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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 17 (Juni 1910)
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Walden, Herwarth: Das Sittenmädchen
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Minimax: Ereignisse
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0140

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Jicser bössn Welt. Das zarte Mädchen — Luise
heißt sie — wandelt erst ftinfzehn Jahre und elf Mo-
uate auf der Erde. Nach Ansicht des Vaters fehlen
ihr noch dreißigTage, um definitiv die Kinderschuhe
abiegen zu können. Doch in unseren peinlichen
^ozialen Verhältnissen müssen selbst so zarte Wesen
ans Qeldverdienen denken. Und schweren Herzens
entschloß sich der Herr Obersekretär, sein Kind in
ein vornehmes Qeschäft zu stecken. Die Kunst-
handlung Macht war ausersehen, diese ersten
Schritte Luisens zu lenken. Sie zeigte sich der
väterlichen Huld nicht würdig. Und das große Er-
eignis trat in Luisens Leben. Still und bescheiden
'iossen die Wochen dahin. Sie stenographierte,
maschinierte und wurde in die Mysterien der dop-
pelten Buchhaltung eingeweiht. Doch eines Tages
'iamen unzählige Kisten an. Und die folgenden Tage
tioch mehr. Die Neugier regte sich. Luise und die
Buchhalterin gingen in den dritten Stock des
/fauses, wo soviel Bilder ausgepackt wurden, als
Kisten eingetroffen waren. Die Neue Sezession zog
ein. Luise kannte bisher die Welt nur aus Mode-
■ournalen und bemerkte nun zu ihrem Erstaunen,
daß Menschen ohne Kleider nackt seien. Zehn Tage
wälzte sie diese Erkenntnis in ihrem Busen, am
elften Tage erwachte ihre Mädchenehre und am
zwölften indirekt ihr Schamgefühl. Also geschah
Jas Außerordentliche. An einem schönen Mittag —
Jie Sonne schien lebhaft vom Himmel — wünschte
®in Kunstkritiker die Ausstellung vor der Eröffnung
<u besichtigen. Der Chef A%r.Fjjma Marht ver-

iangte nun von Luv'-'. - / ' rv ' j ,

se (so versichert zornbebend der

Vater) — man kann es nicht glauben, was er ver-
iangte. Er erteilte persönlich Luisen den Auftrag,
„in die Ausstellungsräume der Neuen Sezession zu
gehen und die Aufsicht darin zu fiihren, solange der
Jarin befindliche Herr anwesend sei. Sie mußte
nun in den abgelegenen Räumen, in welchen eine
beträchtliche Anzahl sittlich nicht einwandsfreier
Qemälde aufgestellt war, längere Zeit allein mit
einem ihr fremden Herrn verweilen.“ Der Herr
ging fort, Luise am Abend auch und kam nicht
wieder.“ Statt ihrer traf achtundvierzig Stunden
später ein Brief ein.

Charlottenburg, den 13. Mai 1910.

An die Firma

Maximilian Macht
Buch- und Kunsthandlung
z. H. des Herrn Sauermann

Berlin W.

Meine Tochter ist durch Ihre gestern persönlich
getroffene Anordnung, dass sie zugegen sein musste,
als ein Herr gestern Mittag in der Zeit Von 12-2 Uhr
die Ausstellung der „Neuen Sezession“ besuchte, in
welcher sich sittlich nicht einwandfreie Qemälde
befinden, derartig in ihrer Mädchen-Ehre Verletzt,
dass sie erkrankt ist, Wovon ich Ihnen hiermit
ergebenst Kenntnis gebe

Weiteres in dieser Angelegenheit behalte ich mir
vor, da Sie wohl nicht berechtigt waren, eine solche
Dienstieistung von meiner Tochter, deren Alter Ihnen
genau bekannt ist, zu verlangen. Ich glaube auch
annehmen zu dlirfen, dass Personen unter 16Jahren
der Zutritt zu dieser Ausstellung polizeilicherseits
nicht gestattet werden wird und ersehe daher in
Ihrer Handlungsweise auch eine meiner Tochter
zugefügte Beleidigung.

