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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 44 (Dezember 1910)
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Scheerbart, Paul: Der Kaiser von Utopia, [4]
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Lasker-Schüler, Else: Maria
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Hübner, Fritz: Nietzsches Bild
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0355

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„Allerdings“, versetzte der Kaiser, „Kawatko sah
mich ja schon als Obeibürgermeister von Schilda —
warum sah Kawatko nicht gleich weiter? Merkwürdig!
Kurzsichtigkeit! Propheten diirfen doch nicht kurz-
sichtig sein.“

Auf den Stiefelabsätzen drehten sich die Mitglieder
des Staatsrates herum und tranken einen Kognak nach
dem anderen. „Das geht einfach nicht!“ sagten sie
schüesslich im Chor.

^So — so!“ rief da der Kaiser; die Herren ver-
gessen ganz und gar, dass ich auch in der Lage bin,
an das Volk zu appellieren. Die Schildbiirger sind
vom Volke abgefailen, und der Kaiser von Utopia will
sich dazu hergeben, die Schildbürger in den allein-
seügmachenden Schoss [des Volkes zurückzuführen —
und da will mich mein Staatsrat verhindern, [dieses
gute Werk glanzvoll und mit Humor zu vollbringen?
Das fehlte auch noch. Das Volk ist ganz bestimmt
auf meiner Seite. Wenn Sie nicht wollen wie ich
wiH _ so wird das Volk wollen, wie ich wil! — die
sieben Gerichttiirme am Schwantufluss sind auch für
Philander den Siebenten da.“:

„Grandiosität geruhen“, sagte Kawatko scharf, „eine
andere Tonart als neulich anzuschlagen — neuüch
wollten sich Grandiosität vom Vo!ke trennen — und
heute sollen wir daran glauben, dass Grandiosität dem
Volke einen Dienst erweisen will.“

„Aber Kawatko“, rief da der Kaiser lustig, „tu
doch nicht so, als wenn Du nicht mit Schamawi ge-
sprochen hättest — der hat mich doch am letzten
Sonntag Abend bekehrt.“

Da murmelten die Mitgüeder des Staatsrates und
wurden sehr ernst — der Kaiser aber lachte lustig
und plauderte von Schilda, als wäre er schon da.

XII

Der Entschluss

Als nun die hundert Mitgüeder wieder unter sich
waren und kein Lauscher ihren Ausführungen folgen
konnte, da sassen sie alle mit geradezu verzweifelten
Mienen zusammen, und alle stöhnten laut, nur der Herr
Malke, der Historiker, lächelte und sprach:

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die Tageszeitungen sich zu den vortreffüchsten Dienern
der Volksmeinung ausbildeten — da wurde die Volks-
macht geboren — und sie ist heute wahrlich noch
nicht tot“

„Willst Du“, fragte Kawatko, „uns jetzt einen
historischen Vortrag halten? Der Zeitpunkt ist ausser-
ordentlich günstig“

„Lass ihn doch reden!“ sagten ein paar andere
Mitgüeder, und Malke, der Historiker, fuhr unbeirrt fort:

„Die Volksmacht hat sich nun im Laufe der Zeit
an allen Ecken und Kanten hiibsch abgeschliffen —
vornehmlich durch die grossen Streiks. Als die Hand-
arbeiter sich für unentbehrüch hielten, streikten sie und
kamen ans Ruder — alrer nicht für lange. Es folgte
der grosse Streik der Aerzte — und dann streikten
die Ingenieure — und dann streikten nach und nach
Alle, Alle — selbst die Dichter haben mal’ gestreikt.
Und itzo streikt sogar ein Kaiser — jetzt fehlt nur
noch, dass der Staatsrat des Kaisers streikt.“

„Dabei kommt aber“, bemerkte Kawatko, „nicht
viel raus — da ja die Ersatzleute hinter uns stehen.
Nein — mit dem Streiken geht es nicht — es ist
auch nicht richtig, wenn wir sagen, der Kaiser streike.
Das würden wir ihm schon hingehen lassen — er
könnte ja hingehen, wohin er will — wir würden
schon einen anderen Kaiser bekommen — Malke wiirde
sfcherlich . . .“

Malke erhob sich ärgerlich und sagte:

„Willst Du jetzt Witze machen? Der Zeitpunkt
ist ausserordentlich günstig“

„Nicht zanken!“ tönte es da von allen Seiten.

