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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 42 (Dezember 1910)
DOI Artikel:
Minskij, Nikolaj M.: Tolstoi: Der grosse Schriftsteller der russischen Erde, [2]
DOI Artikel:
Scheerbart, Paul: Der Kaiser von Utopia, [2]: Ein Volksroman
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0338

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Tolstoi

Der grosse Schriftsteller der
russischen Erde

Von N. M. Minski

Schlust

Jetzt nach Verlauf vieler Jahre wird es begreiflich,
warum Tolstoi seinerzeit nicht auf die verschiedenartigen
Einflüsse und Strömungen der städtischen Intelligenz in
Russland reagierte

Natürlich regte bei Erscheinen von „Väter und
Söhne“ jedes Wort Basarows die Leser tausendmal
mehr auf, als die unklaren Träume eines sterbenden
Andrej Wolkonski oder die naiven Aphorismen Kara-
taews. Aber in der ungeheuren Perspektive von
Schicksal und Wahrheit. in der Tolstoi das russische
Leben darstellte, mussten ihm die Kulturbestrebungen
einiger Journalisten und Studenten als eine ober-
flächliche und zufällige Erscheinung vorkommen, die
mit den Wurzeln und den Kräften des russischen
Bodens nicht zusammenhängen. Und der grosse Schrift-
steller der russischen Erde hatte recht. Jetzt scheint
auch uns allen das Schicksal und das Qefühl Wolkonskis
und Nechljudows nicht minder bedeutend als das neue
Wort Basarows und Neshdanows.

Durch die innige Verbindung Tolstois mit dem
Genius der russischen Erde wird das Lesen seiner
Werke allen und jedem erleichtert, ihre kritische Er-
klärung aber äusserst schwierig. Wie es mit Shakespeare
in England und Goethe in Deutschland geschah, wuchs
das Werk Tolstois über das Maass der ästhetischen
Kritik hinaus, wurde zu einer Erscheinung der nationalen
Geschichte und kann nur im Zusammenhang mit der
Geschichte der russischen Erde erklärt werden. Seine
Einfachheit, die bis zum Unwirschen geht und gleich-
zeitig in jedem Wort brüderliche Zärtlichkeit ausströmt,
seine furchtlose Offenheit, die einen unerschütterlichen
Glauben an sich wie einem Gefiihl der Demut ent-
springt, sein kulturentwickeltes gewaltiges Genie, und
däe Lossagung von der Kultur zugunsten der Erde und
der finsteren Bauern: das ist kein Einzelerlebnis,
das ist eine volkspsychologische Erscheinung. Und das-
selbe wird man von der verneinenden Seite seines
Schaffens sagen miissen, weil in Tolstoi das Genie
nicht nur seine volle Höhe, sondern auch seine Grenze
erreicht hat.

Als nach Beendigung der Anna Karenina Tolstoi
fiir einige Jahre verstummt war, hätte man, nach der
Lösung Lewins zu urteilen, glauben können, dass er
sich des höchsten, auf der Erde erreichbaren Gliickes

erfreue-im Bewusstsein seines verdienten Ruhmes,

im Kreise seiner geliebten Familie, inmitten des geliebten
Volkes. Damals aber schrieb Tolstoi an Fet: „Unsere
Lage in der Welt ist schrecklich. Sobald erst der
Mensch zur höchsten Stufe der Entwickelung gelangt
ist, sieht er klar, dass alles Unsinn und Trug ist, und
dass die Wahrheit, die er trotzdem über alles liebt,
dass diese Wahrheit schrecklich ist, und wenn man
genau zusieht, erwacht man plötzlich und mit Schrecken
sagt man: was ist denn das? Wenn nicht heute, so
wird morgen Krankheit, der Tod über geliebte Menschen,
über mich kommen. Meine Taten werden vergessen,
die Hauptsache ist aber: Ich werde nicht sein.“

