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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 13 (Mai 1910)
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Leppin, Paul: Daniel Jesus, [4]: Roman
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Lasker-Schüler, Else: Gedichte
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Stoessl, Otto: Die Schwestern Wiesenthal
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0103

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?jcht des Schreibers Josef hinein, der zwischen
9> rnen und Kupplern mit der seidnen Rosa tanzte.
Sie befanden sich tief unter der Erde in einem ver-
'nfenen Wein- und Schnapskeller, gerade in dem-
s&Iben Hause, wo Schuster Anton wohnte. Wenn
fban ein wenig hinaustrat aus dem niedrigen Raum,
ln dem der Petroleumdampf zwischen den
Sthreienden Menschen wie eine gelbe Mauer stand.
^onnte man im Finstern die feuchte Treppe sehn.
äie hoch hinauf bis zu Schuster Antons Türe führte.
Anton war nicht zu Hause. Er war mit einer Schar
yon Betern in ein Dorf gegangen, wo ein Mädchen
ieden Tag die Mutter Gottes sah. Das Mädchen
•nußte er sprechen, und noch in der Nacht waren
hie Männer aufgebrochen, es zu suchen.

Frau Margarete lag allein zu Bett im Dunkeln
!|nd rang mit ihrem Leib. Ihre Hände hatten
eiserne Kruzifix, das sie umklammerten,
heinahe gliihend gemacht, und wie damals, als sie
neben ihrem Mann in der Stube das Marienlied
sang, rief sie in der Marter des Streites nach Gott.
Ünd ihre Brust war heiß und naß vom Schweiße der
^ngst. Sie fürchtete sich vor der Sünde, die alle
hie Jahre neben ihr gestanden hatte und in ihre
üebete und in ihr Tun die gliihende Asche des Un-
fEedens blies. Immer hatte sie gesiegt, und Anton,
*hr Mann, stiitzte ihren Arm, wenn sie schwankte
l,nd den Weg nicht mehr vor Augen sah. Und nun
yollte sie erliegen? Wo sie alt geworden war und
'hr Sohn schon fast vierundzwanzig Jahre zählte!
ihr Sohn! — Sie schauderte. — 0 Gott, warum
hatte er sie so gestraft! Das war die Siinde, die in
>hr fraß und ihren mächtigen Leib wie im Krampfe
•n die Höhe warf.

Frau Margarete horchte nach unten. Tief, tief
aus dem Keller kam es manchmal herauf wie der
O'urrende Atem eines Tieres. Oder der Ruf einer
^ioline, der keinen Ausweg fand aus den Mauern
^ies Hauses, floh schreckhaft und gehetzt die
^unkeln Treppen hinauf und fiel vor Frau Mar-
Karetens Bett wie ein müder Mensch zu Boden.
h*ort also hielt er sich jeden Abend auf. Er fand es
uicht der Mühe wert, seine Schande aus dem Hause
seiner Mutter zu tragen, und sie konnte das Keuchen
seiner Seele, für die sie in Qualen betete, aus Dunst
und Qualm bis in ihre Stube hören.

Und plötzlich schloß sie die Augen, und in der
schwarzen Finsternis des Abends wurde ihr Gesicht
^eiß wie ein Traum. Er, er war auch unten! Sie
hatte seinen Wagen vor dem Hause stehn sehn,
Und das Scharren der Hufe klang zu ihr. Daniel
■^esus! Mutter Maria! schrie es in ihr — hilf, hilf
Jhir vor der Sünde. Er ist ja ein Krüppel und
uäßlich wie sie, aber ich habe Furcht vor der Liebe
2u ihm, und niemand ist bei mir, der mir die Hand
Kibt in meiner Not.

*

Im Keller unten war die Trunkenheit tiber die
^enschen gekommen. Sie lachte und stürzte über
hie eignen Knie und blickte in die Fensterscheiben
U}it blöden, bunten und verglasten Augen, als suche
Sle etwas für ihre heimliche und verhaltne Wut.

Daniel Jesus sah dem berauschten Josef ins
Gesicht. Er hatte der seidnen Rosa das Mieder
Uufgenestelt und biß in ihre roten, verschwitzten
^Histe, während sie ihn kreischend von sich stieß.
^r sah den giftgrünen Stein an seinem Halse blinken
l!nd sah die versteckte, willenlose Gebärde seiner
^ugenlider und seinen ungebändigten, sinnlichen
Mund.

Das ist die letzte Stunde — dachte er und rief

Schreiber.

Du hast eine schöne Mutter, Josef, sagte er:

Ja, Herr, willst du sie haben, ich hole sie dir
— lallte der Trunkne.

Da ging es wie ein großes, zwingendes Erleben
"ber die Züge Daniels. Ein Aufatmen und ein Zu-
Sammenfallen von hundert alten und bleichen Ge-
^iynken. Im letzten Winkel seiner Seele hatte er
s>ch doch stets vor dem Schreiber geängstigt, den
er sich vielleicht für sein eignes Verhängnis be-
Fhtete, wie man sich einen tückischen Trank
’>>r den eignen Tod mischt. Aber nun war alles frei
^eworden in ihm. Jetzt wußte er, daß nichts mehr
d>e ErfüIIung aufhalten konnte. Ein stolzes Lächeln
verzog seinen Mund.

