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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 43 (Dezember 1910)
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Unger, Erich Walther: Die Gehemmten
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Walden, Herwarth: "Bücher zu Geschenkzwecken", [2]
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Hiller, Kurt: Fliegenklappe
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Beachtenswerte Bücher
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0350

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dasl Zwei grössere Gegensätze sind garnicht
denkbar: der bebrillte, verkrüppelte, dreihundert-
jährige Tatsachensucher — und der elegante*
wunderbar anzusehende Aesthetenmensch —
im wichtigsten Punkte gehören sie völlig zu
ein und demselben Menschen — Genre: Das
Niveau ihres Geistes ist völlig gleich. —
Lass mich ausreden, lieber Leo, ich werde es
Dir nachweisen Ich will mir nicht einen
beliebigen Aestheten aussuchen, sondern aner-
kannte Typen dieser Klasse: ich werde die
Schöpfungen von Wilde und Huysmans zum
Paradigma nehmen. Am schärfsten springt es
bei Huysmans in die Augen. Du kennst seinen
Roman: „Gegen den Strich“, in dem jener
Herzog Des Esseintes vorkommt, ein einziger
zuckender Nervenkomplex, das Extrem derer,
die vom Schönheitsfieber befallen sind. In
der betäubenden Atmosphäre dieses Buches
passiert kaum eine Handlung; es zittert und
leuchtet in Farben, es weht von Düften, die
Empfindungen des Geschmackes wachsen zu
ungeheuerer Bedeutung an, nirgends empfun-
dene optische Reize von tausend seltsamen
Steinen, abnormen Pflanzengebilden lässt der
kranke Duc des Esseintes auf seine Augen-
nerven wirken Das Phänomen dieses Herzogs
ist folgendes: Zwei Sphären gibt es, aus denen
sich die Menschen die Sensationen ihres
Lebens holen können: die Sphäre der äusseren
Gegenstände und die Sphäre in der die
äusseren Gegenstände in ihrer Selbständigkeit
aufgehoben sind und nur als Symbole anderer
Gegenstände figurieren, die nicht unmittelbar
der äusseren Erfahrung angehören, kurz, die
Sphäre der Sinnlichkeit und die des Denkens.
Der Geist, der zu schwach ist, sich auf der
Ebene des Verknüpfens und Auflösens der
Gegenstände zu halten, sinkt unweigerlich auf
die Ebene der Gegenstände selbst herab, das
heisst: er freut sich am Tatsachensammeln
oder am optischen Reiz der Steine und Pflan-
zen. Hier hast Du die innerste Gemeinsam-
keit des Wissenschaftsmaulwurfs und des
Aestheten. Quod erat demonstrandum.

Das Mädchen: Na, adjö

Harry erstaunt: Aber, Fräulein, warum gehen Sie
weg —

Das Mädchen: Jao. Sie geht.

Beide sind sehr erstaunt, aber im Grunde ihres Herzens
nicht verstimmt.

„Bücher zu Qeschenk-
zwecken“

Ein bel esprit hat richtig herausgefunden, dass
diese Bemerkungen über Biicher von „einem koketten
Historismus“ dirigirt werden. „Ein Wühlen in ab-
sterbenden oder abgestorbenen Erinnerungswerten, in
Urzeitpetrefakten — und nicht einmal aus Ueberzeugung
— das will ich von dieser prätentiös modernen Zeit-
schrift nicht glauben — sondern einfach um der über-
raschenden Haltung willen. Wollen Sie das Dasein
einer zeitgenössischen Literatur Ieugnen ?“

Nein, Aber die Dichtigkeit dieses Daseins ist ein
Problem, weil wir Bewustseinserlebnisse in uns vor-
finden, die sich weit iibei die Grenze der Inhalte er-
heben, die die zeitgenössische Kunst in sich aufge-
nommen hat. Eine weit schlechtere Literatur kann ihrer
Zeit geniigen, wenn eine Gleichheit ihrer Inhalte be-
steht. Aber in unserer Zeit ist die anspruchloseste
aller geistigen Betätigungen die ästhetische. Diese In-
kongruenz webt sich gefühlmässig dem Kunstwerk ein:
und längst historisch gewordene Dichtungen tragen diesen
Charakter ihrer Epoche in sich, wie ihn die meisten
ästhetischen Produkte unserer Zeit in die Geschichte
tragen werden. Und um dieses Gefühl einer bestehenden
Widerspruchs praktisch zu entblössen, es wach zu er-
halten, weise ich auf reinere Kunstwerke vergangener
Zeiten zuriick: obschon ich zu bedenken ersuche, dass
diesem Charakter eine heitere, wiilige Aufnahme ge-
nau entspricht. Es ist selbstverständlich, das diesen
Werken nach Möglichkeit jeder äussere Schein eines

historischen Daseins genommen wird: genau dies ist
die psychologische Bedeutung zeitgemässer Neuaus-
gaben.

