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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 9 (April 1910)
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Stoessl, Otto: Die Hackinger Allee
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Döblin, Alfred: Gespräche mit Kalypso, [5]: Ueber die Musik
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0071

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Seiegentlich die Menge der Naturdinge scheinbar
einzuschließen und in einem gesammelten Anblick
^em Qenusse darzubieten. Aus einem solchen un-
wülktirlichen Trieb mag auch die Pflanzung dieser
Allee hervorgegangen sein, denn nicht nur der
Schatten der hundertjährigen Kastanien und der be-
üeutende Anblick ihrer Reihe, sondern die, wie aus
einer griinen Halle gewonnenen Bilder der um-
kebenden Landschaft machen den Zauber dieser
Straße aus.

Zu ihrer Linken dehnt sich in einiger, von Rasen
oesetzter Entfernung die niedrige graue Tiergarten-
^auer, iiber welche man lefcht hinausblickt und
üas eingehegte Qebiet wohl iiberschaut: eine unbe-
rührte frische Qegend, voli unbekannter Hiigel, von
altem und jungem Wald bestanden, teilweis ge-
•'chtet, in der W'egmitte sich weit öffnend zu einem
Srünen sanft abfallenden Wiesenhange. wohin als
zum gemeinsamen Futterplatze täglich die gehegten
^iere hinaustreten: Hirsche. Rehe und breite.
üaherstampfende Wildschweinfamilien. Am Abend
>st der ganze Raum von den zutraulichen Rudein
erffi!lt und still belebt.

Man sieht die Tiere unbekiimmert. scheinbar
e>ns vom andern nichts wissend, noch begehrend,
' veiden, folgt allen ihren Bewegungen, wie die Rehe
l’csonnen ausschreiten. zierlich verweilen. den
schönen Kopf zu Boden senken, wieder spiirend er-
üeben, in die klare Luft ausschauen, mit kurzen
Sprüngen enteilen und wüederkehren. Und an
^ühlen, früh dunkelnden Herbstabenden vernimmt
Ufan nicht ohne einen gewissen Schauer das in-
briinstige Röhren der Hirsche, das mächtig durch
üie Ruhe der Dämmerung hallt: der Notschrei der
Ifreatur, die sonst schweigt und duldet, bis einmal
ljnd nicht für lange Taumei und Qlück, Freiheit und
Qual Ihres Daseins sich mächtig entladen.

Zur Rechten der Allee zieht, früher eine wild-
gewachscne feuchte Au, das sorgfältig geweitete
hnd ausgebaute Bett der Wien mit seinen reiu-
l'chen Zementanlagen, jenseits führt das Qeleise der
Westbahn brausende Eisenbahnzüge vorbei, deren
Rollen und Stampfen gedämpft herüberdringt, deren
^ampf, nächtliche Lichter und lange Leiber ohne-
'veiters Wundertieren zu gehören scheinen, die
uus der Ferne in die Ferne tauchen und jezuweilen
'e Pfiffe auch wie Notschreie gejagter Fabelwesen

lassen.

jgen Westen schließen blaue Höhen das Tal

I in der Abendsonne liegt friedlich und anmut-
Kirche von Mariabrunn in einem heiteren,
t und lichten Landgebiete.

