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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 25 (August 1910)
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Laudon, R: Neben der Brüsseler Ausstellung, [2]
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Hiller, Kurt: Über Kultur, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0200

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Es sieht im Durchpassieren aus wie ein Wurf unbe-
schreibficher Qebilde, von Qebilden, eins häßlicher
und gleichgiltiger als das andere; aber hier baut
man eben nicht für den BetraChter. Welther Nord-
deutsche, insbesondere welther Berliner, sucht sich
denn ein Haus aus; in den feineren Vierteln pflegt
man wohf mit großem Halloh Innendekoration und
Außendekoration; aber im tiefsten Herzensgrunde
gilt das auch hier als Schunk und ist von weit her
importiert. Der Berliner Schönheitssinn erschöpft
sich in primitiver Reiniichkeit, und der einzige an-
anerkannte Kunstgegenstand ist der Sprengwagen.
Dafür ist typisdh die erste Wendung eines Berliners
in irgend einer altertümliChen Stadt, — daß sie
dreckig sei; mit der vorbildlichen Kanalisation be-
ginnt und endet die norddeutsche Kunstbemühung.
Ich spreche nicht von dem „Qreuei der Siegesallee“;
zwar barbarisCh ist sie von A bis Z, aber: das ist
kein Freund Berlins, der betet, daß die nächste
Erdbebenwelle sich die Siegesallee herunterlangen
möge; mit einem einzigen Blick haben Sie hier
ganz Berlin, wie in einem Konzertprogramm, gefaßt:
der saubere weiße Marmor, der Schutzmann, die
umgitterte Sitzbank, der sechsunddreißigfache Pa-
triotismus, die optische Unmöglichkeit.

Als iCh das unbeschreibliche Straßenbild Brüs-
sels zum ersten Male in miCh aufnahm, die Brücken,
Plätze, Denkmäler, Avenuen, hätte ich diese Wirk-
lichkeit nicht für möglich gehalten; es war zum
Weinen, — so .geistreich, frei, verwegen und lieb-
liches sah ich hier. Ludwig Hoffmann, das Ber-
liner Qenie, stand mir noch grau in grau vor Augen.
Seine fanatisehe Schlichtheit, die nichts verraten will,
die sich zurückzuhalten scheint, und doch, wie der
BetraChter bald merkt, nur wenig zurückzuhalten
hat; der Mann be!ei:Ügt niC! t unci niemals 1, — ier wagt
es niCht; es ist sein Qenie, daß er nicht und niemals
auf die Nerven f.ällt. Er markiert aufdringlich guten
GesChmack. Aber so wenig roh er ist, so wenig läßt
er von den himmlischen und stolzen Möglichkeiten
der Baukunst ahnen. Er macht kluge, gebildete
Bauten, von rationalistischer Dumm- und Dürftig-
keit. Es ist die Kunst, die im Anzuge ist, sich ein
Land unterjoCht, und erst, wenn es sich gefügt hat,
ihm die hohen Freiheiten der Phantasie schenkt
Eine kleine niedliche Lyrik zwitschert hie und da in
Hoffmanns Werken; planvoll angebracht, täuscht
sie über große Mängel hinweg. Nüchtern, — aber
wahrhaft die Kunst eines militärischen Landes, hoffe
niemand, daß es bald anders wird; denn diese Kunst
ist die Schattenseite yon Deutschlands, Preußens
Militarismus, seiner Gewerbe- und Gelehrtenenergie,
und dieser Militarismus |und diese Energie wägt
alle Bauten der Nachbarländer auf. Wer morgens
um sechs Uhr durch Berlin die Riesenmassen Ar-
beiter in die Fabriken, Werkstätten sich wälzen sieht
und um zehn Uhr fast l'eere Straßen durchwandert,
glaubt Flammen aus diesen getünchten Häusern
sthlagen zu sehen, glaubt, daß diese rastlose zähe
Energie mit Schrecken und Neid alles überzieht,
was sich einer stolzen Vergangenheit erfreut. Was
scheren uns da Passantenkritiken?! —