Es zeigte sich, das die Beruhigung Lewins eine
scheinbare war, dass der Geist der Verneinung und
des Zweifels Tolstoi ebenso getroffen hatte, wie die
meisten zeitgenössischen Menschen. Gewaltiger als die
Anderen, fühlte er einen gewaltigeren Schmerz und
seufzte lauter. Unter welchem Gesichtspunkte man auch
die Ursachen dieses Uebels unserer Zeit betrachten
mag, so scheint eines unzweifelhaft: dass man es nur
dann heilen kann, wenn in der Seele des Menschen
die Ueberzeugung von der Zweckmässigkeit des Daseins
wieder auflebt. Diese Aufgabe ist eine philosophisch-
religiöse und keine philantropische.

In jedem Falle muss der Verkünder, der bereit ist,
die Menschheit von diesem unseligen „Wozu“ zu retten,
mit der grössten Klarheit die Frage vor sich selber
beantworten, worin diese Rettung besteht — in der
Liebe zum mythischen Gott oder zu den Menschen-
Brüdern. Tolstoi hat diese Frage nicht entschieden,
ja er hat sogar nicht die Kraft besessen, ihr gerade
ins Auge zu sehen. Indem er die Menschheit auf
neue Wege führen wollte, ist er selber zurückgekehrt
zum früheren, zu dem von Lewin bereits zurück-
gelegten Weg, der zum Dorf, zu der ackerbauenden
Arbeit führt.

Liest man die letzten Werke Tolstois, so fühlt
man, dass man in einen Kreis von Widersprüchen und
Missverständnissen geraten ist, der keinen Ausgang hat.
Da verkündet Tolstoi ein neues Christentum, ein gött-
liches Verhältnis zur Welt an Stelle des bisher herr-
schenden persönlichen Verhältnissses und des heidnischen
Gemeinwesens. Das persönliche Verhältnis zur Welt
findet den Sinn des Lebens im Streben zum per-
sönlichen Glück, das heidnische — dem Wohl der
Familie und des Volkes zu dienen, das christliche —
Gott zu dienen. Fragt man Tolstoi, auf welcher
Grundlage er das neue christliche Verhältnis zur Welt
aufbaut — auf dem Glauben und der äusseren Offen-
barung oder aber auf der Vernunft und der inneren
Offenbarung — beeilt er sich, philosophische Dispute
vermeidend, zu erwidern, dass das göttliche Verhältnis
zur Welt das Beste sei, weil es die Menschen lieben
und dem Wohle des Volkes dienen heisst. Wenn man
also erfahren will, wie „den Menschen dienen“ — die
ebenso sterblich sind wie ich — sie vor der Furcht
des Todes und dem Entsetzen über die Zwecklosigkeit
des Lebens rettet, antwortet Tolstoi, dass dies un-
bedingt rettet, weil wir so handelnd den Willen Gottes
erfüllen. Aus diesem Kreise gibt es offenbar keinen
Ausgang. Aber Tolstoi, scheint es, sucht keinen Aus-
gang. In den letzten Werken beschäftigt er sich mit
der Frage der reinen Philosophie und — so seltsam
es auch sein mag — sogar die Religion. Bald beugt
er sich vor der Gottheit, als der mythischen, dem
ausserweltlichen Anfang alles Lebens. („Tust Du denn,
was von Dir der fordert, der Dich in die Welt gesandt
hat, und zu dem Du sehr bald zurückkehrst?“) Bald
betitelt er ein Buch: „Das Reich Gottes ist in Euch“
oder das Christentum nicht als mystische Lehre, sondern
als eine neue Auffassung des Lebens.

