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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 16 (Juni 1910)
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Lewin, Robert Kosmas: Homunculus: Oder: Wie man grosse Männer züchtet
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Bang, Herman: Väter essen Herlinge
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0131

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Im Zeitalter der Energetik wird man milde
lächeln ob dieser naiven Anschauungen. Welch
eine ungeheure Verschwendung auch von Ener-
Xien, wird sich der Schüler Ostwalds sagen, so
viel Unnützes über Qenie zu reden, und so un-
wissenschaftlich an solche Probleme heranzugehen!
Der gute Qoethe wollte nicht einmal etwas von den
Physikern wissen. Wir aber, sagt sich der Ener-
getiker, haben heute die stolzen Ergebnisse unserer
Laboratorien. Was kann aber das Problem des
„großen Mannes“ mit einem Laboratorium zu tun
haben?

Alle solche Fragen, überhaupt alle Fragen,
werden heutzutage von der „exakten Wissenschaft“
gelöst, und zwar vorzüglich von einer Wissen-
schaft, der C h e m i e. Man bedenke doch!
Wilhelm Ostwald, einer der führenden Qeister in
der Chemie, hat aus seinen Laboratorien verkündet,
daß die Wissenschaft, also die Chemie, oder,
was dasselbe ist, die Energetik, nunmehr alle
Lebens-, Kunst- und Kulturfragen lösen kann und
zum großen Teil schon gelöst hat. Lieferte doch
Ostwald in seiner ungemeinen Iiterarischen Frucht-
barkeit die energetischen Grundlagen für Juris-
prudenz, Nationalökonomie, Pädagogik, Ethik,
Malerei, andere Künste und — Liebe. Wenn
Haeckel unwiderruflich gezeigt hat, daß jedes
Professorenhirn phylogenetisch mit dem Affenhirn
zusammenhängt, so lehrt nun Ostwald, wie große
Männer auf energetischem Wege zustande kamen.
Genaue Erörterungen über Ostwalds energetische
Weltanschauung muß ich mir aufsparen. Hier nur
zur Aufklärung, daß die Bewegung der Masse be-
dingt sei durch Kraft. Diese Kraft hat uns zwar
niemals sehr viel bedeutet. Sie war so eine letzte
Zuflucht für unser armes, gequältes Kausal-
bedürfnis. Da klärt nun Ostwald auf: Kraft ist
Masse, Substanz ist Masse, Masse ist Energie,
Pnergie ist Substanz. Ostwald kann sich zwar
nicht helfen, er muß ein Dutzend verchiedener Ener-
gien annehmen, um die Welt der Erscheinungen zu
erklären. Aber immerhin hält er die Energie für
eine Substanz. die uns alles restlos erklärt. Und so
ist Energie die Substanz, aus der große Männer
werden.

Dies alles ist uns so neu! Es gibt scblechthin
kein Feid der ..Betätigung“. in dem nicht diese
rätselhafte ..Substanz“ ihren schöpferischen Ein-
fTnß geltend macht. Ostwald schuf nicht nur die
Energetik seines Laboratoriums. son.dern er
schenkte der Menschheit die ..Energetik“ der Kultur.
die Energetik fiberhaupt aller menschiichen Be-
ziehungen und — die Energetik der Kunst und der
Liebe. Man sieht mich ungläubig an! Tch bin kein
Paranoiker. Ich schwöre. es steht in Ostwalds
Büchern zu lesen. Er hat doch w i r k I i c h die
energetische Formel des Gliicks aufgestellt!
,.F® — W 8 = iE W) (E — W)“ wobei E mit
Absicht und Erfolg aufgewandte Energie. W mit
Widerwillen aufgewandte Fnergie bedeutet. Wer
so präzis alles Menschliche, Allzumenschliche auf
eine mathematische Formel zu reduzieren vermag,
der tibertrifft Cagliostro-Balsamo und die größten
Magier. Der ist sicherlich berufen, eine bio-
graphisch-charakterologische Studie über große
Männer zu schreiben. Die notwendige Folge war
ein dickes Buch von mehr als vierhundert Seiten.
in dem einem breiten Publikum auseinandergesetzt
wird, wie man einen großen Mann erkennt, wie man
ihn abschätzt; schließlich bringt das Buch, wie alle
prophetischen Biicher Ostwalds, Ausblicke auf die
Zukunft, auf ein Zeitalter der Energetik, in dem es
möglich sein wird, große Männer zu „züchten“.

