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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 48 (Januar 1911)
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Unger, Erich Walther: Nietzsche
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0386

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Nietzsche

Von Erich Unger

Leichter und inhaltreicher hebt der die Verkno-
tungen und Durchdringungen der Dinge in das vvache
Bewusstsein, der seinem Geist gestattet, sie in solchen
dunklen Gleichnissen heraufzubringen, unter denen sie
sich einzig in der Tiefe zeigen umfassender als der, der
die als Ganzes empordringenden Verwobenheiten nicht
sehen will und sie zurückwirft, weil sie nicht schon
in jener zersetzten Form zu Tage kommen, an der
später aliein Wirkliches und Unwirkliches erkannt wird.
Und vieles kann dieser nicht festhalten, weil eine zehn-
fach grössere Kraft des Geistes vonnöten ist, der bild-
und symbolhaften Erscheinungsform der Dinge, die von
der Natur des Denkens in den Schächten des Er-
kennens mit aller Macht erstrebt wird, zu entsagen,
als sich ihrer zu bedienen. Darum entgleitet vieles
der Ohnmacht dessen, der jene Ausdrucksart nicht er-
trägt, in die sich gerade die tiefsten Erkenntnisse fügen
müssen, weil sie die reichste ist an Möglichkeiten und
Tönen, und der dem Gesehenen schon in der Tiefe
die durchsichtige, farblose Gestalt des Logischen auf-
zwingen will vieles zerinnt ihm, was der andere
greifen kann. — Und vielleicht war es nötig, die Dinge
nur einmal erst ans Licht zu tragen. — So entstand
Nietzsches Dityrambus.

Was Ietzten Grundes allem Denken Bewegung gibt,
was seine Formen aneinanderfügt und aus einem
Mechanismus ein Organ macht, das, was allem Er-
kennen eine Richtung weist, ist ein Wollen, dessen
Natur so allgemein ist, dass wir seine Ziele noch
nicht zu sagen vermögen. Aber gerade in dieser
Tätigkeit des Erkennens beschränkt und verneint sich
das Wollen selbst und lässt nicht zu, dass sein Wesen
sich äussere Und wie alle Selbstvemeinungen ist
auch diese nur das Zeichen einer höher gesteigerten
Intensität.

Doch es geschieht, dass jenes Wollen die Formen
des reinen Erkennens, in denen es sich birgt, durch-
bricht und unverhüllt in seiner Gewalt offenbar wird
— wir stehen vor der Erscheinung des Pathos. Seinen
leisesten Hauch und Keim fühlen wir eigentlich schon
in der blossen Synthese, die jedes denkerische Resul-
tat darstellt in der blossen Verbindung zweier vor-
dem weit getrennter Empfindungskomplexe, wenn
wir etwa vernehmen: Die Welt ist Wille.

Das Pathos erhebt sich überall dort, wo ein allzu
heftiges Strömen des Wollens, nicht stark genug, trotz
der Last der Gesetze des Denkens bis an ein Resul-
tat vorzudringen, sich von diesen befreit, wo der
Geist demzufolge zu schwach ist, die logischen Einzel-
heiten, die zu einem Ergebnis führen, getrennt hervor-
treten zu lassen, wo nur die Richtung und so der
Ausgang der Bewegung dieser logischen Zwischengiieder
in zusammengesetzten Empfindungen als Erlebnis wahr-
genommen, aufgegriffen und formuliert wird, wo eine
Erkenntnis nicht entfaltet, sondern vorwegge-
n o m m e n wird.