Einzeln genommen übeirascht jedes von den neuen
Werken Tolstois durch seine Kühnheit, seine Offenheit,
und seine edle Einfachheit. Aber seine Lehre hat
keinen philosophischen Mittelpunkt, sie hat keinen
lebenerzeugenden Keim, aus dem er in unserem Be-
wusstsein erspriessen könnte. Ich weiss, wie niedrig
Tolstoi das Bestreben der Philosophie, den Zweck des
Lebens zu erfassen, schätzt. In einem noch nicht ver-
öffentlichten Privatbrief sagt er:

„Der Fehler aller vielredenden und müssigen Philo-
sophie besteht darin, darüber zu raisonnieren, was die
Welt und ihr Anfang ist. Das zu wissen ist eben-
sowenig notwendig, wie das, wie viele Knöpfe die
Weste Ihres Portiers hat. Man muss eines wissen:
Wie soll ich leben? Man muss nicht erfahren: Habe
ich einen freien Willen oder nicht? Sondern: Wie ist
die Kraft zu gebrauchen, die ich als die Freiheit des
Willens erkenne? Man sagt, dass man zuerst mit
Hilfe des Aristoteles, Comtes und anderer erkennen
muss, was die Welt ist und was ich bin. Aber das ist
nicht wahr, das ist der listige und hinterlistige Sophis-

mus der faulen Sklaven.Wie der Junge. der

sich vor mir rühmte, dass er schon Wörter buchstabieren
könne. Als er das Wort Pfote buchstabieren sollte,
fragte er mich: „Welche Pfote die Hunde- oder die
Wolfspfote? Was ist die Welt und was sind wir in
Ihr? Wir brauchen es nicht zu wissen, wenn wir auch
das halbe Leben dem Studium von all dem, was da-
rüber geschrieben wurde, widmen. Ebenso wissen wir
immer, was wir tun müssen, wenn wir nur das wissen
wollen. Aristoteles und der Bauer und alle müssen
das eine oder das andere bald tun. Man hat keine
Zeit zu warten, bis man erfahren wird, was die Welt
ist (sogar wenn es möglich wäre, das zu erfahren).“

Das ist mit der gewohnten Tolstoischen Kraft und
Klarheit gesagt — aber der grosse Schmerz bleibt,
dass auf die Frage: Wie soll man leben? das Gewissen
nicht allen eine und dieselbe Antwort gibt. Als Aristo-
teles das Problem studierle: Was ist die Welt? war er
ebenso überzeugt, dass er gewissenhaft vorging, wie
Tolstoi, wenn er über Aristoteles lacht. Und der noch
grössere Schmerz ist, dass auf die Frage: Wozu Ieben?
das Gewissen vollständig ohnmächtig ist, irgendwelche
Antwort zu geben. Tolstoi scheint zu vergessen, dass
nicht die Erkenntnis der Sündhaftigkeit, soderu die Er-
kenntnis der Zwecklosigkeit des Lebens ihn veranlasst
hat, den neuen Glauben zu suchen. Aber zwischen
der Verzweiflung des Menschen, der die Zwecklosigkeit
des Menschen erkennt und einen freundlichen oder
feindlichen Verhältnis zu den Menschen gibt es kein
direktes Band. Die Türken, die die Armenier töteten,
haben sich keineswegs mit der Frage über die Zweck-
losigkeiten des Lebens abgemüht. Im Gegenteil, sie
glaubten gewissenhaft zu handeln, dass sie durch ihren
fanatischen Hass den Willen des, der sie schickte und
der ihnen den ewigen Lohn verheisst, erfüllen. Aber

mann kann sich dem Dienste der Menschheit vvidmen
und doch mit Tolstoi wiederholen: „Wenn nicht heute,
so morgen kommen Krankhelt, Tod über geliebte
Menschen über mich. Meine Taten werden vergessen,
die Hauptsache ist: ich werde nicht sein.“

Es wäre ungerecht, Tolstoi der Furcht vor der
Philosophie zu beschuldigen. Er ist auch in dieser
Hinsicht der Schriftsteller der russischen Erde geblieben,
die ihm kein Material für philosophische Systeme und
die Gründung eines neuen Glaubens geboten hat.