Daß in dem dicken Buch nur ein paar P h y -
s i k e r und C h e m i k e r als „große Männer“ be-
sprochen werden, ist sehr befremdlich. Wir be-
greifen, daß Ostwald seine Fachgenossen vor allem
schätzt. Aber wenn man sich an ein großes Publi-
kum wendet, so muß man schon ein wenig viel-
Seitiger in der Auswahl sein. Die meisten Kultur-
menschen haben sich auch ihre Begriffe von Qröße
kaum aus den Laboratorien geholt. Lassen wir
ihm das Vergnügen, in Physikern, die Inkarnation
des „großen Mannes“ zu erblicken! Er will ja
dieses Phänomen rein naturphilosophisch analy-
sieren. Wie es scheint, geht dies mit Faraday und
Liebig leichter, als mit Ostwalds berühmtem Mit-
bürger Max Klinger. Danken wir dem Schöpfer,
daß Ostwald uns mit einer „psychographischen“
Charakterologie u n s e r e r großen Männer ver-
Schont. ... _ _ _

Ostwalds Methodik ist, wie er selbst sagt, un-
abhängig von der modernen „atomistischen“
Psychologie.“ Die alten vier Temperamente und
„persönliche Menschenkenntnis“ sind sein ganzes
Material. Allzu bescheiden! Einem jungen
Menschen, der mit solcher Methodik an eine so
schwierige Untersuchung geht, würde man Leicht-
fertigkeit vorwerfen. Doch ein Lehrer der aka-
demischen Jugend! Man beruft heutzutage Pro-
testversammlungen gegen das leiseste Schuh-
drücken. Warum nicht eine Riesenprotestver-
sammlung gegen ein solches Buch? Doch wer
nicht protestieren will, der kann sich jedenfalls
durch dieses Buch eine heitere Stimmung ver-
schaffen. An Stoff zur Belustigung fehlt es nicht.
Komisch ist schon mehr, als ernst zu nehmen, die
Pietätlosigkeit, mit der von einem Kunstwerk ge-
sprochen wird. Der Verlust eines großen Kunst-
werks ist für Ostwald nicht schwerwiegend.
„Qerade die größten Kunstwerke der Vergangen-
heit können am ehesten entbehrt werden“. Das
ganz Individuelle ist nach Ostwald das Un-
wichtigste. Er hat ganz Recht und den echten
Haeckelschen Takt. Alles Individuelle ist ein
lästiger Bocksprung aus der A r t heraus und stört
nur in einer phylogenetischen Betrachtung. Das
Ouantum Seele, das ein Künstler in ein großes Werk
strömen ließ, kann für Ostwald nichts bedeuten.
Denn „Kunst“ ist in erster Linie „Können“. Ein
Kunstwerk ist nach Ostwalds Lehre nichts als eine
Steinkohle. Hier wie dort ist durch eine Energie-
quelle Energie transformiert und aufgespeichert
worden. Das Kunstwerk ist also ein Energie-
akkumulator, dessen Energiegehalt wir benutzen,
um uns vergnügte Stunden zu bereiten. Ist der
Energievorrat erschöpft, so werfen wir den Behälter
fort. Das sind die Lehren, die unsere Jugend aus
dieser Charakterologie der „großen Männer“ ge-
winnen kann.

„Spezifisch biologisch“ will Ostwald die großen
Männer fassen. Wir ertappen ihn hier auf einem
ganz leise sich regenden Schamgefühl. Er fügt
nämlich hinzu: „Wenn dabei zuweilen der Respekt
und die Dankbarkeit außer Augen gesetzt scheint,
so bleibt mir nur die Entschuldigung, daß die
Wissenschaft durch den Einfluß persönlicher Qe-
fiihle niir henachteüigt werden kann.“ Das heißt
klar gesprochen, wir sollen den „großen Mann“
objektiv charakterisieren.

Nun kann aber wahre Größe nur durch subjek-
tive Wertschätzung erkannt werden, wenn man
nicht ganz triviale Nützlichkeit zur Direktive wählt.
Auch dies wird ausgesprochen. Wir sollen uns,
wünscht Ostwald, bemühen, aus ihrer Existenz so
viel Nutzen und Förderung zu gewinnen, als wir
nur vermögen. Also ist doch wirklich der „große
Mann“ nichts als ein Energieakkumulator. Welchen
Nutzen können wir aber aus der Existenz eines
Chopin ziehen? Solche „großen Männer“ sind ge-
fährliche Energiespender.