Schlendern. das kein Ziel kennt, als die
Aliee selbst, keine Sehnsucht weiter, als den Qenuß
ües Verweilens, sieht man indesser. von all den Aus-
^licken ab und schaut die Halle dieser zusammen-
^chließenden Wipfel hinauf, den gleichmäßigen
üunklen Säulengang dieser runden breiten Stämme
eutlang und faßt woh! einen einzelnen ins Auge, der
aHein wieder eine ganze Welt für sich ausmacht
Ueben all seinen Qenossen, kein totes Stück Stein
! n einem gemauerten, sondern ein atmendes Wesen
'u einem gewachsenen Qewölbe. Wahrlich, jeder
üieser Bäume voll selbstverständlicher Qroßheit,
ruhigen Selbstgenügens ist eine Welt. oder doch ein
Qleichnis ihrer Fülle, Einfalt, ihres Sinnreichtum«,
üer Erhabenheit wird. Wie ehrwiirdig scheint im
^rilhjahr. in den feuchten, farbigen verheißiings-
VoIIen Tagen die Qewalt dieser greisen Formen.
üie sich zugleich demütig und würdig mit den weiten
Aesten fast bis zur Erde niederbeugen, während die
iungen Säfte in die äußersten Spitzen steigen. die
Jv'aunwolligen, glänzenden Knospen bis zum
^ersten füllen, die Iichten sich auswickelnden
^lätter mit jubelnder Unzahl. und wie ein mystisches
^eheimnis ewiger Wiederkunft die fleisch- und
hurpurfarbenen Blütensträuße entwachsen lassen.
üerer jeder selbst einem krönenden Bäumchen
^leicht. wie er auch Ziel und Zukunft: die dauernde
'lnendlichkeit seines Qeschlechts strahlend aus-
ürlickt.

Ein Regentag macht die dienende Weisheit
,edes dieser Bäume offenbar: denn jedes Blatt
heigt sich hinab und die sieben an einem Stiele biiden
einen offenen Schirm. Von den obersten Teilen
ües Wipfels fließt das Wasser gleichsam über viele
”Iattdächer gegen den Umfang der Krone, um erst
Von deren Rand zu Boden zu tropfen. In einem
VfPiten Kreis sammelt es sich um den Stamni und
s,ckert mählich unter die Erde, wo diu feinen Wür-
ZeIchen einen ebenso w’eiten Umkreis mit ährem
2 efiecht beschreiben, das vom Wasser ernährt.
"mpfangenes in Saft und Qestalt verwandelt und

an das Licht emportreibt. Und dieses Bäum-
geschöpf ist wieder Herberge ailerhand Qetiers,
seine gefleckten Blüten sind von Bienen und Hum-
meln umschwärmt, die hineintauchen und Qewinn
suchend wieder Qewinn bringen: Die Befruchtung
und damit die Erhaltung und Erneuerung. So dient
ein Leben dem anderen, und eines Daseins Glück ist
Dienstbarkeit einem höheren Qanzen gegenüber.
An einem solchen Baume wird das Auf- und Nieder-
steigen alles elementaren Daseins, aller unwill-
kürlichen Ordnung sichtbar: eine Himmelsleiter
vom braunen Erdboden zur blauen Luft, vom ab-
fließenden Regentropfen zum aufsteigenden Saft-
strom, und man begreift wohl, daß die Völker in
ihren Urzeiten, wo sie selber in Wäldern tind an
Strömen wild wuchsen, in einem Urbaume das
Gleichnis der lebendigen Welt erblickten, die
zwischen Wurzel und Krone in aller Vielgestalt und
Möglichkeit beschlossen schien.

Durch diese rauschende Säulenhalle geht nun der
Strom des täglichen Lebens, selbst in so unmittel-
barer Beziehung zu diesen Bäumen, wie Luft.
Vögel, Bienen, Regen und Wind: schön gebaute
Wagen, knatternde Automobile, wandernde Fuß-
gänger, junge Frauen mit ihren Kindern, die im
Schatten spielen, alte Männer mit grauen Haaren
und sachtem Qang — die Säulenhallen sind eben
den Greisen am willkommensten, sie genießen den
gegebenen Tag als freundliches Qeschenk — und
abends natürlich Liebende.

Immer suchen zwei Wesen den Schatten, darin
ein kurzes Qliick, eine ganze Sehnsucht, ein volles
Herz zu bergen, denn das Qefühl, das zwei Qe-
schöpfe über sich selbst hinaus zum überwallenden
Triebe der Gattung hebt, begehrt mit jener ur-
sprünglichen Keuschheit, die der schaffenden Natur
eigen ist: das Dunkel. die Stille und die Einsamkeit
als Schutz.

