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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 24 (August 1910)
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Hiller, Kurt: Über Kultur
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0191

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Umfang acht Seiten

Einzelbezug: 10 Pfennig

WOCHENSCHRIFT FÜR KULTUR UND DIE KÜNSTE

Redaktion und Verlag: Berlin-Halensee, Katharinenstrasse 5
Fernsprecher Amt Wilmersdor! 3524 / Anzeigen-Annahme und
Qeschäftsstelle: BerlinW35, Potsdamerstr. 111 / AmtVI 3444

Herausgeber und Schriftleiter:
HERWARTH WALDEN

Vierteljahresbezug 1,25 Mark j Halbjahresbezug 2,50 Mark/
Jahresbezug 5,00 Mark / beä freier Zustellung / Insertions-
preis für die fiinfgespaltene Nonpareillezeile 60 Pfennig

JAHRGANG 1910 BERLIN /DONNERSTAG DEN 11. AUGUST 1910/WIEN 'NUMMER 24

INHALT: KURT HILLER: Über Kultur / OTTO
STOESSL: Ludwig Speidel / DESIDER KOSZTO-
LANYI: Gedichte / PAUL SCHEERBART: Luftquallen /
OTTO SOYKA: Sommerfrische / TRUST: Quellen
reifen / Lebensweisheiten und Weltanschauungen /
OSKAR KOKOSCHKA: Zeichnung

Über Kultur

Von Kurt Hiller

I

Im sechsten und tetzten Kapitel seiner „Philo-
sophie des Geldes“ spricht Georg Simmel über den
„Stil des Lebens“. Der zweite Absch'nitt dieses
Kapitels, händelnd über den Begriff der Kultur und
das durch die Arbeitsteilung verursachte Aus-
einandertreten von objektiver und subjektiver Kultur,
ist ein klassisches Stiick neuerer deutscher Philo-
sophie; ein Kleinod von Geistigkeit, in edel-kaltes
Ptatina gleichsam zu fassen und auf Sammet zu
betten.

Von dem, was ! der Künstler des Gedankens hier
gibt, sei zunächst die Essenz herausgeholt und in
wenigen Worten aufgefangen:

Wenn wir die Verfeinerungen des Lebens, seine
vergeistigten Formen, die Ergebnisse der inneren
und äußeren Arbeit an ihm, als Kultur bezeichnen,
afs Kultur jene Steigerung natürlicher Keime und
Tendenzen über das 1 Maß der Entwickelung, Fülle
und Differenzierung hinaus, das ihrer bloßen Natur
erreichbar wäre, so werden wir sagen können: Im
Verglteich mit der Zeit vor hundert Jahren sind die
Dinge, die unser Leben saChlich erfüllen und um-
geben, Geräte, Verkehrsmittef, die Produkte der
Wissenschaft, der Technik, der Kunst — unsäglich
kultiviert, aber die Kultur der Individuen, wenigstens
in den höheren Ständen, ist keineswegs im selben
Verhäftnis vorgeschritten, ja, vielfach sogar zurück-
gegangen. Ein irgendwie belangloses, aber doch
äußerst chärakteristisches Symptom: der Gesichts-
kreis, aus dem die Konversation ihre Gegenstände
schöpft, hat sich objektiv, durCh die vorgeschrittene
Theorie und Praxis, in diesem Zeitraum erheblich
erweitert, und doCh 1 scheint es, afs ob' die Unter-
Kaltung, die gesellschaftliche wie auCh die intimere
und briefliche, jetzt viel flacher, uninteressanter und
weniger ernsthäft wäre, als am Ende des achtzehnten
Jahrhunderts. — Ein anderes, bedenklicheres
Symptom: Es operieren selbst die kenntnisreichsten
und nachdenkendsten Menschen mit einer immer
wachsenden Zahl von Vorstellungen, Begriffen,
Sätzen, deren genauen Sinn und Inhalt sie nur ganz
unvollständig kennen; die ungeheure Ausdehnung
des objekfiv vorliegenden Wissensstoffes gestattet,
ja erzwingt den Gebrauch von Ausdrücken, die
eigentlich wie verschlossene Gefäße von Hand zu
Hand gehen, ohne daß der tatsächlich darin ver-
dichtete Gedankengehalt sich für den einzelnen Ge-

braucher entfaltete. — Alle Kultur der Dinge isteine
Kultur der Menschen, und in Sprache und Sitte,
politischer Verfassung und Religionslehren, Literatur
und Technik ist die Arbeit unzähliger Generationen
niedergelegt, als gegenständlich gewordener Geist,
von dem jeder nimmt, so viel 1 er will oder kann,
den alS Komplex aber kein einzelner ausschöpfen
könnte. Diese verdiChtete Geistesarbeit der Kultur-
gemeinschaft verhält sich also zu ihrer Lebendig-
keit in den individuellen Geistern wie die weite
Fülle der Möglichkeit zu der Begrenzung der Wirk-
lichkeit. In einem kleinen Kreise von niedriger
Kultur wird dieses Verhältnis nahezu eines der
Deckung sein, die objektiven Kulturmöglichkeiten
werden dje subjektiven KufturwirkliChkeiten nicht
weit überragen. Eine Steigerung des Kulturniveaus
— insbesondere wenn es mit einer Vergrößerung des
Kreises gfeichzeitig ist — wird die Diskrepanz beider
begünstigen: es war die unvergleichliche Situation
Athens in seiner Blütezeit, daß es bei all seiner
Kulturhöhe gerade dies zu vermeiden wußte. . . .
Jener schmerzliche Effekt der Steigerung des
kulturellen Inhalts und Umfangs wird verständlich
durch die Arbeitsteilung, die sich (in der Produktion
und KonSumtion) vollzieht. Das Wachsen der
physisch-psychischen Energien und Geschicklich-
keiten, daS sich bei einseitiger Tätigkeit einstellt,
pflegt für die einheitliche Gesamtpersönlichkeit
wenig Nutzen abzuwerfen; es läßt diese sogar
vielfaCh verkümmern, indem eS ihr ein für ihre
härmonische Gestaltung unentbehrliches Kraft-
quantum entsaugt. — So ergibt sich das Gemälde
der Zeit, in welchem der Kulturinhalt immer mehr
objeküver Geist wird; und die wunderliche Erschei-
nung wird begreiflicher: daß in dem Maße, in dem
diese Objektivation vorschreitet, die kulturelle Stei-
gerung der Individuen hinter der der Dinge merkbar
zurückbleibt.

