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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 4 (März 1910)
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Hardekopf, Ferdinand: Lob der Korruption
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Scheu, Robert: Bildung
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0029

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Einzelbezugi 10 Pfennig

^scheinungstag: Mittwoch

DERSTURM

WOCHENSCHRIFT FÜR KULTUR UND DIE KÜNSTE


R edaktion und Verlag: Berlin-Halensee, Katharinenstrasse 5
Fernsprecher Amt Wilmersdorf 3524. Anzeigen-Annahme
durch den Verlag und sämtliche Annoncen - Expeditionen


Herausgeber und Schriftleiter:

HERWARTH WALDEN


Vierteljahresbezug 1,25 Mark / Halbjahresbezug 2,50 Mark /
Jahresbezug 5,00 Mark / bei freier Zustellung / Insertions-
preis für die fünfgespaltene Nonpareillezeile 60 Pfennig

£RSTER JAHRGANG BERLIN/DONNERSTAG/DEN 24. MÄRZ 1910/WIEN NUMMER 4

J.^HALT: STEFAN WRONSKR Lob der Korrup-
/ ROBERT SCHEU: Bildung / KARL KRAUS:
pLELSE LASKER-SCHÜLER: Gedichte/ ADOLF
ANTZ: Die Hochzeit des Gilles de Rais / ROBERT
jWHEU: Karl Lueger / WILHELM ALTMANN:
erüner Zukunftsopern / ST. W.: Höfliches Bekenntnis /
' R-: Der Dalai-Lama/ ALFRED DÖBLIN: Zirkuspanto-
^' me/ RUDOLF KURTZ: Neue Bücher / Beachtens-
erte Bücher und Tonwerke

Lob der Korruption

^°n Stefan Wronski

Unsere lieben Nationalisten flammen in heller
Cnadenfreude über den neuesten Skandal von
Uschland. In Deutschland könne so etwas nicht
örkornmen, wie der Millionenbetrug des „Liqui-
I '°rs“ Duez, brüsten sie sich; und der Pharisäer-
ank, daß man nicht sei wie jene, schwält übelduftig
nnrch unseren Blätterwald. Im Reichstag hat ein
elsässischer Abgeordneter sogar sein Bekenntnis
^nr Monarchie darauf gegründet, daß nur in Re-
nbliken solche Riesenkorruption möglich sei. (Der
. err hat übrigens die Wirklichkeit zierlich dahin

errigiert: Frankreich sei eine sozialistische
^ ePublik. Als ob Herr Aristide Briand nicht mit
°hen Segeln in den Haien der Bourgeoisie emgt-
enkt wäre; und als ob irgend ein Staat mehr den
narakter kapitalistischer Souveränität tragen
ünnte, wie eben Frankreich!) Qewiß, Herr Duez

hat

vlel unterschlagen. Aber er scheint es sehr ge-

^ chickt gemacht zu haben. Jedenfalls liegt hier
‘ne geistige Potenz vor (die körperliche dieses
‘Quidators wurde von einer rachsüchtigen Qelieb-
en, bei ihrer Vernehmung vor dem Untersuchungs-
j! chter, ein bißchen angezweifelt). Und dann hat
err Duez all die Millionen der frommen Mönche
nh Nonnen, anstatt sie der Republik zuzuführen,
alanten Frauen geopfert. Kann ein Diebstahl zu
^ enschlicheren Zwecken begangen werden? Herr
nez brauchte Frauen, und die Frauen brauchten

L* elcl • . . Da nun infolge Briands separation de
et de l’dglise gerade diesem Herrn Duez der

i^tat

°sten eines Fliissigmachers riesiger Mönchsver-
fenf e° zullel — : konnte die Entwicklung noch zwei-
inl k lell3en ? • • Natiirlich unterschlug Herr Duez
T 1 Uuezformat und nicht im Duodezformat. Aber
^ hat wirklich jegliche Milderüng fiir sich: denn in-
em er, wie es scheint, klerikale Kreise in seine
. ürruption hineinzog, nahm er, falls die Sache zum
v apP en käme, der antiministeriellen Opposition
j.° n vornherein alle Stoßkraft und machte es
t errn Briand leicht, in der Kammer die Deputier-
Perregung zu glätten.