Geh, hole sie! sagte er. Sie schläft allein in
”> rem Bett. Ich will ihren Leib ohne Kleider sehn.

ihr das. Und wenn sie nicht gehorcht, so bring
s> e mit Gewalt. Ich will Dir ein Vermögen
yphenken. Aber sieh Dich vor: sie ist elne starke
prau.

Die Augen des Trunkenen wurden groß und
tief und ziellos wie die eines Blinden. Ein Zucken
ging durch seinen Körper und ein Schrei. Dann
fiog er die Treppe hinauf.

Und auf einmal, wie auf eine Gebärde, schwieg
die Musik. Die Instrumente krochen zusammen
und duckten sich. Die schwarze Carmen riß noch
einmal den Mund auf und fiel mit gespreizten Beinen
bewußtlos zur Erde.

Und mitten unter ihnen, fest und sicher wie ein
König, trotz seines Buckels, stand Daniel Jesus.

Eine Viertelstunde und noch mehr stand er
und schaute zur Tür: ein Kampf — dachte er.

Dann plötzlich, mitten in der Stille, in der selbst
die Petroleumlampen scheu erblaßten und lauschten,
kam es die Treppe herunter. Langsam und schwer
und hartnäckig und sinnlos. Wie eine plumpe,
klebrige Masse, die nicht von der Stelle will.

Die Tür sprang auf, weit und kreischend,
wie im Schreck, und herein kam Josef, die Haare
von Blut und Schweiß verklebt, eine zackige Wunde
iiber der ganzen Wange, aus der das Blut wie aus
einem zerbrochnen Gefäße floß.

An den Haaren hatte er seine nackte Mutter
gefaßt und warf sie Daniel Jesus zu Fiißen.

Da sprang sie auf. Mit schönem flammenden
Gesicht stand sie und das Haar umflocht ihren
Kopf wie eine rote Krone. Den mächtigen, nackten
Körper reckte sie und zeigte den Trunknen rings-
umher ihre herrliche, leuchtende Haut und die
Narben der Geburt, die ihren Leib zerrissen hatten.
Ihre Augen erstarben fast in ihrem großen Glanze,
als sie fragte: Wer hat das getan?

Eine weite, flüsternde Pause entstand, in der
die schwarze Carmen aufstöhnte und ihre rechte
Hand erhob.

Ich — sagte Daniel Jesus.

Da ging ein Schauer durch Frau Margaretens
Leib und ein unbarmherziger, schüttelnder Frost.

Und Daniel Jesus kniete nieder und küßte ihre
Fiiße und sagte dann:

Ich liebe Dich. Ich bin der Herr über Dein
Leben, denn ich weiß, daß auch Du mich Iiebst. Du
kannst nicht gegen mich streiten, ich bin stärker
als Du.

Sieben Tage will ich warten. Dann komm in
die Villa Jesus vor der Stadt, wenn es Abend ge-
worden ist. Komm, denn ich will es.

Qedichte

Von Else Lasker-Schüler

Nun schlummert meine Seele —

Der Sturm hat ihre Stämme gefällt
O, meine Seele war ein Wald.

Hast du mich weinen gehört?

Weil deine Augen bang geöffnet stehn.

Sterne streuen Nacht
In mein vergossenes Blut.

Nun schlummert meine Seele
Zagend auf Zehen.

0, meine Seele war ein Wald;

Palmen schatteten,

An den Aesten hing die Liebe.

Tröste meine Seele im Schlummer.

Ankunft

Ich bin am Ziel meines Herzens angelangt
Weiter führt kein Strahl.

Hinter mir laß ich die Welt

Fliegen die Sterne auf: Goldene Vögel.

Hißt der Mondturm die Dunkelheit —

. . . . 0, wie mich leise eine süße Weise betönt...
Aber meine Schultern heben sich, hochmütige

Kuppeln.

Die Schwestern
Wiesenthal

Von Otto Stoessl

Drei Schwestern tanzen. Zwei blütenjunge
Mädchen und ein Kind, dessen verträumtes Ge-
sicht noch vom Schlummer der ungeweckten Jahre

umfangen ist, indes die feinen Glieder in allen üe-
lenken schon erwacht, sich unter dem Ruf der Mu-
sik auf das anmutigste lösen und regen, noch nicht
bewußt, sondern gleichsam dem Beispiele der älte-
ren Schwestern gehorsam. Diese dritte tanzt noch
den bloßen Reigen, wie sich eben ein Kind in dem
Märchen seiner Existenz, wie in einem beginnen-
den Traume bewegt. Die zwei anderen aber tan-
zen eigenes Leben, Schicksal, Gestalten und ver-
körpern sinnvolle Kunst des Leibes, beherrscht von
inneren Impulsen, die nach dieser Darstellung ver-
langen als nach der Erlösung durch die Form.