Freilich, verschonen wir dies Land mit Kunst,
fühlen wir Freunde der Kunst uns weiter als Aus-
länder! Und so wanderte ich mit heimatlichem Ver-
gnügen durch die Straßen von Brüssel, Antwerpen,
Oent, saß am Strande von Ostende. Ein schöner
eitler MensChenschlag war da zu sehen; besonders
Antwerpen ließ so leidht den Wohnort Rubens
erraten: die prallen, saftigen Dirnen, die muskulösen
Männer. Jedes Dienstmädchen trägt ihren wollenen
Shawl mit größerer Qrazie als ein Berliner Fräulein
den seidensten Theatermantei. Man ist hier früh-
reif; ganz junge Dinger tragen frisierte Köpfe und
blicken frech; ein Tag Aufenthalt genügt, um sich zu
überzeugen, daß die sexuelle Atmosphäre hier freier
weht als im guten Preußen. Auch sah ich in den Be-
dürfnisanstalten keine Kreidezeichnungen und In-
schriften, die mich über die nationale Erotik auf-
klären könnten. Ein breites öffentliches Leben war
zu beobachten, gefüllte Cafes, gefüllte Straßen; viel
Lärm, viel Bewegung; größere Kommunikation von
Mensch zu Mensch; das politische Tier bellte ver-
nehmlich. Abends sammelten sich in Antwerpen
Massen auf den freien Plätzen; gute Musikkapellen
spielten anständige Musik, die schleimige Tonsuppe,
die man uns vorsetzt, wird hier nicht goutiert, nur
in Cafes verurteilt teChnische Unfähigkeit die Musi-
kanten zu Wiener Walzern. Aber alles und jedes
wmrde in mir aufgewogen durch die Freude über die
Anmut und den Geschmack der belgischen Frauen.

Es erübrigt sich, hier noch einen Rückblick auf
die fabelhafte Qeschmacklosigkeit der Berlinerin zu
werfen; „Geschtnacklbsigkeit“, das heißt nicht:
„schlechter Qeschmack“, sondern „gar kein Qe-
schmack“. So wenig Sinn der städtebauende Ber-
iiner für die Optik der Straßen 1 hat, so wenig eben
die Berlinerin für die Optik ihres Körpers. Besten-
falls gehit sie ä la Hoffmann grau in grau; ent-
setzlich, wenn sie mehr, über ihre Kraft, will. Vor-
bildlich müssen hier noch die öffentlichen Damen
vvirken, deren Tracht allmählich das größere Bürger-
publikum annimmt; auf diesem Umweg kommt
Paris nach Berlin. Man erkennt in Berlin auf einen
Blick das Bürgermädchen: wuschliges Haar,
plumpes Zeug, schlechtes Schuhwerk, — von den
sichtbaren Dessous ganz ;zu schweigen. Hier im
Ausland beschämt eine niedrige Flämin sie alle.
Was sind die Mädchenhändler aus der Grenadier-
straße für schlechte Kaufleute! Aus Berlin expor-
tieren sie Mädchenware für das Ausland: das ist
dem Ausland ganz recht und für Berlin nur ange-
nehm. Aber warum zieht niemand Ausländerinnen,
Französinnen, Däninnen, Belgierinnen zu uns her,
warum kommen sie so wenig, so wenig zu uns?
Was sind die großen Warenhäuser und Modefirmen
gedankenlos! Alle schönen und großen Kostume
französischer und belgischer Damenkonfektion
tragen auf der Ausstellung das Schildchen: ver-
kauft an Gerson, Wertheim. Aber vergeblich suchte
icli auf der Straße an den söhönen und preiswerten
Damen ein Schildchen: verkauft nach Berlin. Was
nützen doch aHe Kostüme, meine blinden Herren
Konfektionäre, wenn niemand da ist, der sie trägt,
der zeigt, wie man sie trägt, und was sie aus
der Trägerin machen? Diese Kostüme, das sehen
Sie nicht, sind geboren aus dem Bemühen, die
Qrazie des Frauenkörpers aufs sichtbarste hervor-
treten zu lässen und zu steigern: wo aber ist die
Berliner Qrazie, welche diese Kostüme hervortreten
lassen könnte? Sinnlos, plump sind all diese wahr-
haft herrlichen Kunstwerke, so lange sich nicht die
geborenen Trägerinnen für sie finden lassen, und
Sie werden auch nicht recht dabei reüssieren. Wollen
Sie ein Qeschäft machen, so arbeiten Sie mit uns
mit an der künstlerischen Bildung, arbeiten Sie auf
Ihre Weise! Setzen Sie sich in Verbindung mit den
Nachfolgern des Herrn Kiwi Eierweiß aus der Gre-
nadierstraße (G. m. b. H.), lässen Sie hundert
Dämchen aus Paris und Brüssel in Berlin auf-
tauchen, treiben Sie sie systematisch durch die be-
lebten Straßen, die Vergnügungsstätten. Sie vverden
eine Erregung bei allen jungen Männern explosions-
artig sich entwickeln sehen, die lebhafter ablaufen
wird alS bei einer politischen Katastrophe, Sie
werden die eifersüchtigen iBlicke der betroffenen
Damen wie in einem Brennspiege! konzentriert auf
lhre Importware gerichtet sehen; man wird auf
ihr LäCheln, ihre Bewegungen und ihre Worte lau-
schen. Man wird naCh knapp einer Woche auch jene
Kostüme massenhaft und en gros kaufen, die Sie,
meine blinden, nunmehr erleuChteten Herren Kon-
fektionäre, mit jenen Kulturträgerinnen zusämmen
in weiser Vorsorge, in billigen Baumwollstoffen,
aus Paris bezogen haben.

