Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

DOI Heft:
Nr. 30 (September 1910)
DOI Artikel:
Dehmel, Richard: Das Rätsel des Schönen
DOI Artikel:
Scheu, Robert: Das Duell
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0243

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
besitzen, Leute von sehr unnormaier, eigenartiger
Empfänglichkeit: diese suchen sich selbst und an-
dere über die empfangene, sehr verschiedenartige
Wirkung durch Meinungsaustausch aufzuklären, und
so übertragen sie allmählich,meistens sehr allmäh-
liCh, die Wirkung auch auf alle die vielen viel nor-
maferen Menschenkinder, die vorläufig leider noch
sehr wenig eigenen Kunstsinn im Leibe haben.

Aber auch an dieses kleine Häuflein „wendet
sic'h“ der iKünstler nicht mit seiner Schöpfung;
er wendet sic'h an alfe — alle ohne Ausnahme ! —
an den „Zulukaffer“, dem der tiefgehende Herr
die Empfängfichkeit für Beethoven etwas! weit-
gehend abspricht, so gut wie an den Uebermen-
schen, der da kommen soll. Qemeinhin hennt
man das: er wendet sich an die Menschheit. Die
aber wird zu jeder Zeit in jedem Volk nur durch
die oft zitierten „Besten seiner Zeit“ vertreten, und
deren gibts 1 bekanntl’ich niemals „viele“; für den
Allerbesten aber hält der Künstler mitVerlaub sich
selber, weil eben er es ist, der aus den Besten das
Beste, auch das bestialisch Beste, schöpferisch zu-
sammenfaßt. Und weil der Allerbeste ihm gerade
gut genug ist, sich an ihn zu wenden, so wendet sich
der Künstler — an sich selbst, an alle und an
keinen. Sein Werk zwar wirkt auf alle (verschie-
dentlich nafürlich, auf die meisten scheinbar gar
nicht, das heißt nur mittelbar und unbewußt) —
aber der Zuschauer, auf den er seine Wirkungen
berechnet, ist keiner afs er selber: der Mensch
in ihm, der Mitmensch wie der Uebermensch, Tier
so gut w’ie Gott. Da sind wir schon mitten jm
Metaphysischen drin, im mystischen Einklang von
Ich und jAII.

Und dieser Zuschauer, dieser einzige „Normal-
zuschauer“, den es für den Künstler gibt, dieses
unnormal normale Exemplar der Qattung „MensCh“
— denn niChts ! wirdNorm, HerrDoktor, was niCht
anfangs gegen eine Norm war — womit nun nicht
gesagt sein soll, daß alles Abnorme Niorm zu wer-
den vermag —: also dieser Selbstzuschauer ist der
Künstfer nicht bloß, wie Sie meinen, bei der „Kon-
zeption“, sondern während seiner ganzen Schaf-
fensarbeit, vom ersten unwillkürlichen Anstoß an,
der ihm daS Urbild seiner Schöpfung über die
Bewußtseinsschwelle hebt, bis zum letzten über-
fegten Kunstgriff, mit dem er den Eindruck dieses
Urbildes möglichst vollkommen auszudrücken sucht.
Ja, noch darüber hinaus bleibt er sein einziger
Normalzuschauer, denn nur Er kann wirklich er-
messen, in wefchem Qrade sein Werk vollendet
ist, das heißt die Wirkung des Urbildes Von sic'h
gibt; nur ihm ist diese Wirkung ja bekannt.

Nun wird der Herr Doktor der Philbsöphie
mich wohi für einen rohen „SubjektiVisten“ erklären,
am Ende gar für einen „Nietzscheaner“, der keine
Ahnung von dem UntersChiede zwischen „univer-
saten“ und „partikularen“, geschweige zwischen
„apodiktischen“ und „assertorischen“ Urteifen habe.
Aber nur Geduld, wir werden uns ! auch ohne philo-
sophischen Jargon verständigen! Ich liebe nämlich
die Frerndwörter nicht, die aus! der „klassischen
Epoche“ stammen; es stecken mir zu viel „überlebte
Begriffe“ dahinter, zu viel „allumfaslsende Theorie“,
zu viel „unberechtigte Trennung zusammengehören-
der ErsCheinungen“. Eine Wahrheit läßt sich für
Deutsche auf gut Deutsch am verständlichsten
sagen, und was mir „subjektiv“ ein Unsinn scheint,
kann mir auch „objektiv“ nicht imponieren; das
sind mir sehr zusammengehörige Begriffe.