Ergebenst

gez. Königlicher Obersekretär
Nun standen beide Parteien vor dem Richter.
i)ie Firma Macht trat für die Sittlichkeit ihrer
Bilder, der Vater für das Schamgefühl seiner

Tochter ein. Die totale Kunstfremdheit des Volkes
offenbarte sich. Der alte Mann kämpfte tatsächlich
ftir seine Ideale. Man kann nicht annehmen, daß
auch ihm die Kenntnis fehlte: Menschen ohne
Kleider sind nackt. Man kann nicht glauben, daß er
nicht wußte: auch so beschaffene Menschen werden
von der Kunst verwertet. Die besondere Form, in
der es hier geschah, erregte seinen Unwilien. Eine
nackte Venus hätte ihm nicht weh getan, denn sie ist
klassisch, und mit dem Klassischen muß sich nun
einmal auch der schlichte Mensch abfinden. Nie-
mals ist den Klassikern das Recht auf Unsittlichkeit
abgesprochen worden. Qöttinnen mögen sich
nicht kleiden wie sie wollen, die Frau unserer
Tage hat die Pflicht zur Konfektion. Ich
bin überzeugt, daß Luisens Schamgefühl erst
durch ihren Vater erregt wurde. Sie kam
abends nach Hause mit dem Katalog. Der Vater
sieht die Abbildungen. Menschliches ist ihm schon
längst fremd. „Diese Bilder sind dort zu sehen?
Du bist dort oben? Was? Mit einem Herrn?
Allein? Du siehst so elend aus? Hast Du kein Ehr-
gefühl? Der Chef verlangt es? Fühlst Du Dich
nicht im Innersten beleidigt?“ Was bleibt Luisen
übrig, als sich nachträglich beleidigt zu fühlen. Und
schon sitzt der Herr Obersekretär an seinem
Schreibtisch, klappt den Pultdeckel hoch und äußert
sich amtlich. Nur so ist der Fall zu erklären. Luise
war ja nicht beauftragt worden, sich gemeinsam mit

dem .Herrn diÄ Oynäld^ .UniUSSSSü, SlS SSlÜS ute
Aalsictit führen. Sie war doch sicher nicht des
Glaubens, einen notorischen Dieb beobachten zu
müssen. Sie sollte rein formell anwesend sein.
Kein zehnjähriges Kind würde diese Aufgabe anders
auffassen. Nein, der Vater ist beleidigt. Vergebens
sucht der Richter ihm seine unglücklichen Ideen aus-
zureden. Der Mann bleibt künstlerisch gekränkt.
Er schreit nach der Polizei, redet von Verboten, die
nie erlassen sind, beruft sich auf den Berliner Lokal-
Anzeiger, nach dessen Angabe jemand sogar ein Bild
bespuckt hat. Das wertvollste Material für ihn, die
Aeußerungen des seligen Pietsch, kennt er offenbar
riicht. Der Richter verzweifelt. Der Herr Ober-
sekretär wird visionär. „Selbst wenn man die Un-
sittlichkeit der fraglichen Qemälde dahingestellt sein
lassen sollte, so kann man doch nicht wissen, ob nur
ehrenwerte Männer die Ausstellung besuchen.“
Der Richter: „Es ist doch keine Ausstellung für
Damen.“ Der Vater: „Ehrenwerte Männer, meine
ich“. Der Richter (er wird nun sachlich, was man
ihm nicht übelnehmen kann): „Der Besuch einer
Kunstausstellung ist nicht abhängig von dem Nach-
weis sittlicher Unbescholtenheit.“ Der Vater:
(verdutzt). Der Richter: „Das Kaufmannsgericht
ist kein Kunstforum.“ Der Vater: „Die Unsittlich-
keit der fraglichen Qemälde . . .“ Der Richter:
„Sie haben doch gehört, daß ein Polizeileutnant die
Ausstellung besichtigt hat. Was übrigens auch
nichts zur Sache täte. Sie können doch nicht poli-
zeilicher sein wollen, als die Polizei.“ Der Vater:
„Aber die Unsittlichkeit der fraglichen Qemälde . . .
Der Richter: (gibt es auf). Paragraphen werden
verlesen, der Richter erklärt die Klage für grundlos,
der Vater erklärt, daß es ihm auf Qeld nicht an-
komme, er verlangt nur sein Recht auf Feststellung
der Unsittlichkeit. Der Richter empfiehlt ihm
höflich, Strafantrag zu stellen. Ich bin überzeugt,
der Alte tuts.