Und zehn Minuten später war man überein-
gekommen, dem Kaiser ein Jahr Urlaub zu geben —
zwecks Wiederherstellung eines guten Verhältnisses
zwischen Ulaleipu und Schilda.

Als dem Kaiser der Entschluss mitgeteilt wurde,
tat er sehr ernst und sprach seinen Dank in den
höfüchsten Worten aus, so dass Kawatko nicht wusste,
was er davon zu halten hätte.

Fortsetzung folgt

Maria

Träume, säume, Marienmädchen —

Ueberall löscht der Rosenwind
Die schwarzen Sterne aus.

Wiege im Arme dein Seelchen.

Alle Kinder kommen auf Lämmern
Zottehotte geritten,

Göttüngchen sehen

Und die vielen Schimmerblumen
An den Hecken
Und den grossen Himmel da
Im kurzen Blaukleide!,

Else Lasker-Schüler

Nietzsches Bild

„Ich kann dem Leser eines versprechen: dass das
ihm vorliegende Buch keinem von denen gleich wird,
die er bereits kennt.“ Diese Beteuerung darf Wilhelm
Fischer in Graz seinen Ausführungen über Nietzsche
mit Fug und Recht vorausschicken. Denn so trivial
wurde Nietzsche noch niemals verstanden, so kümmer-
lich noch niemals befehdet. Noch niemals sah man
eine so „steife Tölpelei der geistigen Gebärde, eine so
plumpe Hand beim Fassen “ Kurz, noch kein Wider-
sacher Nietzsches war ihm so wenig ebenbürtig ais
Fischer.

Die Misere fängt bei der Sprache an. Unbeachtet
blhb Nietzsches §Vorschrift und Beispiel: „An einer
Seite Prosa wie an einer Bildsäule zu arbeiten.“ Eben-
sowenig ist nachzuweisen, dass der Verfasser aus
seiner, durch mannigfache Zitate belegten Lektüre
französischer Bücher für seinen Stil etwas gelernt
habe. Sondern: Mit dem fatalen Male treuherziger
Improvisation an der Stirne schlenkern die Sätze,
schwürig von Flickpartikeln, gemütlich und ungepflegt
daher. Nur die kraftiose und ausgenützte Vokabei ist

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vervvciiuet. i\ur ais rvuappen, unu rnrgeiiüs ais /.»vni-
gende unmittelbar konkrete Formen der Anschauung
rangieren Trope und Metapher. Wie verschossen er
überdies ist, dieser Redeputz, wie seelenlos und pro-
vinzial! Oder dünken euch die folgenden Proben poe-
tischer Allerweltsphrasen etwa schön und eigenartig?
„Für mich heisst die höchste Bergspitze im Urgebirge
der Musik Beethoven“ (Seite 83). „Was den Dichter
Nietzsche betrifft, so lässt sich mit Einblick (!) behaup-
ten, dass er auch nicht den Ritterschlag von der Kö-
nigin Natur empfangen habe.“ (80.) „Zwischen den
Klippen seiner Logik windet sich das Schifflein, welches
seine Ethik a!s Fracht trägt, oft mit grosser Behendig-
keit durch.“ (14) „Wenn die Natur die Königin des
AIIs ist, so ist der Instinkt im Tierkörper ihr Statt-
halter“ (48). Gibt es ein tautologisch verschrobeneres
Gleichnis als dieses und ein ungeschickteres als das
nächste ? „Goethe, auf den Nietzsche später auch
herabblickte, freillch nur wie die Bremse, die auf dem
Scheitel eines edlen Rosses sitzt.“ (122)