Aber ich sehe, Sie lachen, Sie sind entrüstet.
Sie häben auch Recht: Berlin ist niCht zu helfen.
Machen Sie bitte die Bude zu!

Über Kultur

Von Kurt HUler

II

„Bildung“, wie wir das Wort gemeinhin heute
verstehen, ist freilich etwas höchst Oedes und Un-
humanistisches; es ist ein Unterbegriff von Viel-
wisserei; so wie Gelehrsamkeit ein Unterbegriff
von Vielwisserei ist. Gelehrsamkeit und Bildung —
zwei Tugenden, die nicht dem intellektuellen und
nicht dem ästhetischen Vermögen, sondern dem Qe-
dächtnis, dem FlCiß und der Ausdauer, zumal der
Sitzausdauer, der Gesäßigkeit, zuzuschreiben sind;
Qetehrsämkeit mehr auf das geordnete Spezial-
wissen, das Kennerische, die esoterische Mikrolögie
gehend — Bildung mehr auf die Gesämtheit der
Erfahrbarkeiten, das allgemein Menschliche und die
ungeordneten Gegenstände mittelguter Konversation.

Was man heute unter einem „gebildeten Men-
schen versteht, das ist Cin Wesen, das sich eine
erkleckliche Fülle von Kenntnissen, namentlich histo-

rischen, neuerdings auch naturwissenschaftlich-tech
nisChen, einverteibt hat (Kenntnissen, die nicht etwi
sein Beruf erfordert); ein Wesen, das ganze Säck»
von Daten und Anekdoten und Tatsachen und Ge
schehnissen und Interessantheiten, ganze Wagen
lädungen von Quisquilien verschluckt hat und nut
von Posivitäten förmlich berstet. „Der modern*
Mensch“, sagt Friedrich Nietzsche in seiner zweitel
Unzeitgemäßen Betrachtung, „schleppt zuletzt einf
ungeheure Menge von unverdaulichen Wissens 1
steinen mit sich herum, die dann bei Gelegenhel
auch ordentlich im Leibe rumpeln, vvie esj iin Märchet 1
heißt. Durch dieses Rumpeln verrät sich die eigensü
Eigenschaft dieses modernen Menschen: der merk'
würdige Gegensatz eines Inneren, dem keit>
Aeußeres, eines Aeußeren, dem kein Inneres ent'
spricht, ein Gegensatz, den die alten Völker nich’
kennen. Das Wissen, das im Uebermaße ohn £
Hunger, ja vvider das Bedürfnis aufgenommen wirdi
wirkt jetzt nicht mehr aIs umgestaltendes, nad 1
außen treibendes Motiv und bleibt in einer gewisset 1
chaotischen Innenwelt verborgen, die jener modern e
Mensch mit seltsamem Stolze als die ihm eigeii'
tümliche „Innerlichkeit“ bezeichnet. Man sagt danf
wohl, daß man den Inhalt habe und daß es' nur af
der Form fehle; aber bei allem Lebendigen ist d ie- ;
ein ganz ungehöriger Gegensatz. Unsere modern*
Biidung ist eben deshaib nichts Lebendiges, weij
sie ohne jenen Gegensatz sich gar nicht begreifef
läßt, das heißt: sie ist gar keine wirkliche Bildung»
sondern nur eine Art Wissen um die Bildung, e’
bleibt in ihr bei dem Bildungsgedanken, bei deü 1
Bildungs-Gefühl, es wird kein Bildungs-EntsChlu^
daraus. Das dagegen, was wirkiich Motiv ist un^
was ate Tat sichtbar nach außen tritt, bedeute*
dann oft nicht viel mehr als eine gleichgültige Koä'
vention, eine kliägliche Nachahmung oder selbst ein e
rohe Fratze. Im Inneren ruht dann wohl die Empfifl'
dung, jener Schlange gleich, die ganze Kaninchet 1
verschluckt hat und sich dann still gefaßt in di e
Sonne tegt und alle Bewegungen, außer den notweü'
digsten, vermeidet. Der innere Prozeß, das ist jetP
die Sache selbst, das ist die eigentliche „Bildung“ 1