Genau sb unberechtigt wie deren Trennung
scheint mir aber .auch die Mischung unztusammen-
gehöriger Begriffe, die in den Fremdwörtern der
deutschen Schriftgetehrten seit alters gang und gäbe
ist. Da wird ein ( sofehes Wort, zum Beispiel
Norm, zuerst in einer sehr normafen, das heißt
gewöhnlichen Bedeutung gebraucht, und ehe man
sichs versieht, ist ihm auf einmal eine normative,
das heißt gesetzliche Bedeutung untergeschoben.
Das ist aber keine Wissensehaft, Herr Physiker:
das ist Schulmeisterei! schlimmere als sie sich je
ein Metaphysiker erläubt hat; denn der maCht seine
Kunstgebote doch nur von seiner allerhöchsteigenen
Weisheit abhängig, Sie aber (selbstverständlicb
gleiChfalls bloß in — unbewußter Selbsttäuschung)
von der Weisheit des Bildungspöbels.

Betrachten wir einmal recht gründlich Ihren
eigenen Satz, Herr Doktor: „ein jedes Kunstwerk
hat, auch wenn es von seinem Schöpfer noch kei-
nem anderen MensChen mitgeteilt ist, schon einmal
die es charakterisierende (zu deutsch: ihm eigen-

tümliche) Wirkung aus'geübt; nämlich auf den
Künstfer selbst!“ Damit bin iCh, wie Sie sahen,
völlig einverstanden. iCh gebe Ihnen auch noch
weiter zu, daß diese Wirkung im Künstfer „mit
wahrscheinlich viel stärkeren Qefühlen als bei dem
nachempfindenden Zusdhauer“ vor sich geht. Auf
den „ähnlichen OedankenVerlauf“ im Künstler und
im Zuschauer kornmt es zunächst noch gar nicht
an; Gedanken macht man sich bekanntlich erst auf
Grund von Vorstellungen infolge von Empfin-
dungen. Und wie gesägt: niCht bloß „wahrschein-
liCh“, söndern ganz unzweifelhaft, und nicht bloß
während, Sondern auch noch nach der Schaffens-
arbeit wird der ganze Ablauf von Empfindungen,
Vorstellungen und daraus sich ergebenden Ge-
danken, die ein bestimmtes Kunstwerk erzeugt
haben und dessen eigentümliche Wirkung aus-
machen, in keinem so vollkomimen wieder auftreten
wie im Erzeuger selbst. In jedem anderen wird
sich die Wirkung, je nach 1 seiner sinnlichen und
geistigen BesChaffenh'eit, nur teil'weise oder in
verändertem Verhältnis der Bestandteile wieder-
hofen. Würden siCh sonst wohl die Gelehrten
noch immer über „Hamlet“ in den Haaren liegen?

Wil'l also jemand die Frage „Was ist schön“
beantworten, und glaubt er, daß die sthöne Wir-
kung gleichbedeutend mit der Kunstwirkung sei,
so muß die Antwort allererst die Tatsache berück-
sichtigen, daß ein bestimmtes Kunstwerk niemals
„mit Notwendigkeit“ als solches wirkt, sondern nur
auf jeden Einzelnen 'in anderer Weise eigentüm-
lich, in seiner vollen Eigentümlichkeit nur auf den
SChöpfer des Werkes.

