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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 56 (März 1911)
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Strindberg, August: Die Drangsale des Lotsen: Ein Märchen
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Mehr Kinder
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Freud, Sigmund: [Antwort auf eine Rundfrage]
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0450

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Mehr Kinder

Es werden hier weitere Antworten auf unsere Rund-
frage über die Zweckmässigkeit der Paragraphen 6 und 8
des vorgeschlagenen Qesetzes zur Bekämpfung der
Kurpfuscherei veröffentlicht. (Siehe Nummer 53 und 54
und 55 dieser Wochenschrift.) Die Paragraphen lauten:

§ 6 Der Bundesrat kann den Verkehr mit Gegen-
ständen, die bei Menschen die Empfängnis verhüten
oder die Schwangerschaft beseitigen sollen, beschränken
oder untersagen.

Soweit der Bundesrat den Verkehr mit einzelnen
Qegenständen untersagt hat, ist deren Einfuhr ver-
boten.

§ 8 .... Mit der gleichen Strafe (Gefängn s

bis zu sechs Monaten und Geldstrafe bis zu 1500 Mark)
wird, wenn nicht nach anderen gesetzlichen Bestim-
mungen eine schwerere Strafe verwirkt ist, bestraft,
wer öffentlich anzeigt oder anpreist, Gegenstände oder

Verfahren, die den Menschen.zur Verhiitung

der Empfängnis oder zur Beseitigung der Schwanger-
schaft dienen wiirden.

Professor Dr. Sigmund Freud:

Das Verbot des „Verkehrs mit Mitteln zur Ver-
hütung der Konzeption“ ist eine ganz zwecklose Mass-
regel. Das nächstliegende, bequemste und gebräuch-
lichste Mittel zur Verhütung ist, wie bekannt, die vor-
zeitige Unterbrechung des Coitus, sodass der befruch-
tende Same ausserhalb des weiblichen Körpers entleert
wird. Kein Polizeiverbot kann ein Ehepaar hindern,
sich dieser Methode zur Beschränkung der Kinderzahl
zu bedienen. Die ärztliche Technäk hat sich bemüht,
dieses einfache, aber für Mann und Weib schädliche
Verfahren durch das Angebot von hygienisch einwands-
freieren Mitteln zu verdrängen. Wird nun der Ver-
kauf dieser bei weitem harmloseren Hilfsmittel gegen
die Konzeption gesetzlich untersagt, so wird die Be-
völkerung unzweifeihaft auf uic schädlichere Praxis
z'.T-ücJcgfÄfer..- •

Zur Beantwortung von Punkt drei aind vier er-
kläre ich mich gern für inkompetent.

Franziska Schultz:

Es ist unbedingt zu wünschen, dass jedent das
persönliche Recht erhalten bleibt, die Zahl seiner
Kinder selbst zu bestimmen. Sie sollte sich nicht nur
nach dem Gesundheitszustand der Eltern, besonders
der Frau, richten, sondern auch nach der Ernährungs-
möglichkeit, die die Familie bieten kann. Eine die
Gesundheit der Frau und die Einnahmen der Familie
übersteigende Kinderzahl schädigt nicht nur die Familie
selbst, sondern auch das Staatsvermögen in weit höherem
Mass als es scheinen mag. lch veröffentliche hier
aus meiner praktischen Arbeit im Bund für
Mutterschutz Tabellen über die Kinderzahl in Arbeiter-
familien. Es sei noch bemerkt, dass nur solche Fami-
lien dabei in Frage gekommen sind, die über fünf
Kinder haben, und dass der Auszüg 150 Fragebogen
umfasste.

F r a u B. Leidend, der Mann gesund, das
neunte Kind. 13 Jahre verheiratet.

F r a u T. Arbeitsunfähig, das achte Kind.

F r a u K. Die Familie des Mannes tuberkulös.
12 Kinder, sieben davon tot, die lebenden
tuberkulös, 14 Jahre verheiratet.

