dem Marmor und
ein Maler aus den Farben denkt. so denkt Cromme-
lynck aus den erprobten Wirkungen der Biihne,
als aus einer selbstverständiichen Materialsvor-
aussetzung.

_Der Laden des Maskenschnitzers Pascal

Bernard, voll von den Kostümen und Larven des
Karnevals. Im Nebenzimmer stirbt Pascals Weib,
Louison. Pascals Schwägerin, Magdaieine, horcht
auf das Stöhnen der Siechen. Sie hat ihre
Schwester mit Pascal betrogen. Pascal, der Künst-
ler, in einem furchtbaren, starren Nichtwissen der
Wirklichkeit. Er weiß nur, wie die Sterbende aus-
sieht, nicht daß sie stirbt. Magdaieines dc.hste
Brunst nach dem Leben, wird durch jedes Stöhnen
der Kranken in neue Angst vor dem Tode getrie-
ben. Auf jede Erinnerung fäilt ein Schrei der Stöh-
nenden. Die geräuschvollen Fetzen des Straßen-
lärms dringen oft durch die Tür und erscheinen wie
schreckliche Drohungen oder Antworten auf die
Monologe dieser fiebernden Hirne. Die furcht-
bare Atmosphäre des hetzenden Entsetzens legt
sich auch um Pascai, und dieselben Laute, die
Magdaleine verstören, antworten auch seinen
Phantasien der Unwirklichkeit. anders und vernich-
tend. Niemand wagt ins Nebenzimmer zu der
Sterbenden zu gehen. Pascai muß einen Priester
holen. Zurückgezwungen in die Qrenzen seines
Reiches der Kunst, die fiir ihn Wirklichkeit bedeu-
ten, fragt er von der Sterbenden: „Ist sie häßlich?“
— Magdeleine wirft sich ihm entgegen: jetzt ge-
rade darf er nicht fortgehen! Sie bleibt ailein, ge-
schüttelt von Angst, und aus dem Nebenzjmmer
kommen die monotonen Schreie der Sterbenden.
Herein von der Straße stürmt ein Haufen Kostü-

li
 
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