Nun aber hält der Einzelne nur sölche mensch-
lichen Erzeugnisse für wirkliche und echte Kunst,
die gerade ihm den Eindruck einer durchaus ein-
zigen, unnachahmlich eigentümlichen Vollkommen-
heit beibringen; „das!“ Kunstwerk und „die“ Kunst
sind ja bekanntlich nur Begriffsgötzen. Genauer
müßte ich sagen: Erzeugnisse, deren Form mir
diesen E!ndruck Jer Vollkommenheit beibrmet.
Das 1 ist aber selbstverständlich, da bekanntlich kein
Naturgebilde, also auc'h kein mensChliches Erzeug-
nis, anders als aus seiner Form begreifbar ist;
wenigstens nicht für „Positivisten“.

Will alsö jemand etwas Wahres über di e Wir-
kung aussagen, die ein (niCht „das“) Kunstwerk
erst als Kunstwerk bezeic'hnet („Charakterisiert“),
das heißt, die unter Umständen einem bestimmten
Menschen ein bestimmtes MeusChenwerk als ganz
besönders formvoflkommen erscheinen läßt, so hat
er zu untertsiuchen: Erstens: umter wäs für Be-
dingungen, zweitens': durch was für Reize, drit-
tnes: aus was für Empfindungen setzt jener Ein-
druck der VoHkommenheit siCh zusammen? Und
selbst wenn jemandem gelingen sollte, hierfür eine
Forrnel von allgemeiner Gültigkeit zu finden, hat
er sich immer noch bewußt zu bfeiben, daß damit
nur erst ein Bestandteil der ganzen, einem Kunst-
werk eigentümlichen, es völl k e n n zeichhenden
(„Charakterisierenden“) Wirkung (ja, ja, die Fremd-
wörter) erklärt ist.

Um es kurz zu wiederhofen: die Art- und Wert-
begriffe „das Kunstwerk“ und „die Kunst“ macht
jeder Einzelne siCh langsam erst zureCht aus den
KunStwerken, die ihm naCh seiner Vorstellungs- und
Urteiliskraft den EindruCk einer unnächäWmlich
eigentümfichen Vollkommenheit gemaCht haben. Ob
dieser EindruCk sich hnit dem der „Schönheit“ deckt,
ob er ihn als Bestandteil enthält, ob SChönheit
überhaupt ein unentbehrlicher Bestandteil all und
jeder Kunstwirkung jst, darüber wissen wir vorerst
noch nichte 1. Wir wisSen nur: „völlkommen“ ist uns
alles, was nichts zu wünschen übrig läßt! und
„eigentümlich“ alles, was dem Durchsdhnitt nicht
entspricht! und „unnaChahmlich“ alles, was un-
ergründlich Scheint wie die Natur.

Was aber diese „Natur“ wohl ist, von der die
Einen sagen, die Kunst sei ihre Nachahmung, die
Andern, ihre UmgeStaltung — darauf kann iCh nur
mit einem Dichterwort antworten, obwohl es heute,
wo ich eS schreibe, noch nicht zu den „anerkannten“
Worten zählt:

Natur, Natur! o feerer Schall,

o seelenVoIlster Widerhall! —

Das Duell

Von Robert Seheu

Jedes Zeitalter hat eine zweifache Arbeit zu
Ieisten: die Sitte fortzubilden, als deren Quelle die
Lebenserfordernisse der Stände, das gesamte je-
weilige Wissen und das Vorbild maChtvoller Persön-
lichkeiten zu betrachten sind. Einblick in die Werk-
stätte der Sittenbildung gewährtdie schöne Literatur,
vor allem daS Theater. Die zweite Aufgabe, die
sidi staaten- und länderweise aufteilt, besteht in der
beständigen Vergfeichung der Sitte mit
der Rechtsordnung. Diese nicht ruhen zu
lässen, ist Aufgabe der Wissenschäft; sie in ihren
lebendigen Konsequenzen zu verfolgen, Sache der
Gesetzgebung, in erster Linie der Parlämente.