F r a u P. Der Mann lungenkrank und arbeits-
unfähig, sechs Kinder, zwei davon tot.

F r a u N. Schwindsüchtig und nervenkrank,
sieben Kinder, geboren 1899, 1901, 1903, 1905,
1908, 1909, 1910, ist 13 Jahre verheiratet.
Die Kinder sind herz- und lungenkrank, die
von drei und zwei Jahren können noch nicht
laufen, das dreijährige hat schon zweimal
Lungenentzündung gehabt, das zweijährige den
Fuss gebrochen.

F r a u W. Der Mann krank, sechs Kinder. 13
Jahre verheiratet.

F r a u R. Der Mann lungenkrank, fünf Kinder.
14 Jahre verheiratet.

F r a u B. Herz- und nervenkrank, sechs Kinder,
eins davon tot, 1903, 1905, 1906, 1908, 1910.
9 Jahre verheiratet.

F r a u W. 17 Kinder, 10 davon tot, 25 Jahre
verheiratet. Sehr nervös, der Männ ohne
Arbeit.

F r a u H. 13 Kinder, vier leben, die alle lungen-
krank sind, eins auch noch nierenkrank und
wassersüchtig. Der Mann ist schwindsüchtig
und arbeitsunfähig. Die Frau steht am vierten
bis fünften Tage nach der Entbindung auf,
„lch habe eine gute Natur!“

F r a u S. Sieben Kinder, zwei davon tot. Der
Mann sieben Wochen arbeitslos.

F r a u E. Sechs Kinder, elf Jahre verheiratet,
der Mann ist häufig krank.

F r a u K. 12 Jahre verheiratet, neun Kinder,
drei davon tot; die beiden ältesten Kinder
krank.

F r a u C. 43 Jahre alt, 24 Jahre verheiratet,

20 Kinder, von denen nur noch fünf leben.

Der Mann, 47 Jahre alt, lungenkrank und

erwerbsunfähig, hat die Frau seit zweieinhalb
Jahren verlassenl „Ich bin ihm zu alt.“

F r a u N. 33 Jahre alt, 14 Jahre verheiratet,

sechs Kinder, der Mann arbeitsunfähig, lungen-
krank.

F r a u A. S. 36 Jahre alt, 7 Jahre verheiratet»
sechs Kinder, geboren 1901, 1905, 1906, 1907,
1908, 1909, haben alle die englische Krank-
heit, der Mann arbeitsunfähig, lungenkrank.

F r a u A. G. 36 Jahre alt, acht Kinder, ge-
boren 1897, 1899, 1900, 1901, 1905, 1907, 1909,
die krank sind. Der Mann ist immer
krank.

F r a u A. L. 32 Jahre, acht Jahre verheiratet,
fünf Kinder, der Mann krank, Gehirnstrinver-
eiterung, Bauchfellentzündung.

F r a u A S. 36 Jahre alt, 13 Jahre verheiratet,
acht Kinder, zum Teil krank (Schwindsucht).

F r a u M. H. 30 jahre alt, sieben Jahre ver-

heiratet, fünf Kinder, zum Teil krank Der
Mann krank, Gelenkrheumatismus, die Frau
nervenleidend.

F r a u A. G. 40 Jahre alt, seit 17 Jahren ver-
heiratet, neun Kinder, das älteste ist 13 Jahre
alt und lungenkrank, die anderen Kinder auch
immer krank, die Frau auch.

Frau L. D. 34 Jahre alt, neun Jahre ver-

heiratet, sieben Kinder, davon eins tot, der
Mann arbeitsunfähig.

F r a u B. M. 29 Jahre alt, sieben Kinder, zwei
tot, grösstes Elend.

F r a u A. L. 37 Jahre alt, 18 Jahre verheiratet,
elf Kinder, sieben davon leben, grösste Not.
Eltern krank, Vater brustleidend.