So antwortet das leise Flüstern und glückliche
Lachen der Liebenden dem Summen der Bienen in
den Aesten und dem lauteren Rauschen der BiäFer;
unter einem grünen Dache ist so der ganze Um-
kreis des waltenden und zugleich dienenden, des
selbstsüchtigen, eigenwiliigen und doch von einer
größeren Qesamtheit ganz umfaßten Daseins ge-
schlossen. Indem man in die Weite durchblickt,
weilt nian in scheinbar begrenztem Raume in einer
purpurnen Unendlichkeit, man glaubt in einem
Durchgang zu stehen, dessen Anfang und Ende erst
das Ziel zeigt, indessen ist er es selbst, nicht der
Morgen und Abend, nicht das Kommende, sondern
das allgegenwärtige, Sonnbeglänzte, grünschattende
Dasein jedes wandernden Tages ist unser aller Auf-
enthalt und Ziel. Ueber den Bäumen gehen die
ieichten und schweren Wolken, die Farben des
wechselnden Himmels vorüber, die dunkelblaue
Nacht schlägt ihre golddurchblitzten Fltigel auf und
ruht, und der volle Mond fälit und steigt wie ein
silberner Taler durch die Zweige. Ein verlorner
Vogelruf ängstet durch die Stille, drüben braust eiti
Zug vorbei, die Schritte eines späten Fußgängers
hallen nach. Wo sind unsere Ziele! Wohl uns, wenn
unser aller Wanderschaft zeitlebens so schön, so
ruhevoll ginge und sanft in den vertrauten Schatten
tauchte!

Qespräche mit Kalypso

Ueber die Musik

Von Alfred Döblin

Funftes Gespräch : Die Fischpredigt / Von der
Tonieiter

(Der Musiker am Strande, allein. Es ist morgens.)
Ich weiß nicht, was sie jetzt schaffen mag, ob sie
betet, singt, oder im Arm eines ihrer sonderbaren
Freunde liegt. Sie ist zwar göttlich, aber sie ist
ein Weib, und ich — ich fange an, alles Mensch-
liche von mir abzulegen; die Unsterbliche färbt
auf mich ab. Ich bebe nicht, doch ich singe, pfeife
und liege, wenn ich mag, im Sand. Ich spiele ihren
Hofnarren und Verlustierer. Was nützt aucii das
Qreinen! Ich stelle mich sachi und fest auf meine
zwei Beine und erwarte, wie ein alter Mann, das
Ende.

Lieben Fische, scid gut zu mir, laßt uns die ietzte Zeit
mit cinander vertreiben. Ein neuer, sehr unheiliger
Antonius, will ich Euch predigen. Ihr seid taub
und stumm; herzüch gewogen bin ich Euch. Ihr
seid ja Fleisch von meinem Fleisch, Blut von mei-

nem Blut, denn Ihr habt meine Freunde gefressen.
Ich weiß, Ihr liebt mich nicht, weil ich Euch ent-
gangen bin, und war doch so schmackhait, wie
Kalypso findet. Nun, ich will mir Eure Liebe er-
werben, indem ich zu Euch rede, von Dingen, die
Euer Innerstes treffen; zu Euren Fischherzen rede
ich von dem Zusammenhang der Töne. Ihr seid
taub und stumm; Euch sage ich etwas Neues, Be-
fremdliches, innig Rührendes.

Ein Ton, seht, das ist vieles auf einmal. Ich will
Euch nicht sagen, wie er zu den Dingen steht. —
denn das weiß nur Kalypso. Aber er ist eine be-
stimmte Höhe, eine bestimmte Stärke, von einem
bestimmten Stoffklang, von einer bestimmten
Länge. Vielleicht weiß einer unter Euch noch
etwas. Ihr mögt mich unterbreehen, denn ich er-
trage ruhig jeden Widerspruch von Euch, meine
Freunde und Totengräber. Was eine bestimmte
Länge, eine bestimmte Stärke ist, wißt Ihr. Ich
kann Euch aber nicht sagen, was eine Höhe und
Stoffkiang ist — und so habt Ihr zu staunen.
„Was ist blau“? — Und solch Unbeschreibüches
sind auch die Töne. Da- sperrt Ihr die Mäuler auf;
ja lauscht meiner Märe, werft Eure Beschränkt-
heit von Euch, geht in Euch! Ach, in Euch. da
ruhen meine Freunde; grüßt sie auch herzlich,
wenn Ihr sie trefft.