Der Dichtersmann versteht aber auch ganze Alle-
gorien zu drechseln! Und niedliche Sinnsprüche, die
hier, wo es sich um ein bitterernstes Thema handelt
oder handeln sollte, unsäglich deplaziert wirken. Man
höre: „Wer die Eitelkeit zu seiner Bettgenossin macht,
der wird einen Wechselbalg erzeugen, der ihm auf die
höchste Höhe des Ruhms voranleuchtet — als Irrlicht“
(113). „Man sollt’ es übrigens doch wissen, dass Frau
Vornehmheit, mit der Nietzsche vermählt war, eine
Tochter des^Baudelaireschen Dandy war. Er hat sich
nur durch sorgliche Erziehung zu seiner ebenbürtigen
Gattin gemacht“ (129). Es ist aber dafür gesorgt, dass
die Bäume nicht in den Himmel und die Menschen
nicht bis zu Shakespeare und Goethe wachsen“ (89).
„Die Poesie verträgt bekanntlich die Pointen nicht;
sie sticht sich daran zu Tode wie Dornröschen an
der Spindel der alten Hexe“ (57). Was für unerträg-
liche Plattheiten.

Einem also Iaienhaft organisierten Kunstverstande ist
die durchseelte Metaphorik Nietzsches natüriich miss-
fällig. Beispielsweise Iehnt er einen Ausdruck wie die-
sen: „Die umfängüchste Seele, welche am weitesten
in sich laufen und irren und schweifen kann“ (Zara-
thustra) deswegen ab, weil es „keinem klaren Geist,
auch nicht in den fernsten Jahrhunderten gelingen

wird, diese Bildüchkeit in ein Bild, das heisst in die
Wirklichkeit zu übersetzen“ (106). Als ob es bei einer
Metapher einzig auf visuelle Vorstellbarkeit ankommtl
Als ob die echte, die erlebte Metapher sich überhaupt
um profane Vorstellbarkeit und nicht viel mehr um
Anschaulichkeit, das ist um eine intuitivische
Glaubwürdigkeit bewürbe! — Uebrigens, wie vertragen
sich Fischers Metaphern mit seinem eigenen Rezepte?
Gelingt es etwa einem klaren Geiste folgende Bildiich-
keit in die Wirklichkeit zu übersetzen? „Ueberlass Du
den Hass gegen das Göttliche jenem kalten Verstandes-
philosophen, auf dessen hartem Grunde kein
Gras und keine Blume wächst“ (42).

Ebenso schlotterig wie das Idiom des Buchs ist
sein Gesamtaufbau. Keine Spur von dem, was man
Komposition oder Architektonik nennt, und was sich
vorfindet, wenn der Autor „ein Ganzes geschaut und
diesem Geschauten gemäss den allgemeinen Gang und
die richtigen Masse gefunden hat“ (Nietzsche). Der
Gang dieser Schrift ist der eines behäbigen, undiszi-
plinierten Geschwätzes. Unsortiert und unvermittelt
folgen die Einfälle aufeinander. Ihre Spaltung in Ab-
sätze — niemals organisch nötig — dient lediglich als
typographischer Zierrat. Wiederhoiungen gibt es in
FüIIe. Bringen die siebenunddreissig Kapitel überhaupt
etwas anderes als siebenunddreissigmai und nicht nur
siebenunddreissig dasselbe ?