Die Tätigkeit der meisten Verleger ergriff zunächst
die standard works. Es ist das besondere Verdienst
des Verlages Georg Miiller in München, dass er peri-
pherischen Geistern zu ihrem Recht verholfen hat. Und
nicht nur die Deutschen, sondern auch die grossen
Dichter der Fremde.

Als Prototyp dieser Bemiihungen sei zuerst die
Maassenschen Ausgabe der Werke E. T. A Hoffmanns
genannt. Prachtvoll im Aeusseren, gewissenhaft im Text-
lichen, stilvoll bis zur Seitenzahl: so stellt sich ein ganz
neuer lypus einer wissenschaftlichen Edition in dieser
Ausgabe dar. Der „Zeitgeschmack“ ist unseren Be-
dürfnissen leise angepasst, eine ausgezeichnete Type von
ungemeiner Klarheit ermiidet nie, zahllose Beigaben
hoffmannscher Zeichnungen verstärken die Eindrücke
des Lesers: es ist eine Athmosphäre von Leben um
diese Bände, die jedem Bücherliebhaber bei der leisesten
Annährung in den Fingerspitzen zittern muss. Im
Uebrigen ist iiber E T. A. Hoffmann in dieser Zeit-
schrift ausführlich abgehandelt worden.

Solider, mehr ein geiehrtes Interesse ausprägend
bietet sich die Ausgabe der Werke Brentanos an, die
zum ersten Mal das gesamte Material veröffentlichen
wird. All die Seelenzustände, die sich in der Breite
eines Jahrhunderts entfaltet haben, blitzen irgendwann
in diesem Werk einmal auf. Aber es bedarf eines
willigen Geistes, um Brentano als das Wunder zu er-
leben, dass seine Freunde begeistert entflammte: es
bedarf Verständnis für den Reiz, den die Verkuppelung
von Hohn und Buße in der empfindsamen Brust aus-
löst. Es gibt Verse von Brentano, die wie aus Traum
hervorzurinnen scheinen: Verse die sich in Legenden
verflechten, als seien die Fragmente einer alten Kloster-
schrift. Keiner seit Calderon hat die Ekstase des
katkolischen Gefühls so empfunden wie er: keiner das
Erlebnis der Sünde so wie er erlitten: wie aus ganz
verkrustetem Herzen der milde Strom menschlichen Sehnens
hervorbricht. Alle Schmerzen des Frühlings sind in
dieser grossen Dichtung, die er „Frühlingsschrei eines
Knechtes aus der Tiefe“ überschrieben hat. Und der
gleiche Geist gestaltet sich zu dem mondlichtumflossensten
Märchen deutscher Sprache: zu jener Gockellegende,
die die Süße Eichendorffscher Nachtgedichte mit der
geheimnissvollen Weltgefühlen durchsättigt. Diese neue
Brentano-Ausgabe reizt zu neuen Entdeckungsfahrten:
ich glaube nicht, dass ein empfänglicher Geist ohne
reiche Fracht zurückkehrt.

Tief in die Probleme unserer Zeit führen die Ge-
samtausgaben zweier Dichter, die gleichsam das neun-
zehnte Jahrhundert in die Literatur ihres Landes ge-
bracht haben: Gogol und Thackerey.

Die Werke Gogols, die Otto Buek herausgibt,
bieten zum ersten Mal den Dichter in deutscher Sprache
dar, der die literarische Union Russlands mit Europa her-
beiführte. Schon seine Problemstellung ist neu: sein
Held ist die Masse. Da seiner Darstellungskraft ideale
Persönlichkeiten fern lagen, gab er die Kleinlichkeit der
Verachtung preis; indem er die Chlestakows und Tschit-
schikows in ihrer holen Brutatität entblösste, stellte er
das Beispiel hin: so sollt Ihr nicht sein. Aber man
darf über diese gleichsam nur sekundären Bemühungen
des Moralisten nicht vergessen, dass sie nur Versuche
eines ideal bemühten Geistes sind, seine Beschäftigung
mit dem Kläglichsten der Zeitlichkeit zu rechtfertigen:
so zu rechtfertigen, dass er selbst daran glauben konnte.
Die moralische Rechtfertigung hatte für ihn den Wert
eines Schlüssels, der die sonst vielleicht verschlossenen
Pforten öffnet: jetzt liegt die Welt in Breite vor ihm
und er kann sich in die Wirklichkeit, in ihre Torheiten
und Lächerlichkeiten mit seiner wahrhaft homerischen
Liebe zum Detail versenken, ohne seiner idealen
Sehnsucht etwas zu vergeben. So gestaltet sich dieses
grosse Werk: Die toten Seelen, und als sein Gegenspiel in
der Traumsphäre der Abenteuer entsteht die Kosaken-
iliade des Taras Bulba und die Heimatserzählungen, die
Schwermut und romantische Idylle innig verschwistern.