Frau A. T. 3? Jahre alt, 12 Jchre verbeiratet,
elf Kinder, vier tot, der Mann krank.

Frau S. 39 Jahre alt, 15 Jahre verheiratet,

neun Kinder, geboren 1894, 1895, 1897. 3899,
1901, 1902, 1905, 1907, 1908. Der Mann seit
neun Jahren brustleidend.

F r a u W. 25 Jahre alt, 9 Jahre verheiratet,
acht Kinder, vier tot davon, die lebenden
krank, englische Krankheit, lungenkrank, ver-
wachsene Füsse, Lungenentzündung, dreijähriges
Kind kann noch nicht laufen wegen verwach-
sener Füsse.

F r a u M. S. 40 Jahre alt, 24 Jahre verheiratet,
acht Kinder, zwei davon tot. Die Frau und
die Kinder sind schwindsüchtig.

F r a u C. B. 34 Jahre alt, acht Jahre verheiratet,
sieben Kinder, eins davon tot. Der Mann
schlägt sie, wenn sie in anderen Umständen
ist.

F r a u J. 44 Jahre alt, 13 Kinder, davon leben
vier Kinder.

F r a u R. 24 Jahre alt, sechs Jahre verheiratet,
acht Kinder, drei davon leben.

Frau G. T. 35 Jahre alt, sechs Kinder.
Grosse Not.

F r a u C. F. Sieben Kinder, grösstes Elend.

F r a u E. T. 41 Jahre alt, 17 Jahre verheiratet,

neun Kinder, vier davon tot. Grösste Not.

F r a u S. 27 Jahre alt, sieben Kinder. Der
Mann ist krank.

F r a u E. T. 47 Jahre alt, neun Kinder, sieben

davon tot. Der Mann ist an Tuberkulose ge-

storben, die Frau schwer herzkrank.

Das Resultat der Fragebogen zeigt auf das klarste,
wie eine die Verhältnisse übersteigende Kinderzahl die
Existenz der Familie vernichtet, sowie das Vermögen
des Staates schädigt; denn ein Teil dieser Familien
erhalten Armenunterstützung. Durch Geburten, Krank-
heiten, Tod, Begräbnis undsoweiter werden die wenigen
Mittel, die zur Erhaltung der Familie dienen sollten,
aufgezehrt. — Die Angst um die Versorgung der
Familie, Geburten, Krankenpflege, Tod untergraben die
Gesundheit der Frau.

Schlechte Ernährung, übermässige Arbeit und das
Gefühl der Ohnmacht, nicht soviel herbeischaffen zu
können, wie die Erhaltung der Familie es erfordet,
schädigt die Gesundheit des Mannes; nach kaum
überstandener Krankheit muss er die Arbeit wieder
aufnehmen und bis zur Selbstvernichtung schaffen,
wenn nicht die Familie dem grössten Elend anheim
fallen soll. Die Folge der Not ist gewöhnlich der
Alkoholgenuss und damit wird die wirtschaftliche Lage hoff-

nungslos. Es muss durch sachgemässe Belehrung da-
hin gewirkt werden, dass der Kinderunsegen wie- man
ihn wohl in vielen Fällen nennen muss, eingeschränkt
wird. Es sollte durch die Erziehung des Volkes zur
Selbstzucht ein besseres und reineres Fainilienleben
angebahnt werden. Die Wohnungsenge, die Teuerung
und die bitteren Sorgen, wenn Geburt und Tod
schnell miteinander abwechseln, machen ein geordnetes
Familienleben in der armen Bevölkerung fast unmög-
lich. Schaffung luftiger, grosser wohlfeiler Wohnungen
wäre eine der ersten Forderungen.