Herr Duez ist korrumpiert. Vielfach, in frühe-
r n Skandalen, hat sich gezeigt, daß es in Frank-
jjeh Korruption, Bestechlichkeit gibt — in großem
aßstabe, Korruption mit allen Ingredienzien. Bei
kommt das nicht vor. Unsere Beamten sind
^ e. eer bestechend noch bestechlich. Von Zeit zu
. e‘t singt irgend ein Kanzler oder Staatssekretär
i, rer Pfhchttreue eine Generalhymne (die für alle
Uienst Befindlichen gelten soll). Aber sollte

diese nie versuchte Tugend gar so entzückend sein?
Wen niemand zu bestechen wünscht, der kann
leicht „anständig“ bleiben. (Daß man in Deutsch-
land solche Selbstverständlichkeiten ausbrüllen
muß!) Natürlich werden nur Leute von Qeist und
Tatkraft bestochen. Der Käufer wirft doch sein
Geld nicht weg. Und man erinnert sich des Stoß-
seufzers eines deutschen Professors der National-
ckonomie auf dem letzten Kongreß des Vereins für
Sozialpolitik: „Wenn nur unsere Beamten etwas
bestechlicher und dafür auch etwas interessanter
und tüchtiger sein wolltenP Also diese deutsche
Tugendhaftigkeit bedeutet nichts. Bei uns begreift
man nicht einmal die erfrischenden geistigen Werte
der Korruption. Erfordert sie nicht höchste Um-
sicht, Wachsamkeit, Raubtier-Bereitschaft und un-
bürgerlichen Mut?! Wer, wie ich, in der Kor-
ruption ein achtungswertes Präzisionssystem der
Selbstsucht sieht: das logische Röhrenwerk, in
dessen Qeheimgänge alle großzügige Qenußfähig-
keit durch die moderne Kontrolle gepreßt wird —,
der wird den Korrumpierten dankbar sein dafür,
daß sie sind, daß sie ihre nervenpeitschenden Rol-
len aufrecht erhalten, ihre verdammten Dramen
agieren und uns schillernde Bilder von Qefahren,
starren Blicken, wilden Griffen bieten. Und er
wird den Ländern dankbar sein, in denen die Kor-
ruption Qröße, Stil, Wurf hat. Nur die subalterne
Verderbnis ist schlimm. Die große Korruption ist
ein wertvoller Bestandteil geistiger Kultur —* eine
kunstvoll organisierte List, eine Verschwörung, die
— Frankreichs Qeschichte hat’s bewiesen — häufig
zur Operette und bisweilen zur revolutionären Tra-
gödie führt. Der Tugendhafte ist faul; der Kor-
rumpierte tätig —, auf gefährlichem Qelände tätig,
beglückt und ruiniert —; welcher von beiden wird
uns mehr interessieren, tiefer bereichern? Bei den
Unterschlagungen des Herrn Duez könnte der Fall
eintreten: daß die Belustigung, die dieser Skandal
ein paar Qenießern brächte, mehr wert wäre, als
die dicken Millionen, die der Staatskasse der fran-
zösischen Republik entgangen sind.

ßildung

Von Robert Scheu

Der Schmerz, den die heutige Schule in uns
erzeugt, ist der Wiederschein eines tieferen unbe-
kannten Leidens, einer konstitutionellen Krankheit,
die unseren ganzen gesellschaftlichen Körper in allen
Teilen durchdringt. In der Schule drängt sich nur
das Qewissen der Zeit zusammen. Es wird dort
das Leiden offenbar, während die Schuld verbor-
gen bleibt. Besitzen wir überhaupt eine geistig-
ökonomische Qliederung, die imstande ist eine Bil-
dung zu schaffen?