Die beiden Aufgaben: Sittenbildung und
Rechtsbildung streng getrennt zu halten, die Grenz-
linie jeweils zu erraten, erfordert hohen Takt,
Geistesklarheit, Wachsamkeit und ein hellseherisches
Eindringen in das Bewußtsein der Zeitgenossen.
Jede Generation hät nicht nur den Beruf, sondern
auch die Pflicht zur Gesetzgebung. Sie muß sich
periodisch die Frage vorlegen, ob die Sitte über-
haupt feststeht, deren Ausdruck das Gesetz sein
wollte; ferner ob die Sitte des Gesetzes weiterhin be-
darf. Sie hüt streng zwischen diesen beiden Mächten
zu scheiden und darf sicli nicht beruhigen, einen
Konflikt festzustellen, sondern muß einen Schluß
ziehen, ein Endurteil fällen. Dazu gehört Auf-
richtigkeit gegen sich selbst und Mut zur Wahrheit.
Konflikte zwischen Sitte und Gesetz sind unver-
meidlich, weil das Flüssige mit dem Starren nicht
dauernd übereinstimmen kann; wo sie aber per-
manent sind, dort gibt es nur eine Schlüßfolgerung,
nämlich, daß das Gesetz im Unrecht ist. Ganz ein-
fach aus dem Grunde, weil es das Künstliche ist.

Man präjudiziert sich daher durchüus nicht,
wenn man wegen des Konflikts zwischen Duell-
zwang und Duellverbot bekennt, daß die Rechts-
ordnung eine Niederläge erlitten hat. Hier liegt
eine Probezeit vor, die nic'ht weniger als ein halbes
Jahrtausend umfaßt. Denn schon Montaigne kon-
statiert den Widerstreit zwischen staatl'icher und
ritterliCher Auffassung und stellt alle Argumente
so erschöpfend dar, daß heute nichts hinzuzufügen
bleibt. Es ist daher gewiß nicht voreilig, wenn mari
die Materie für spruchreif erklärt und rundweg
fordert, daß die Gesetze, die das Duell unter Strafe
stellen, aufgehoben werden.

Der Fehler in der Behandlung dieses Gegen-
standes läg bisher darin, daß man die Frage des
Gesetzkonfliktes riicht genügend von der eigenen
Gesinnung isolierte, daß man das Formelle vom
Materiellen zu trennen nicht den Mut besaß. Erst
vvenn diese Voraussetzung erfüllt ist, kann das
Problem unbefangen in Angriff genommen werden.
Es ist von solCher Kompliziertheit, daß es sich nur
schrittweise zerlegen läßt. Man knan sich hier nur
durch einen Vergfeich aus’ der physikalischen
Wissenschäft verständlich machen.

Es gibt in der TeChnik zweierlei Erfindungen.
Die eine sozusagen die efegante Klasse ist dadurch
ausgezeichnet, daß ein einziger Gedanke, eine In-
spiration, ein Genieblitz, die ganze Aufgabe gelöst
hat, daß Geist und Körper der Erfindung eins sind.
Sie entepringen dem Haupt ihres Schöpfers wie
die Minerva, mit Schilü und Speer, ausgewachsen
und reif, in einer glückliChen Stunde. Die zweite
Klässe ist anders geartet. Es sind Erfindungen,
deren Urheber kaum genannt werden können, weil
erst die aufgespeicherte Arbeit Vieler die Voraus-
setzungen geschaffen hat, die im Wege unzähliger
Annäherungen zum Ziele führten. Eine Erfindung
der zweiten Art ist beispielsweise das moderne Zwei-
rad, eine Kolfektiv- und Annäherungserfindung, die
aus einer Kette von Verbesserungen besteht und in
den verschiedensten Techniken schrittweise ihre Vor-
aussetzung erlebte.

Das Probtem des Ehrenschutzes gehört nun
offenbar zu jenen, welche in eine Summe von Teil-
aufgaben zerfalfen. Teilaufgaben, die einander viel-
leicht sogar widersprechen und selbst nur Annähe-
rungslösungen vertragen. Man darf daher nicht,
wie es gewöhnlich geschieht, die Antwort mit Ge-
walt erzwingen wollen, etwa, indem man seinen
persönlichen Geschmack ausspielt, oder ein all-
gemeines Prinzip mit größerer oder geringerer
LeidensChaft in die Wagschale schleudert. Man
hät vielriiehr die ganze K o n s t e 11 a t i o n zu er-

237
 
Annotationen