Bei Schwindsucht, ansteckenden Geschlechtskrank-
heiten und in ähnlichen Fällen sollte die Konzeption
unbedingt verhindert werden. Man sollte die Menschen
zu einem hohen Verantwortungsgefühl für das
kommende Geschlecht erziehen. Auch wenn sie die
Ehe nicht entbehren wollen, sollten sie doch keinen
Kindern das Leben geben, die ein so schlimmes körper-
liches Erbteil von den Eltern übernehmen würden. Es
müsste der höchste Wert darauf gelegt werden, g e -
s u n d e n Kindern, wenn auch wenigen, das Leben
zu geben, und es sollten Einrichtungen geschaffen
werden, die der Mutter schon lange vor der Geburt
des Kindes ausreichende Ruhe und Ernährung sicherten,
und die so die Möglichkeit für die Mutter erhöhen,
lebenskräftige Kinder zur Welt zu bringen.

Die Drangsale des Lotsen

Ein Märchen von August Strindberg

Der Lotsenkutter lag draussen vor den letzten
Leuchtfeuern; die Wintersonne war längst unterge-
gangen, und es war hohe See, richtige Meeressee. Da
signalisierte der Vordergast: Segler luvwärts.

Draussen in See hatte eine Brigg backgebrasst die
Lotsengans gehisst; sie wollte in den Hafen.

Aufgepasst! kommandierte der Meisterlotse am
Ruder. Der wird schwer zü nehmen sein bei solche 1
'See; aüer Du, V’iktor, wir nehmeii ilm üei aei Lec-
vierung, dann wirst Du Dich ins Takeiwerk werfe
wo Du ankommen kannst . . . Jetzt wenden wirl
— Klar!

Der Kutter wendete und hielt auf die Brigg, die
dalag und „haute“.

Sonderbar, dass sie nicht vollbrasst! — Seht Ihr
ein Licht an Bord! — Nein ! — Und keine Laterne
am Vordertopp! — Voll! — Aufgepasst, Viktor!

Der Kutter kam zu voll; Viktor starid auf der
Luvseite, und als eine grosse See das Boot das
nächste Mal hob, sass Viktor oben in den Wanten
der Brigg, während der Kutter weiter fuhr, wendete
und auf das Einseglungsfeuer hielt.

Viktor sass halbwegs auf der Saling und verpustete
sich, ehe er sich aufs Deck begab. Als er hinuter-
kam, ging er sofort ans Ruder, wo sein Platz war.
Man kann sich seinen Schreck denken, als er niemand
am Rad fand. Er rief, aber bekam keine Antwort.

Sie sitzen wohl drinnen und trinken, dachte e
und ging ans Kajütenfenster. Nein, da war niemand!
Er ging über das Vorderdeck, zur Kabuse und Schanze,
aber auch da kein lebendiges Wesen. Er begrih,
dass das Fahrzeug verlassen war, und nahm an, es
sei leck und befinde sich in sinkendem Zustand.

Er guckte jetzt erst nach dem Lotsenkutter, aber
der war verschwunden. Ans Land zu steuern war
unmöglich, denn Brassen, Geitaue und Bulinen zu
halten und gleichzeitig am Ruder zü stehen, dara;;
war nicht zu denken.

Es blieb nichts übrig, als sich treiben zu lassen,
obwoh! er auf die See hinausgetrieben wurde.

Froh war er nicht, aber eine Lotse ist auf alles
gefasst. Sicher würde ein Segler vorbeikommen, weun
er nur Licht machen könnte, um ein Signal zu geben.
Er ging nach der Kabuse, um Streichhölzer und eine
Laterne zu suchen. Obgleich die See sehr hoch ging,
merkte er keine Bewegung des Fahrzeuges, was ihn
wunderte. Noch mehr erstaunte er, als er an den
Grossmast kam und sah, dass er auf einem Parkeit-
boden stand, der in weiss und blau ein kleinkariert-s
Muster zeigte. Er ging und ging, doch der Läufer
wollte kein Ende nehmen, und er sah die Kabuse
nicht mehr. Es war allerdings unheimlich, aber zu-
gleich lustig, denn es war neu

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