Fortsetzung folgt

Pliegenklappe

Der neue Klub bittet um Veröffentlichung der folgenden Erklärung

Eines jener Blättchen, deren Namen niemand in
den Mund nehmen kann, ohne sich dem Verdacht aus-

zusetzen, er sei Koprophage, untersteht sich, das Ge-
räusper zu veröffentlichen, womit irgend so ein Un-
gebetener, so eine Fliege, so ein anonymer Kommis
das Neopathetische Cabaret „kritisch-ridikül“ würdigt.
Wahrhaftig höchst ridiküi, gegen Lyrik einzuwenden,
dass sie keine „Tatsachen“ enthalte, — und aus dem
Faktum, dass man ein Kunstwerk nicht kapiert hat,
zu schiiessen, das müsse an dem Kunstwerk liegen:
als ob schon jemals einem Rhinozerosse, welches sich
in einem Spiegel beschaut, ein anderes Bild ais das
eines Rhinozerosses entgegengeleuchtet hätte.

Es erübrigt sich daher, das Blech zu beklopfen,
das besagter Ladenschwengel über die Dichterin Else
Lasker-Schüler und den Dichter Georg Heym geäussert
hat. Freilich klebt an dem Blech der üble Rost von
allerhand Phantastisch-Anekdoteskem. Die wesentlicheren
Unwahrheiten seien hier richtiggestelltn. Wir
werden beschuldigt einer „Missachtung vor dem für
einen überwundenen Standpunkt erklärten Schiller“,
wir hielten aber „nicht nur Schiller, sondern zum Beispiel
auch^ (I) Ludwig Fulda und andere Dichter (I) für ab-
getane Grössen“. Diese Vorwürfe treffen uns nicht;
der erste schon aus grammatikalischen Gründen nicht:
insofern niemand aus unserem Kreise sich dazu bereit
finden würde, einen Menschen für einen Standpunkt
zu erklären; — der zweite einfach deshalb nicht, weil
man jemanden doch nur dann für eine abgetane
Grösse halten kann, wenn man der Meinung ist, er
sei früher mal eine wirkliche „Grösse“ gewesen;
ais welches im Falle Fulda zu behaupten den An-
schauungen, denen wir huldigen, nicht entspräche. Im
übrigen haben wir an unseren iiterarischen Abenden
Wichtigeres zu tun, als an Schiller oder Fuida Judikaturen
zu heften, und die uns insinuierten Stellungnahmen hat
sich die Fliege aus den Beinchen gesogen Schwindel
ist ferner, dass der Vorsitzende des Neuen Klubs mit
einem berühmten Strafrechtslehrer „zusammen an einem
juristischen Werke arbeitet, also ein ganz vernünftiger
Mensch sein muss“. Da die Prämisse entfällt, erhält
der Herr Kommis hoffentlich auch die beleidigende
Schlussfolgerung nicht mehr aufrecht. Es ist weiss
Gott kompromittierlich, in jenem sauberen Blatte der
Vernünftigkeit geziehen zu werden . . . Mit ganz be-
sonderer Stosskraft aber muss man die Bezichtigung
zurückweisen, dass wir uns „die Haare bis in den ge-
krümmten Nacken hineinwallen lassen“. Solche Ge-
bräuche seibstverständlich — das war schon den Press-
piraten zur Zeit der Völkerwanderung bekannt; oder
sollte die Schablone noch älter sein? — sind das
Kriterium völiiger Talentlosigkeit und Verrottung. Nun
frage ich aber jeden, der uns kennt, auch die sach-
lichen Gegner, ob wir diesen Vorwurf des wallenden
Haarwuchses tatsächlich verdienen? Auf Ehre und
Gewissen: sind meine Freunde nicht sämtlich kurz-
geschoren?? — Der Einzige, der sich getroffen fühlt,
bin ich. Nun gut: das nächste Mal werde ich mir
die Locken schneiden lassen.

Kurt Hiller

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Ausführliche Besprechung vorbehalten
Rücksendung findet in keinem Falle statt

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LITERATURGESCHICHTE

Erster Teil: Bibliographie / 1908 und 1909

B. Behn Verlag / Berlin-Zehlendorf

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HERWARTH WALDEN / BERLIN-HALENSEE

Verantwortlich für die Schriftleitung in Oesterreich-Ungarn
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