Dies etwa ist der Kern der Simmel’schen Aus-
führungen. Wie es dem durch und durch unkämpfe-
rischen, nur-kontemplativen, allzu apollinischen Tem-
perament diesCs Psychologen entspricht, unterläßt
er es, jener analysierenden Wirklichkeitsbetrachtung
eine Wert-Erörterung, eine Kritik oder gar ein
Ethos-durchlohtes System sozialer Umgestaltungs-
ideen hinzuzufügen. Man wird daraus nicht
schließen müssen, daß Simmel mit den Zuständen,
die er schildert, einverstanden sei; mich deucht eher,
er bekläge sie, dränge aber selne UnzufriedenhCit
zurück, weil es ihin unangemessen scheint, Sym-
pathien und Abneigungen, Wertgefühle und Wollun-
gen in wissenschaftliche Explikationen hineinspielen
zu lässen. Diese Enthältsamkeit von Ethost und
Pathos bietet freilich einem Gemüte, das wenig von
Ethos und Pathos enthält, geringe Schwierigkeiten,
und eine in ihrem Mark so unpolemische Persönlich-
keit, wie Simmel, hät es leicht, die Forderung der
Neutralität und Zurückhältung nicht nur zu erheben,
sondern auch zu erfüllen.

Ich weiß nicht, ob tatsächlich Wertung des
Seienden den Kreis; derjenigen Aufgaben über-
schreitet, die sich die Wissenschaft gesetzt hat —

eine Entscheidung darüber hinge ja auch von dem
Begriff ab, den man sich von „Wissenschaft“ macht;
scllten aber wirklich Wertung und Wissenschaft
unvereinbare Dinge sein, so wäre damit doch nichts
gegen die Berechtigung wertender Tätigkeit gesagt;
höchstens etwas gegen die quantitative ZuIängliCh-
keit der Wissenschaft! Wird eine Weise des
Denkens, eine besondere Art von Problemstellung
„unwissenschaftlich“ genannt, so bedeutet das an
sich keine Verdammung dieser Art und Weise,
sondern lediglich eine — allerdings negative — Ein-
rangierung ihrer in das große Schubfachwerk der
Seelenfunktionen; es wird dadurch sozusagen ihr
metaphysischer Ort als außerwissenschaftlich be-
stimmt. —

Gerade nun, wenn die Wissenschaft irgend eine
Problematik von sich' weist, sich also für die Be-
antwortung der jn dieser steckenden Fragen für
mehr alö unfähig, für inkompetent erklärt, be-
steht die intellektuelle Pflicht, sich solcher Probleme
anzunehmen; sie frieren, diese armen Verstoßenen,
und verlängen nach unwissenschaftlicher iWärme,
Liebe und Begeisterung.

*

* * *

Mir scheint das vehemente Auseinanderfallen
von vergegenständlichtem Geist und individualer
Kultur zu den widerwärtigsten Mängeln unseres
Zeitalters zu gehören. Was frommen Erhabenheit,
Differenzierung und Fülle, wenn kein einziger Ein-
zelner ihrer teilhaftig werden kann? Sie sChaden
nur; denn sie stiften jene fürchterliche Zerfahrenheit,
die dieser Epoche in philosophischer, künstlerischCr
und politischer Beziehung eignet; (eine Zerfahren-
heit, die darum nicht an Beklagenswürdigkeit ver-
liert, weil allerhand grenzenloses Neologenvolk, Kos-
miker, Werdandioten und Monistenbündler, ridikül
und bärtig mitjammert).

Soll man aber darum in die Trompete Rousseaus
blasen? Zur Einfachheit und zum Landleben, zum
UrmenSchentum zurückrufen ? In den R e t o u r -
nonsens verfallen? Ich, bitte, lehne das ab; teils
weil ich die Wiederbelebung solcher Zustände für
unmöglich halte, teils weil ich mir von ihrer etwaigen
Verwirklichüng eine Erhöhung der irdisChen Langen-
weile verspreche. —

Wie aber, wenn in der Tat kein Individuum
heute mehr imstande ist, den objektiven Geist seiner
Zeit auszuschöpfen ? Dies behauptet doch Simmel.
Aber mir seheint hier eine Art Verwechselüng vor-
zuliegen. Simmel ist, wiewohl er sich theoretisch
stets bemüht, Tatsächlichkeiten in Beziehüngen auf-
zulösen, praktisch hier noch zu sehr Diener des
Faktums geblieben. Freilich läßt sich, ihren I n -
h a 11 e n nach, die jeweils objektivierte Kultur einer
Epoche von einem Einzelnen nicht ausschöpfen;
wohl aber vermag er das, was diesen Inhalten erst
den Charakter der Kuttur verleiht, das Funktionelle
an ihnen, ihre Art, ihre F o r m, vollständig in das
eigene Ich 1 aufzunehmen, seiner Persönlichkeit
organisch einzufügen unä einzuschmelzen.

NiCht das !, was verfeinert ist, sondern die
Verfeinerungen „auszuschöpfen“ —: das

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