Grete Wiesenthal tanzt wie der Genius der
Leidenschaft selbst, als schlügen aus ihrer Seele.
aus ihrem schmächtigen, schlanken und durch den
Rhythmus und Klang der Musik zugleich entfach-
ten und gebundenen Körper Flammen, deren Pracht
sie ausströmt, in deren Glut sie lebt, wie der Urgeist
des Elements.

Der Ruf der Musik entzündet den Glanz die-
ses Willens, der seinen starken, ktinstlerisch stren-
gen Instinkt wahrt und nicht wahllos sich dem Ge-
bot der Bewegung unterwirft. Sie gestaltet im
Tanz sich selbst, er ist der einzige Ausdruck einer
besonderen, dem eigenen Wesen mit tragischer
Größe und Qual hingegebenen Natur, von der Mu-
sik empfängt sie die ersehnte Stimme und Deu-
tung ihrer eigenen Seele und strahlt diese
wieder in den kühnen, einfachen, zuweilen
großartigen, beschwingten und geflügelten Schrit-
ten, in den sehnsüchtigen Bewegungen des zar-
testen Körpers, in den Armen, die wie Fittige sie
zu tragen scheinen und wie wortlose Rufe nach
dem Unfaßbaren jauchzen. Sie tanzt, sie erlebt
Beethovensche Allegretti. Es ist nicht zu fragen:
was meint sie, was sieht sie, was will sie bei die-
ser Musik? Auch der Tanz ist, wie die Musik,
sein Zwillingsgeschwister, kein begriffliches Werk,
er arbeitet nicht mit Gedanken, wenn er gleich eine
Welt von Gedanken erlöst und erweckt, er entbin-
det Vorstellungen nicht von begrenzter Deutlich-
keit, sondern von ahnender Fülle und schweben-
der Unsagbarkeit. Ebenso wird der Tanz auch
nicht von klaren Vorstellungen eingegeben, son-
dern von dunklen Trieben und vorschwebenden
Bildern, von der geheimnisvollen Rhythmik, des
Blutes, von dem Willen des ganzen flugbereitpn
und fähigen Körpers, der eine unendlich vielstim-
mige Musik in seinem Schweigen umfaßt, die durch
das Aufschimmern des Klanges von außen mit
einem Male mitzuschwingen, zu fragen, zu ant-
worten und zu wachsen beginnt wie eine Flamme.
Beethovens Allegretto: Musik, was sagst du, was
willst du, was weckst du und rufst du? Da ist
Sehnsucht über alle Worte, eine ungeheure Last
des Schicksals, die sich in Tönen entladet, wel-
che alle Tat und Untat des Menschenlebens zu
bergen und zu entsühnen scheinen, ohne die irdi-
sche Schwere der begrenzten Gedanken, der un-
durchdringlichen Tatsachen doch alles, was ge-
dacht werden kann und was geschehen mag, in
unsagbarer Fülle vervielfachen, in tiefster Einfalt
auf eine große, strahlende Einheit riickfiihren und
abklären, so daß eine Welt wie in das Kristali
eines erklingenden, umkreisenden, in sich zurück-
strömenden und beschlossenen Motivs gefaßt ist.
Diese Musik tanzt sie: sich selbst, Beethovens
Allegretto, eine Welt, eingeschlossen und ausge-
drückt in dem Kristall einer entfachten, ernst aus-
schreitenden, Ieidenschaftlich aufstürmenden, in
sich selbst und in den schließenden Rhythmus groß-
artig rückkehrenden Bewegung eines Körpers, der
Ziel und Mittel, Wille und Werkzeug, Seele und
Form dieses Kunstwerkes ist. Der Tanz ent-
flammt sich an dem großen reinen Feuer der Musik
und nimmt sie so auf, löst sie so völlig in seine
Kraft, daß sie in ihm vergeht, er ist selbst Musik
geworden. In gleicher Weise aber zieht die Glut
dieses Impulses auch alle Schönheit des Sichtbaren
in sich ein: die Farbe des Gewandes in seiner
launischen, dem Körper folgenden Bewegung, die
Linien des ruhenden, gemessen gehenden, verzückt
taumelnden, eilenden, fliehenden, sehnsüchtig schlei-
fenden, befreit sich schwingenden Leibes, der seh-
nigen, muskulösen, mageren, zugleich nach ge-
wissen Begriffen unschönen, nach denen künstle-
rischer Charakteristik jedoch wunderbar aus-
drucksvollen Beine, der zarten Arme, des Ge-
sichtes, der Haare. Und ein Spiel dreier Mächte
hebt an, welche in diesem tanzenden Leibe als in
einem triumphierenden Reigen vereint sind: Far-
bige Erscheinung, tönende Musik, seelische Bewe-
gung. Das ist das Geheimnis des Tanzes, dieser

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