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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 35 (Oktober 1910)
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Baum, Peter: Liebespsalme
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Scheerbart, Paul: Der Wetterprophet: Eine chiniesische Geschichte
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Döblin, Alfred: Antikritisches
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0285

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VI

Uns deckt der waKende Mantel
Des Abends mit tiefen Schatten,

Unsre Wipfel 1 ladien voll Sternen.

Unsre Wipfel staunen:

„Wart ihr nidht zwei törichte Kinder?
Ein Mensch, hebt ihr euch nun
Ueber uns empor.“

Der Wetterprophet

Eine chinesische Geschichte

Von PauUSeheerbart

Als ich vor drei Monaten in Peking war, lernte
ich bei dem italienischen Gesandten an einem
l'ustigen Gesellschaftsabend deu reichen Herrn Li-
Ban-Schin kennen, der afe Wetterprophet im Lande
des Zopfes ein großes Ansehen genießt.

Die vornehmen Chinesen sind heute den Euro-
päcrn gegenüber nicht imehr so diplbmatisch zu-
geknöpft wie vor zehn Jahren noch. Auch irn
Osten des asiatischen Kontinents ist viefes anders
geworden. Und so kam es, daß Li-Ban-Söhin midh
noCh an demselben Abend, an dem er mich kennen
lernte, einlud, ihn an einem der nächsten Tage in
seiner Villa zu ibesuchen.

Er sandte mir eines Morgens ganz friih, gie'ch
nac'h Sonnenaufgang, sein Automobili, und naöh
dreistündiger Automobilfahrt empfing rnidh Herr
Li-Ban-Schin jim Portal 1 seiner Viila zwisdhen zwei
großen weißen Porzefianhunden.

Die Vilia war eine Porzellan- Villa — außen
bläu und innen heligelb. Schwarzer Sammetbelag
bedecktc (überall den Fußboden. Und die Hälfte
afier Porzellanfließen war sowohl innen wie außen
bemaft. Cie Möfeel bestanden aus geschnitztem
Ebenholz — tiefsdhwarz, aber nicht poiiert. Das
Köstiichste steckte in den großen bunten plastisdhen
PorzeianfrüChten, die in dekorativen Kränzen
mitten in den Wändcn und an Tür- und Fenster-
umrahmungen innen wie außen dasGanze befebten;
diese Weintrauben, PfirsiChe, PfÜaumen, Aepfel,
Kirschen und Aprikosen erinnerten ,ein wenig an
italienische Renaissance, obwoh! da der Farben-
reidhtum fange nicht so üppig hervortrat wie hier.
Daß diese Porzefian-Villa in China entstand, dafür
sprachen die Malereien, die durchaus in rein
Chinesischem Stif blieben i— und zwar iin einem
ganz affen, dem man VerwandtsChaft mit dem
modernen Geschmack nicht nachsagen konnte.

Idh mußte zunächst mit Fferrn Li-Ban-Schin
frühstücken. Es gab Tee, Cognac und mindestens
dreißig dhinesische Delikatessen — dazwischen Zi-
garetten und Zigarren. ICh hätte jedoch gar keine
Zeit, dieses Frühstück vief zu betrachten, denn der
Herr des Hauses war sehr gespräChig. Er hatte
sich in jüngeren Jahren sehr fange in Berlin auf-
gehal’ten und spraCh 'fließend Deutsch,

,,Man häft miCh hier“, sagte er lächelnd, „für
einen Wetterpropheten. Aber idh bin eigentfich
etwas (mehr. Mir ist es eigentüich ganz gleich-
güftig, ob es regnet oder schneit, ob es windig oder
nicbt windig ist.“

Nun vvar idh natürlich sehr neugierig, ich ließ
mir vom Diener Selterwasser geben — ganz kaltes.
Und ich goß Gognac hinzu und rauchte zunächst
eine Zigarre.