Genau genommen, sind alle Ergebnisse, die die
Geschichte des Denkens aufweist, solche Vorwegnahmen
von Erkenntnissen einer kommenden Zeit. Denn,
wenn wir eine Entwicklung des Denkens über Völker
hin annehmen dürfen, so kommt ein Gedanke weit
später in jener ausgebreiteten als in dieser komplexen
Form zu Tage. Und der, der eine Entdeckung dieser
letzten Art ausspricht, hat die Empfindung, dass er
jetzt schon etwas gesagt und aufgefangen hat, das
erst in fernen Zeiten gleichsam fällig ist — und dieser
ungeheure Vorsprung, dieses Ankerwerfen in ferne
Zeiträume, diese Verdichtung eines gewaltigen Ablaufes
in eine Wahrnehmung, ein Uebermass von Sensationen,
ist die Befriedigung jenes tiefen Wollens, das uns bis
heute als der letzte greifbare Ausdruck der Gegeben-
heit erscheint, die wir „Leben“ nennen.

Je komplizierter und rticher das Empfindungs-
gewebe ist, auf dem das Erlebnis ruht, desto weiter
dünkt dem Gestaltenden die Zeit, bis seine Erkennt-
nis entfaltet, zerlegt und aufgenommen ist, desto länger
die Spanne, da sein Gedanke eine wirkende Macht
bedeutet, desto tiefer glaubt er das Wesen des Exi-
stierenden gesehen zu haben, desto intensiver ist sein
Pathos.

Für unsere Empfindung mächtiger als je, über-
fliessender als je, strömt die pathetische Kraft durch
die Gestaltungen des Auserlesenen dleser Zeit — Frie-
drich Nietzsches — dass alle Worte wie vor Leben
erzittern. Durch irgend welche Zusammenwirkungen

zeigt sich an dieser Erscheinung wie an keiner anderen
für unsere Augen das Schauspiel des Genies und das
Phänomen steigert sich fast zu einer Grösse, die
psychologischem Erfahrungswissen entwächst und nur
durch eine philosophische Anschauung umspannt werden
kann, steigert sich zu einem Problem, dessen Lösung
mit den Lösungen der Ietzten Fragen verwoben ist.

Wir können nichts tun als beschreiben

Das Denken trägt mit sich die furchtbare Be-
stimmung, das ihm ein Ding gerade dann, wenn es
am meisten darum ringt, entgleitet. Denn immer
dann, wenn der Geist die grösste Intensität des Denkens
an der Erfassung eines Objektes arbeiten lässt, dann
muss das Denken über das Objekt hinweg und zu
sich selbst zurückspringen.

Denn aie Steigerung der Intensität findet keinen
anderen Ausweg. Wenn das Denken sich auf einen
Gegenstand richtet, tiefer und tiefer in das Wesen
dieses Dinges dringt, ihn so ergreift, wie es ihm mög-
lich ist, und schliesslich keine neue Seite mehr an
ihm entdecken kann, so prallt die nachdrängende
Kraft des Denkens, die keine Anhaltspunkte mehr an
dem schon völlig „durchdachten“ Gegenstande finden
kann, notwendig von diesem zurück und — richtet
sich gegen sich selbst Denn dies verlangt die not-
wendige Steigerung der Intensität des Denkens. Das
Denken zerfasert, da es des Objekts nicht Herr ge-
worden ist, seine eigenen Fähigkeiten, seine eigenen
Beziehungen zu dem Gegenstande der Betrachtung,
es wühlt und sondert seine Empfindungen, es viviseziert
sie erbarmungslos, um ihren Blutkreislauf zu sehen und
ihre Herkunft zu erkunden, es lässt seine lebendigen
Funktionen wirken, um sie dann als zerschnittenes,
wertloses Experimentiermaterial verächtlich beiseite zu
werfen.