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Jeder, der vorübergeht, hat nur den einen Wunsch
daß eine solChe Bildung nicht an Unverdaulichkei
zu Grunde gehe. Denke man sich zum BeispR'
einen Griechen an einer solchen Bildung vorüber'
gehend, er würde wahrnehmen, daß für die neuerei’
Menschen „gebildet“ und „historisch gebildet“
zusammenzugehören scheinen, als ob sie Eins un«
nur durch die Zahl der Worte verschieden wärei 1
Spräche er nun seinen Satz aus: es kann eine*
sehr gebildet und doch historisch gar nicht gebilde 1
sein, so würde man gläuben, gar nicht rechtgehöf 1
zu haben, und den Kopf schütteln. Jenes bekannt e
Völkchen einer nicht zu fernen Vergangenheit, 0
meine eben die Griechen, hatte sich in der Period e
seiner größten Kraft einen unhistorischen Sinn zä'
bevvahrt; müßte ein zeitgemäßer Mensch in jeiä
Welt durch Verzauberung zurückkehren, er würd e
vermutlich die Griechen „sehr ungebildet“ befindel’i
vvomit dann freiliCh das so peinlich verhüllte G e'
heimnis der modernen Bildung zu öffentlichem O e
lächter aufgedeckt wäre: denn aus uns haben vv'ij
Modernen gar nichts; nur dadurch, daß wir uns lü 1
fremden Zeiten, Sitten, Künsten, Philosophieen, R e'j
ligionen und Erkenntnissen anfüllen und überfüllei 1';
werden wir zu etwas BeaChtungswertem, nämW
zu wandelnden Encyklopädien, als welche uns vie*
leicht ein in unsere Zeit verschlagener Alt-Hellei^,
ansprechen würde. Bei Encyklbpädien findet
aber allen Wert nur in dem, was darin steht, i 1* 1
Inhalte, nicht in dem, was' darauf steht oder vvf 5
Einband und Schale ist; und so ist die gan^
moderne Bildung wesentlich innerlich: auswend 1?
hat der Buchbinder so etvvas darauf gedruckt
„Handbuch innerlicher Bildung für äußerliche Bs*
baren“...“

„Bildung“, nach heutigem Wortgebrauch, lS
nichts anderes als totes, unorganisch zusammc'J
gehäuftes Wissen. Das lügnerische Sprichwort sa0|j
daß Wissen Macht sei. Niemand hat so einleuchte^
wie der erhabene NietzsChe — im weiteren
laufe der zweiten Unzeitgemäßen — dargetan, f.
wiefern Wissen zur Ohnmacht wird; wie ein Gel 5' 1
der nur immer dahin tendiert, Tatsächlichkeiten 1
sich zu saugen, in seiner Selbstherrlichkeit e,
schlaffen und der schöpferischen Potenz verlus^|
gehen muß. Wodurch beispielsvveise erklärt si cf
die ungläubliche philosophische Sterilität unsef^
Tage? Wahrhaftig nur aus dem Positivism 11
 
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