Und ,Herr Li-Ban-Sdhin 'fuhr währenddem jn
etwas nervöser Häst fort:

„Wissen Sie“, sagte er gestikulierend, „ich
gfaube doch, daß iman in Europa immer noch die
Sonnenenergie lunterschätzt. Und das geht doch
jetzt nicht mehr. Die Natur der großen Sonnen-
füecke ist für uns noch immer ein ungeheuerliches
Rätsef; idaß sie aber Beziehungen zu dem Wetter
in unserer Erdatmosplhäre haben, das ist doch nidht
mehr zu lcugnen. Ist aber der Einfluß der Sonnen-
ffeck-Energie auf die Erdatmosphäre nicht zu leug-
nen, so muß man dodh auch annehmen, daß dieselbe
Energie auf die Mensdhenköpfe wjrkt. Mithin haben
wir Krisen, Kriege und RevoÜutionen mit der Son-
nenenergie in Verbindung zu bringen.“

„Die Ansiclit ist nicht neu!“ sagte ich feise.

Ein Diener putzte währenddessen einen FruCht-
kranz, der uns gegenüber die halbe Wand bedeCkte
und mindestens einen Urnfang von vier Metern
hatte, blitzblank.

Herr Li - Ban - Schin pfiff leise und gab dem
Diener einen Wink, nach dem er sofort verschwand.

„Idh weiß“, fuhr der chinesische Flerr fort,
„daß die Ansiöht, die ich entwickte, schon vielfach
ausgesprochen worden ist. Aber noCh niemals jst
mir die Wahrheit ider Geschichte so eindringfich
klar geworden, wie in diesem Sommer. Das Wetter
ist, wie Sie bemerkt haben, in diesem Sommer des
Jahres 1910 gänziich unnormal. So unnormal
war’s sdhon länge nicht. Und nun kommen überall
große Krisen, Kriege und Revofutionen hinzu —
in der Türkei, in Persien, in PortugaÜ, in DeutsCh-
land — und bei uns auch. So viei passierte
noCh nfemälls in einem Somjuer. Und dazu
kommt jdie rapide EntwickÜung der Luftschiffahrt,
BÜeriot jst sclion über den Kanal gefahren. Soll
noch mehr passieren ? Gläuben Sie, das alles hängt
nicht mit dem Wetter und danadh mit der Sonnen-
energie zusammen? Unser ganzes Leben ist be-
droht. Wir üeben alie wie in einem Porzellanhause.
Mein Porzeflanhaus ist symbolisdh für unser ganzcs
Leben; gebredhüiche Materie umgibt uns auf allen
Seiten — giebrechliches Porzellan. Ich bin nicht
nur ein Regenwetterprophet, ich wiiW auch das
poiitische Wetter prophezeien. Und das ist es,
was idh Ihnen sagen woflte.“

„Ja“, versetzte idh ruhig, „Schwarzseher gibt’s
aber in Europa sChon genug. Wenn irgend etwas
Üos ist, glauben viele gleidh, die halbe Welt könnte
untergehen. Aber diese Untergänge sind schon so
oft prophezeit, daß inanChe Leuie gar nicht mehr
ängstfich zu machcn feind. Dias können Sie mir
glauben.“

„Das ist es eben“, flüsterte er erregt, „nach
meiner Meinung sollien idie Leute audh gar nicht
ängstlkh Werden. Aber es wäre doch gut, wenn
sie darauf aufmerksam gemacht würden, daß ganz
große Umwiäüzungen auf äifen Gebieten des Lebens
bevorstchen. Denken Sie an die Zeit, vor hundert
Jahren! Napoüeon war noCh nicht in Moskau. Man
hieft die politisdhen Umwälzungen für sehr wichtig.
Es war ein stürmisdies pofitisches Wetter damais
in Europa. Das pofitisdhe Wetter hatte aber gar
nieht so vieÜ zu bedeuten; es war nur der Vorbote
für ein größeres Unwetter — für das Unwetter,
das durCh die Entwicklung der Eisenbahnen der
Großstädte, der Efektrizität und der ganzen Technik
hervorgerufen wurde — das wir erlebt haben. Und
so kündigt sidh jetzt auch ein ganz neues, großes
lUnwetter an, und die pofitisdhen Stürme und die in
der Atmosphäre sind nur Vorboten. Habe idh recht,
oder habe idh nlcht recht?“