Warum diese Angelegenheit hier so ausführlich
behandelt wurde? Weil sie ein Kulturdokument ist,
weil sie zeigt, welche Welten das Volk von der
Kunst trennt. Weil sie zeigt, wie widersinnig die
Bestrebungen sind, die sich unter dem Namen „Die
Kunst dem Volke“ breit machen. Die Kunstfremd-
heit am Kurfürstendamm und im Tiergarten ist aller-
dings nicht geringer. Man muß sie als Naturdefekt
auf sich beruhen lassen. Wohl aber kann man ver-
hindern, daß Meinungslose eine Meinung erhalten.
Stände zum Beispiel im Lokal-Anzeiger garnichts
über Kunst, so wäre es für alle Teile besser. So-
lange die von Karl Kraus vorgeschlagene Ent-
literarisierung der Zeitungen nicht erfolgt ist, bleibt
nichts übrig, als den Herren sorgsafn auf die Finger
zu passen, die Mittler zwischen Kunst und Volk
spielen wollen.

T r u s t

Ereignisse

Die Borromäus-Encyklika

Kein Mensch in Norddeutschland wußte bis
heute, was Borromäus heißt. Aber es ist ein älterer
Heiliger. Man rede nicht über Heilige; man weiß
nie, wozu sie gut sind. Eines Tages haben sie Qe-
~üri$f3£; und^die Encyklika ist fert<> !n ior Zeit
der Brechdurchfälle sind sie für die Kirche ein ge-
fundenes Fressen; gebraten, wie sie nun mal in ihrer
Profession als Märtyrer sind, rufen sie, zur En-
cyklika angerührt, bei Andersgläubigen in kurzer
Zeit stärkste Wirkung hervor. Es kommt zu stür-
mischen Leitartikeln, Protestversammlungen. Ich
erfuhr bei der Qelegenheit, was mir sehr inter-
essant zu hören war, daß es in Europa zwei An-
sichten über religiöse Dinge beim Volke gebe, die
protestantische und die katholische, die sich gegen-
seitig erstaunlich ernst nehmen, sich nicht unähnlich
den Ochsenfröschen umschichtig aufblähen und
unter hörbarem Lärm anblaffen. Solch Verhalten
war mir noch dunkel aus dem Jahre 1618 in Er- j
innerung. Es wird jedenfalls unseren guten Borro-
mäus freuen, bei seiner Wiederkehr diesen ältesten
Antiquitäten zu begegnen, und auch die Herren Pro-
fessoren auf den Versammlungen ’zu hören, welche
die Antiquitäten konservieren im Namen der
Wissenschaft, der Glaubensfreiheit und des Kultur-
fortschrittes.

Herr Dernburg

Er ist entthront. Aber den Unermüdlichen leidet
es nicht in seiner Villa. Nächtlich sieht man ihn im
Grunewald mit der Handlaterne herumwandern, im
Sande nach Brillanten suchen und hastig Kiesel-
steine verstecken. An der Riesenrutschbahn im
Lunapark hat er sich beteiligt, die er über ganz
Deutschland führen will. Ein Bankinstitut hat er
gegründet, das Nummern des Lokalanzeigers als
Wertpapiere ausgeben wird. Jetzt plant er eine
Versicherung auf garantiertes Fortleben nach dem
Tode. Er ruht und rastet nimmer.

M i n i m ax

Verantwortlich für die Schriftleitung:
HERWARTH WALDEN / BERLIN-HALENSEE

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