Dieses planlose Notizenheft beruft sich auf Nietzsche!
„Seine (Nietzsches) aphoristische Denkart hat nicht eine
systematisch zusammenhängende Darstellung von mir
gefordert. Ich knüpfe daher in seiner Weise an, wo
es mir interessant erscheint, und lasse den Faden
fallen, wo es nichts mehr nach meiner Anschauung
zu weben gibt.“ Wer Nietzsches aphoristische
Schreibart also flach, also willkürlich versteht, wer jenen
Geist überlegter, überlegener Harmonie, der seine
Werke bis in alle Einzelheiten determiniert, so gänz-
lich übersieht, weist der sich damit nicht schon von
vornherein aus ats unbefugt, die Dringlichkeit und
Tragweite Nietzschescher Probleme zu kritisieren?

Jedenfails ist dieses Buch, gemessen an den
Büchern dessen, den zu verkleinern es sich unterfängt,
in gedanklicher Hinsicht ebenso kindlich wie in forma-
listischer. „Den Stil verbessern — das heisst (eben)
den Gedanken verbesscrn, und garnichts weiter“ (Nietz-
sche). Was Fischer vorzubringen hat — grundsätzlich

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wie über Nietzsche — smd Gemeinplätze. Ausgeblichene,
beziehungskarge Dulzendmeinungen. Und nicht etwa
einfaltschlichte „Allgemeine Wahrheiten.“ Die sind
wohl vorhanden, sie bestehen indes in Zitaten. So-
dass jvjietzsches Rüge an D F. Strauss auch Fischern
zu erteilen wäre: „Literarische Reminiszenzen vertreten
die Stelle von wirldichen Einfällen und Einsichten, eine
affektierte Mässigung und Klugheit in der Ausdrucks-
weise soll uns für den Mangel an Weisheit und Ge-
reiftheit des Denkens schadlos halten.“ Wie gemeinplätzig
sind zum Beispiel die folgenden Auslassungen! „„Die grosse
Gesundheit.““ „Kennt er iNietzsche) sie? Hat er sie
jemals in sich gefühlt? Der die grosse Krankheit:
den Irrsinn als Keim in sich trug? Und die Natur,
die strenge und doch gerechte Mutter, lässt ihre Lieb-
lingskinder, ihre echten, vom Genius beschützten
Kinder nicht irrsinnig 'werden; sie würde sich selber
darin widersprechen, die die wahre „„grosse Gesund-
heit““ ist. Aber die wider sie sündigen auf irgendeine
Weise, die ihr mehr abtrotzen wollen, als sie geben
will, die straft sie nicht selten mit Irrsinn. Das ist
hart gesprochen, aber hat Nietzsche weich geredet?“
(122). Oder: „„Aus der ehemaügen Wahrheit . . .
kriecht die Unvernunft wie ein Gewürm später ans
Licht,““ sagt Nietzsche. Das sind feine sophistische
Fechterstreiche, deren sich der grosse Wortkünstler be-
dient, bei dem nicht nur das Wort am Anfang, sondern
auch am Ende aller Dinge Iiegt, und die Natur selbst
besiegt hat; — und mittelst dieser Kunst will er die
ewig reine und gesunde Wahrheit zwingen sich in das
Bett des verwesten Irrtums zu legen. Was ihm doch
die arme Wahrheit angetan hat, um sie wie ein Gross-
inquisitor derart zu verdammenl Das Licht ist doch
eine Wahrheit der Erde, uud die Wahrheit ein Licht
der Menscheit. Und Nietzsche, der von sich sagt:
„„Wir Nebenbuhler des Lichtstrahles,““ wird doch so
viel Achtung vor diesem Lichtstrahl naben, um dessen
Wirklichkeit nicht zu bestreiten, da er sonst die eigene,
des Nebenbuhlers, bestritte.“ (168). Seinen Triumph
feiert dieses altkluge Denken auf Seite 76, wo es
heisst: „Entspricht der Erfahrung, der Wirklichkeit ein
Gedanke, wie dieser: „„Das ganze menschliche Leben
ist, tief in die Unwahrheit eingesenkt —““? Wenn es
das ganze menschliche Leben ist, so gehört auch seines
(Nietzsches) dazu; dann folgt daraus, dass auch seine

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