Jetzt bekam idh zunädhst wieder Appetit, und
ich isagte das — idh sagte güeichzeitig:

„Sie imüssen mir lein wenig Zeit lässen. Idh
v iül mir, was Sie sagen, ein wenig überlegen. Meine
Antwort wird nidht ausbleiben.

Mit ider größten Höflichkeit erklärte er, daß
er durdhaus einverstanden sei, und er gab dem
Dfener ein Dutzend Aufträge.

Und idh aß !mit Löffel 1 und Gabel von allen
den dhinesisdhen Defikatessen, die imir vorgesetzt
wurden — von aflen nur eine Kieinigkeit. Es war
sehr defikat, und ich dachte iiber diesen seltsamen
Gastgeber nadh, der schweigend dasaß und mit ge-
senkten Augen eine echte Kuba-Zigarre rauchte.

„Idh bin“, sagte ich dann, afs jch nicht mehr
essen mochte, „eigentfich durchaus Ihrer Ansicht.
Dodh 'weiß ich inicht, worin das neue Unwetter
besteben sofl, das jetzt im Anzuge sein soü. Icih
weiß es niCht.“

Flerr Li-Ban-Schin zog seinen dunkelblauen
Seidenmantef fester um seine Sehulter und sagte:

„Die Dampfbahn hat im vorigen Jahrhu.ndert,
wie Sie mir zugeben werden, ganz ungeheuerliche
Umwäfzungen hervorgebracht. Dagegen waren alle
pofitisdhen Umwälzungen und auch alle Kriege des
neunzehnten Jahrhunderts so gut wie gar nichts.
DanaCh kam das Automobif, und nach dem das
fenkbare Luftfahrzeug. Und dieses Lenkbare wird
im zwanzigsten Jahrhundert noch mehr umwäfzen
afs alle Dampffahrzeuge des neunzehnten Jahr-
hunderts umgewäfzt haben.“

„Ist es da (nicht“, fragte ich fachend, „sehr
unvorsichtig, in einem Porzeflanhause zu wohnen?“
„Das tu ich“, erwiderte er, „nur der Freude
wegeln, die ich am Symbofischen habe. Ich war
am Ende des (vorigen Jahrhunderts in Paris und
ternte da einige sogenannte Symbofisten schätzen.
Dodh ,ich weiß nicht, öb Sie wissen, worin das
Gefährfiche der modernen Luftschiffahrt besteht.“

„Nein! Ich weiß tes nicht!“ sagte ich feise.

Und er fulir fort:

„Die Europäer überfegen sich die Sache immer
nodh nicht. Es ist doch nichi mehr daran zu zwei-
fefn, daß wir in kürzester Zeit sehr viete lenkbare
Luftschiffe und sehr viefe Gleitflieger haben werden
— isie können bafd nadh Hunderten zählen — und
bald nadh Tausenden. Und dann wird der Mili-
tarismus sich fast nur diescr Luftvehikel bedienen
und alle anderen Vehikel wie eine Nebensache be-
handefn. Und man wird aus diesen Luftvehikeln
die gefährfichsten Sprengstoffe herauswerfen — und
die können überail hinfallen und alles zerstören.
Sind da nicht ungeheuerfiche Umwälzungen zu be-

fürchten? Ich bitte Sie-Sie müssen ja bfind

sein, wenn Sie die nicht sehen. Was die Haager
Konfereiiz sagt, ist doch eine piätonische Ge-
sdhichte, um so was kümmern sicli doch die Leute
nicht, wenn sie den Krieg woflen. Und die Revo-
futionäre werden sidh um die Beschlüsse der Haager
Konferenz nodh weniger bekümmern — das ist doch
so kfar wie der Einfiuß der Sonnenenergie auf die
Menscheuköpfe. Sagen Sie das doch den Euro-
päern. Erzähfen Sie ihneii, daß ich in einem Por-
zellanhause wohne, um damit eine permanente sylm-
bolisChe Sprache zu sprechen. Ich will damit sagen,
daß wir afle jn einem Porzeüanhause wohnen —
affe — alle — die Europäer auch.“

Wir spraChen noch bis tief in die Nacht über
dieses Thema.