Das enttäuschte, durch den Misserfolg und Nicht-
überwindung seines Gegenstandes ohnmächtige Denken
begeht gleichsam Selbstmord. Es wütet gegen sich:
Was war es denn an mir, dass ich das Ding nicht
lösen konnte? Dies Selbstbedenken schwillt, den ganzen
Geist durchsetzend, mehr und mehr an und schliess-
lich:

Die Kraft des Denkens, die den widerstehenden
Gegenstand zu erfassen suchte, und die Lösung
bringen sollte wird schwächer und schwächer und
mehr und mehr auf die Selbstbeobachtung des
Denkens verbraucht

Die Selbstbetrachtung wird Selbstzweck, obwohl sie
anfangs nur Mittel war, den Gegenstand tiefer zu er-
fassen. Zwischen zwei Grenzpunkten bewegt sich das
Denken, zwischen der grössten auf einen Gegenstand
verwandten Intensität, und zwischen der grössten auf
sich seibst verwandten Intensität, zwischen naivem und
und indirektem, zwischen direktem und kritischem,
zwischen schaffendem und zersetzendem, zwischen dem
Denken, das sich seiner selbst unbewusst und nur seines
Gegenstandes bewusst — und dem Denken, das sich
nur seiner selbst bewusst ist.

Das schaffende Denken ist dann am kleinsten und
geringsten, wenn die Selbstzerfleischung am grössten ist
und überhand genommen hat.

Das schaffende Denken arbeitet am machtvollsten,
wenn es sich seiner selbst unbewusst nur auf den
Gegenstand richtet.

Dieses direkte Denken, das von sich selbst abso-
lut nichts empfindet, dessen ganzes Bewusstsein rest-
los durch die Inhalte und Objekte des Denkens aus-
gefüllt wird, oder das seine ganze Kraft in der Um-
fassung des Inhalts seines Objektes erschöpft, dieses
Denken dringt naturgemäss viel tiefer in das Wesen
eines Objektes als das, welches auf die Objekte nur
schaut, in seinem eigenen Innern durch Dunkelheiten
und Krankheiten gefesselt.

Und noch in Einem scheiden sich die naive oder
unbewusste und die indirekte oder bewusste Denkmethode
voneinander.

Das langsame grübelnde Tempo der refletiven und
der Intensitätssturm der naiven Erkenntnis.

Das indirekte Denken, durch Misserfolge unsicher
gemacht, misstraut jeder seiner eigenen Beobachtungen,
immer tiefer dringt die Selbstbeobachtung von Schritt
zu Schritt mehr mit Vorbehalten beladen und bleiern
sich an die Kraft des Erkennens hängend — alles wird
verdächtig und vorläufig.

Jedes Denken, auch das kritische, ist nämlich letzten
Grundes naiv - denn immer muss ein sich selber un-
bewusstes, denkendes agens vorhanden sein — aber
die dem Denkempfindenden andauernd eingeprägte
Drohung des Irrtums — diese gleichsam christliche

Moral der Trug- und Scheinhaftigkeit alles Denkens
und der Verleugnung seiner Ergebnisse — untergräbt
die Lebenskrart und Sicherheit des ursprünglichen
Denkens, und macht seinen Gang Iangsam nnd kraft-
los. Aber kein Urteil soll etwa damit gesprochen
werden über den Wert der beiden Wege.

Die eine Bewegung des Denkens, die indirekte,
sich selbst betrachtende, stellt sich in der Erkenntnis-
kritik dar, die andere, nach der gegebenen Definition
unbewusste Denkbewegung gipfelt in philosophischen
Systembau.

Die Reihe derer, die begierig waren, die Formen
und Zusammenhänge des Daseins zu greifen, trennt
sich in die, welche ihre Kraft verwandten, sich zu
dieser Aufgabe zu prüfen, und in die, welche imstande
zu sein glaubten sie zu lösen.