Der Genius der russischen Erde hat in Tolstoi
den küntlerischen und sittljchen Höhepunkt erreicht
und in ihm auch- seine philosophische Ohnmacht offen-
bart. Man schätzt bei uns den Gedanken im Ver-
hältnis zum Gefühl etwas zu gering ein.

Autorisierte üebersetzung aus dem Russischen
von Luise Flachs-Fokschaneanu

Der Kaiser von Utopia

Ein Volksroman

Von Paul Scheerbart

IV

Der Staatsrat

Beinahe den ganzen Tag — schier zwölf Stunden
hindurch — war die Stadt Ulaieipu ein grosses Theater
gewesen. Sämtliche Residenzler hatten bei den grossen
Festspielen mitgespielt.

Im Mittelpunkte der Aufführungen stand „Der Zank
der Berggeister und der Wasserdrachen“. In dieser
Komödie hatten sich die kolossalsten Ungeheuer prä-
sentiert — auf den Bergen einerseits und unten im
schwarzen See andererseits: die Grösse der Riesen-
leiber und die kolossale Stimmkraft der Riesen hatten
die allgemeinste Bewunderung erregt; selbst der Kaiser
hatte zum Zeichen der Anerkennung gelächelt und,
wie es Sitte ist, mit der Spitze des linken Zeigefingers
die Nasenspitze berührt, und die Provinzler waren fast
närrisch vor Begeisterung geworden. Aber es liess sich
auch nicht ein einziger Tadel aussprechen — so vor-
trefflich nahm sich alles aus. Und des Abends sprach
man in den Gärten und auf den Terrassen immer
wieder davon und erklärte immer wieder, dass die
Theaterkunst doch wahrlich keine so üble Kunst sei
— — besonders dann nicht, wenn ein ganzes Volk
mitspielt und mittätig ist.

Am Abend ruhte sich alles aus, sodass die Stadt
so still erschien wie sonst — nur die glitzernden Turm-
stangen und die bunten Stickereien erinnerten daran,
dass die Stadt Ulaleipu ihr Frühlingsfest feierte.

Und als nun die Nacht hereinbrach, blieb es zuerst
überall so dunkel wie sonst; nur die kleinen Lampen
brannten in den Häusern. Dann aber flammten hoch
oben auf dem grossen Seebalkon der Kaiserburg rote
Pechfackeln zum Himmel empor, auf dem Seebalkon
hatte sich der Staatsrat versammelt.

Der Staatsrat bestand aus hundert Herren, die mit
dem Kaiser zusammen das Land Utopia regierten;
diese hundert Herren bildeten jetzt einen Kreis nnd
sprachen leise flüsternd über die nächsten Regierungs-
geschäfte.

Dann aber ertönten feierliche Glocken, die das
Nahen des Kaisers verkündeten. Fünfzig der Mitglieder
des Staatsrates traten nach rechts und stellten sich in
eine Reihe auf, und links taten die anderen fünfzig
dasselbe. Jedes Mitglied des Staatsrates hatte auf jeder
Schulter eine zehn Meter hohe künstliche Feder, die
sogenannte Schulterfeder, die in Form und Farbe der
Galauniform entsprach. Jede Uniform war anders und
bezeichnend für die Tätigkeit jedes einzelnen Herren.

AIs nun der Kaiser kam, verbeugten sich die Herren
und zwar so, dass sich die Spitzen der hundert Schulter-
federn von rechts mit denen von links oben berührten.
Und unter diesem Federdach schritt der Kaiser langsam
geradeaus dem See zu; der Kaiser trug einen langen
weissen Bart, einen einfachen roten Purpursammet-
mantel mit goldenem Gürtel und eine einfache goldene
Zackenkrone auf den langen weissen Haupthaaren.

Der Kaiser ging zum Rande des Seebalkons und
setzte sich dort auf seinen Tron; die zweihundert
Schulterfedern gingen langsam wieder in die Höhe und
standen nun wieder steil und still da.

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