Dies melde ich von einem Ton; ganz anders steht
es mit zweien und vielen. Ein Ton, ein Pfiff hängt
einen Augenblick lang in der Luft, stürzt im Mo-
ment haltlos, wie getroffen zur Erde. Doch sind
viele, so beginnt der Reigen der Töne, und wie der
Ton aufhört, hebt schon der nächste an, folgt der
dritte, und so drängen sie sich und schlüpfen eng
beieinander, daß des Steigens und Sinkens kein
Ende ist, und ein Strömen entsteht, ein sicheres
Fliegen. Was bindet die Töne an einander, die vie-
!en Töne, wie kommen sie zusammen? Denn sie
folgen nicht fremd aufeinander, sonst würde jeder.
wie der einzelne, ohne Halt ieblos zur Erde stürzen.
Ich frage nach der Ordnung und Fesselung der
Töne, die den Namen Musik führt. Wenn ich davon
sprach, wie lebensnah dieses tönende Ab und Auf
sei, wie es sich fast gebärde als Auftakt der Schöp-
fung, so stelle ich die bestimmte Frage, die Vor-
frage: was reiht die Töne aneinander? Wie werden
Töne zu Musik? —

Es gibt Bilder und Vorbilder des Zusammen-
hanges in der Zeit. Das Leben selbst tritt macht-
voll hervor. Die Zeit, die Bewegung, das Werden
kommt nicht von außen zu den Dingen hinzu; kein
Punkt im Dasein, keine Gegenwart Iäßt sich ver-
einzeln. Die Qegenwart ist unvollständig, die
Dinge sind lebendig. Das Wirken und Verursachen
drängt niemand den Dingen auf. Es ist die Wirk-
samkeit und Ursächüchkeit dem Wesen der Dinge
so wenig fremd, daß das Wesen sich vielmehr erst
im Ablauf erweiät, die Beziehungen es bestimmen.
Darum darf ich jener Lehre lachen, die von der Un-
freiheit in der Welt, von Zwang und Notwendig-
keit spricht. Das Wesen bestimmt sich in den
zeitlichen Beziehungen, in Ursachen und Wir-
kungen, wird nicht bestimmt. Niemand tut uns
Gewalt an; von Ewigkeit her sind wir davor ge-
schützt. Nichts kann uns geschehen. Wie soll
ich trennen: Leiden und Tun? Schneüzüngige
meinen, eins zwinge das andere, töte es, be-
reichere sich. Ich habe schon viele Menschen,
Tiere und Pflanzen welken sehn; aber war ihr
Vergehen etwas anderes als eine Lebensweise?
Der Tod ist eine Lebensäußerung, nicht unterschie-
den von jeder früheren, von Essen, Springen,
Lachen. Ich leide Tod? Ich tue Tod. Aber diese
Worte haben Schnellzüngige erfunden. Es gibt nur
ein Qeschehen. Keins greift in die Sphäre des an-
dern störend ein; nichts ist, jedes erweist sich
erst. Sie laufen alle giatt wie geölte Scheiben
nebeneinander. Das „Qrößte“ und „Kleinste“ ist
gleich. Keine Sklaven leben und keine Herren. Es
gibt keiiie Macht über das Andere, und deshalb gibt
es keinen Kampf in der Welt und keinen Frieden.
Denn wie soil Kampf und Frieden sein, zwischen
dem, was sich nie beriihrt; die Welt ist nicht auf-
zuhalten, sie ist nicht fertig, immer unwirklich; sie
wächst. Während ich hier stehe, lodert dic Welt,
eine grelle Brandfackel, durch alle Räume. —

Jedem zeitlichen Zusammenhang dient das
Lebm zum Vorbild. Doch wenn in der Welt die
Dirge sich selbst lebendig entwickeln, so nicht die
Töne in der Musik. Der Ton ist fertig, rund, glatt,
r.ufzuhalten; er klingt auf, vergeht, und ist spurlos
verschwunden; er ist satt, eine leblose Masse, weist
richt hin auf Vergangenheit noch Zukunft, hat

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