Unter den Philosophen des Landes gewinnt die
indirekte, kritische Anwendung der Erkenntnisfähigkeit,
das Bedenken des Denkens, mit Kant ein grosses
Uebergewicht, dessen Nachwirkung das ganze vorige
Jahrhundert bis zur Gegenwart hindurch tätig war.
Zuerst, weit zuerst, ist das Denken selber das Thema
Kants und dahinter, erst indirekt, im Nebel, tauchen
die eigentlichen Daten auf, welche die geistige Tätig-
keit bewältigen sollte. Neben einem energischen, bis
in die subtilste Begriffskasuistik hinein durchgespon-
nenen und aufgetrennten Gewebe der inhaltlosen
Formen des Denkens steht eine ungleich schwächere
und mattere Betrachtung der direkten Objekte des
Denkens. Ob zu recht oder unrecht steht nicht in
Frage. Auf Kant folgt eine gewisse Reaktion gegen
diese Ausübung des Denkens mit zu schwachen Mitteln,
um den allmächtigen Begriffsherrscher zu überwinden.
Das unterdrückte direkte Denken bricht in mitunter
ziemlich erbarmungswürdiger Gestalt in der Naturphilo-
sophie hervor. Die in der Geschichte des Geistes an-
dauernden Revolutionen und Gegenrevolutionen, Unter-
revolutionen und Gegenunterrevolutionen arbeiten weiter.
Weitaus kraftvoller als seine Vorgänger tritt Schopen-
hauer dem indirekten Denken gegenüber. Viel wuchtiger
ist bei ihm die Erfassung der Welt, des Gapzen als
Wille und Vorstellung, und nichts fühlt man deutlicher,
als dass hier leidenschaftlicher, direkter als seit langem
eine endgültige Erfassung der Probleme angegriffen
wird.

Von hier aus nun steigt die Periode zu einem
Non-plus-ultra des Gegensatzes zu Kant, zu einer be-
täubenden Explosion des direkten Denkens, zu Fried-
rich Nietzsche.

Hier ist das Denken wieder geworden, was es im
Anbeginn gewesen sein mag — ein Sinn. Ein Sinn, in
allem bis ins letze, seiner selbst unbewusst, nach den Ge-
setzen seines Baues das Gegenständliche einsaugend.
Alle Gedanken fluten nah wie die Emfindungen der
Sinne, angefüllt mit Realität. In reinster Einheit trifft
die Macht der Seele gegen alle Dinge — und z u m
ersten Male.

Es ist ein erstes Begegnen zwischen Denken und
Dingen, ein erstmaliges erbebendes Erstaunen, denn
alles ist neu, anders und seltsam. Eben wie die Sinne,
lebt und arbeitet das Denken n i c h t auf Geheiss
eines bewussten Willens sondern auf Geheiss eines un-
bewussten. Und hier ist die letzte Grenze des Rätseis.
dessen stummes fragendes Aussen in dem Geiste Nietzsches
sichbarer als irgend sonst aus dem Schatten tritt. Diese
letzte Sichbarkeit ist: Das Denken denkt nicht auf be-
wussten Willen, sondern es strömt aus einem Unter-
bewusstsein, es ist unwillkürlich, da, wo es sich
zum Grössten entfaltet.

„ I c h “ sagst Du und bist stolz auf dies Wort. Aber
„das Grössere ist, woran du nicht glauben willst
„Dein Leib und seine grosse Vernunft.

„Die sagt nicht Ich, aber tut Ich.

„Werkzeuge sind Sinne und Geist: hinter ihnen
„liegt noch das Selbst. Das Selbst sucht auch mit
„den Augen der ,Sinne, es horcht auch mit den
„Ohren des Geistes

„Es herrscht und ist auch des Ichs Beherrscher.
„Hinter Deinen Gedanken und Gefühlen steht ein
„mächtiger Gebieter, ein unbekannter Weiser —
„Der heisst Selbst.

„Das Selbst sagt zum Ich: „Hier fühle Schmerz“
„Und da leidet es und denkt nach, wie es nicht
„mehr leide — und eben dazu soll es denken.
„Das Selbst sagt zum Ich: „Hier fühle Lust.“
„Und da freut es sich und denkt nach, wie es
„noch oft sich freue und eben dazu soll es denken.“

Jetzt nimmt der Gegensatz zwischen direktem und
indirektem, kritischem, selbstbetrachendem Denken andere

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