Die unsere Zeitbildung beherrschende und ge-
nießende Klasse will Bildung ohne Kultur. Um sich
den Unterschied zwischen Bildung und Kultur
deutlich zu machen, versuche man sich auszu-
denken, was für eine Figur etwa Dante in unserer
Zeit machen würde, wenn er unversehens aus dem
Qrabe auferstünde. Er wäre nach unseren Begriffen

ungebildet. Dennoch repräsentiert er eine der
höchsten Kulturen, die man je gesehen hat. Man
wird geltend machen, er habe die Bildung seines
Zeitalters besessen. Aber auch so, wie er ist, in
unsere Zeit hineingestellt, wäre er uns durch seine
persönliche Kultur und Geistigkeit überlegen, ein-
fach darum, weil seine Bildung in Persönlichkeit
umgesetzt und restlos aufgegangen ist. Bildung,
die keine Lebenshaltung und Würde gibt, nicht in
Blut und Rasse übergeht, keine Weltanschauung
produziert, ist kulturlos und geradezu kultur-
feindlich.

Unsere Zeit, richtiger: die Privilegierten un-
serer Zeit möchten den geistigen Besitz auf einen
Schlag in Bausch und Bogen, möglichst billig, an-
strengungslos und in der Schulzeit zusammen-
gedrängt bekommen. Es soll auch geistig ein ar-
beitsloses Einkommen geben. Sie sagen: So und
soviel gebe ich für meine Bildung aus; aber damit
genug; damit wili ich mir ein für allemal meinen
geistigen und gesellschaftlichen Rang sichern.

Das Bürgertum steht zur Schule in einem ver-
wandten Verhältnis, wie zur Prostitution. Die Pro-
stitution soll der Abzugskanal der ganzcn Qemein-
heit und Roheit sein, um darauf als Ueberbau die
intangible Ehe, den Idealismus der Ehe zu er-
richten. Umgekehrt soll die Schule die Sammel-
stelle des ganzen Idealismus bilden, um von diesem
das übrige Leben zu entlasten und es desto unbe-
kümmerter dem Qeschäfte widmen zu können.
Darum wird von der Schule eine möglichst fertige
allgemeine Bildung gefordert, die sich möglichst
begriffmäßig, das heißt unverlierbar gedächtnis-
mäßig überliefern lassen soll.

Statt dessen erntet das Bürgertum Willens-
schwäche und Trivialität. Hier kommen wir zu der
merkwürdigen Erscheinung der Trivialität, die all-
mählich zu einer Landplage wird und die Aufmerk-
samkeit aller feiner organisierten Menschen auf
sich zieht. Die moderne, alles überwuchernde Tri-
vialität ist eine Folge unseres Bildungsbetriebes.

Weininger hat Qenialität für eine Pflicht er-
klärt. Genialität können und wollen wir nicht all-
gemein fordern, wohl aber das Abbild der Qenia-
lität, ihr Miniaturbild: Individualität. Wir fordern
die Individualität als eine Pflicht. Wir würden ein
Dasein für möglich und erreichbar halten, in dem
jeder Lebende zugleich eine In ividualiiät wäre, und
die Palette der Natur in unerschöpflichen Farben
erglühte. Die Ahnung davon, daß die Natur reich
genug wäre, Individualitäten in unbegrenzter Qua-
lität und Quantität zu erzeugen, gibt unserm ganzen
Erdenstreben seine Berechtigung, seinen Elan.
Diese Ueberzeugung ist die Seele der Freigeisterei.
Sie macht uns in unseren Anforderungen gebiete-
risch, sie berechtigt uns zur Satire, sie gibt den pur-
purnen Untergrund unserer Leiden, unseres Pathos,
unserer politischen Schwungkraft. Die Zuversicht
zur Differenzierbarkeit des Menschengeschlechts
ist unser letzter Optimismus, unser höchster
Qlaube.

Nun trägt allerdings schon der Menschheitsroh-
stoff alle Zeichen der Trivialität und Banalität an
sich. Aber erst durch die Bildung werden sie zur
Kalamität. Der ungebildete Mensch ist trivial ver-

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