Und afs iCh ,am nächsten Tage zwischen den
beiden großen Porzellanhunden, die zwei Meter.
lang waren, Abschied nahni, sagte ich kopf-
schüttefnd:

„Wefch ein seltsames Land ist dieses China!
Daß idh afles das von einem Chinesen hören
mußte!“

idh werde die Gespräche in dieser Porziellan-
V'illa jn meinem ganzen Leben nicht vergessen.

Antikritisches

Nachdem ich mich seit Jahr und Tag gewöhnt
habe, tnein Kunstbedürfnis faute de mieux in
Cinema, Variete, Zirkus zu befriedigen, bedeutet
der erste Gang ins Konzert eine folgetischwcre
Handfung. ICh schätze alles, was schweigt; und
Kafypso, |die süße Liedersängerin, die Hehre der
Göttinnen, sagte einmal: „Eine fürstliche Kunst
ist die Musik. Ich muß die Schweigsamkeit lieben,
aber vvenn es midh nach einer Stimme verfar.gt,
zu wem sofi idh sprechen, wer soll zu mir sprechen ?
Ich fasse die Menschen nur in der Musik an mich
herankommen. Sie rebet in großem, feierfiChen
Ton von ihnen, ohne Umsdhwcif, sadhfich, streng
überfegen, ohne Wort für das Bestimnite, Kiein-
fidhe, Feintiefe. Ein vielsagendes Mienenspiel geht
iiber ihr Gesidht.“ ich tat einen fofgenschweren
Sdhritt, und will den letzten Grund, der mich zu
diesem ersten Sdhr tt bewegte, nicht zurückhaften,
nämfich: die Kritik, auch meine Kritik ist schlecht
oder war sdhfedht. D-ie Kritiker erfassen ihren
Beruf falsch. Sie vergreifen sich in edefster Ab-
sicht imit Vorl'iebe am untauglichsten Objekt. Es
handeft isiic'h zwar bei unserer Kritik niemäls um
Urteifsübermittclung an die pp. Herren Autoren,
die *** Sdhäuspiefer ;wäre hier etvvas zu bessern,
vväre den pp. * * * längst geholfen. Viel mehr liegt
uns an dem Hörer, der in der dicken Pubfikums-
masse urteilsschvvacli den Darbietungen gegenüber-
siitzt und von den dhärakterisierten Herren pro-
fessionefl (ausgebeutelt vvird. Statt dauernd Ver-
eine zur Verbifligung des Theaterbesudhs zu grün-
den, soflte sidh das Gesamtpublikum zu einem
Riesenskat zusammentun, und die feindliche Partei
aushungern. Pie Skatabende ehemaliger Theater-
besucher würden sich größter Beliebtheit bei dem
Oberkomitee ider Aesthetik erfreuen.

Aber ich sebe jetzt immer deutficher, daß un-
sere Unterhaltungsbedürfnisse genau so viel mit
Kunst zu tun haben, wie unsere Handlungen mit
der |Moraf. Seben Sie sidh ein Theater an; mit
Generafstrejk, Riesenskat ist da nichts zu machen;
die pp. Kreuzefherren und der Publikus sind ganz
unter isich und quietsdhvergnügt beieinand. Hof
sie beide der heifige Borromäus; aber ein Stier ist
keiine Heuschrecke, und ein Veilchen keine Queck-
silbersalbe. Das heißt zu deutsch: das liebe Vieh
fiefert nichts als Kalbskotelette, höchstens Esels-

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