Eine Stilbliite aus dem Buch:

„Was die energetische Charakteristik Von Liebigs
körperlich-geistiger Organisation anlanöt. so darf man
annehmen, dass er aus seiner Abstammung aus dem
Volke einen guten Vorrat aufgespeicherter entwicklungs-
bereiter Energie mitgebracht hat“.

Und wenn die Ausländer fragen, wer hat diesen
nichtssagenden Schwulst geschrieben, so sollen wir
antworten, einer der führenden Männer an unseren
Universitäten!?

Eine andere Stelle:

„Der geerbte Energievorrat reichte (bei dem „grossen
Manne“) bis etwa zum 50. Lebensjahre, um alle Be-
anspruchungen zu decken, so gross sie auch waren.
Von da ab traten Ermiidungserscheinungen auf.

Die Charakterologie großer Männer! Ein
großer Mann ist ein Apparat, der große Leistungen
verrichten kann. Er schnurrt seinen Energievorrat
ab, wie bemächtigen uns dieser Energie zu Nutz
und Frommen. So gibt es in diesem Buch kein
Rätsel des Qenies mehr. Und wie die Energetik
seine Daseinsbedingungen erklärt, so schafft sie
auch Werdensmöglichkeiten für „große Männer“.
Nicht nur der simple Homunculus taucht in der Re-
torte auf; wir sehen auch schon die Methodik der
künstlichen Darstellung talentierter Homun-
culi erstehen. Kennen wir nur erst die Entstehungs-
bedingungen des „großen Mannes“, so sind uns
eo ipso die Mittel gegeben, willkürlich solche
Energiespeicher zu erzeugen.

Wie nur dem Kopf nicht alle Hoffnung schwindet,
Der immerfort an schalem Zeuge klebt,

Mit gier’ger Hand nach Schätzen gräbt
und froh ist, Wenn er Regenwürmer findet!

Ein herrliches Qefühl, den Dunstkreis des La-
boratoriums zu fliehen, den Blick zu gewinnen für
das ganze, große Weben. Wie schnell erkennt man
dann die Eitelkeit aller Bemühungen, das Dasein
durch exakte Spielereien und Ieere Worte zu fassen.
Treffender finde ich den Gedanken ausgesprochen
in den „Opinions de loignard“, publtees par Anatole
France:

„Tous les microscopes et lunettes dont on fait
Vanit6, qu’est ce, en räalitö si non des moyens d’aider
les sens dans leurs illusions et de multiplier l’ignorance
fatale oü nous sommes de la nature, en multipliants nos
rapports avec elle ? Le plus doctes d’entre nous
chiffürent uniquement des ignorants par la faculte, qu’ils
asquifererit de s’amuser ä des erreurs multiples et com-
pliquäes. Ils voient l’univers dans une topaze taillöe ä
facettes, au lieu de le Voir comme madame votre mfere,
par exemple, avec l’oeil tout un que le bon Dieu lui ä
donnö. Mais ils ne changent point d’ceil en s’armant de
lunettes, ils däcouvrent des apparences nouvelles et
sont par lä le jouet de nouvelles illusions. Voilä tout!“

Die Väter essen Herlinge

Von Herman Bang

So weit ich sehen und beurteilen kann, ist der
Roman „DieVäteressenHerlinge“ Qustav
W i e d s stärkstes Buch.

Wie ein mit letzter Kraft und Qewalt zu-
sammengeschweißtes Qanzes ragt das Werk monu-
mental auf. Noch nie hat Gustav Wied in solcher
Qeschlossenheit das Material behandelt. Nie hat er
mit so vollkommenem Qriff die plastische Totalität
beherrscht.

AIs er sich zu diesem Werk riistete, rüstete er
sich zu einem Feldzug in dem er siegen oder fallen
wollte.

Er hat gesiegt.

Er hat gesiegt durch die gewaltige Einheit
seines Romans, die uns bezwingt. Er hat gesiegt,
durch die Unerbittlichkeit seiner Konsequenz. Er
hat gesiegt durch die Tiefe seiner Tronie und die
Leber.digkeit seiner Laune.

Ein Werk ist geschaffen und wird verbleiben.

Und Gustav Wieds Sieg ist umso interessanter,
als er so manchem Kampf, so manchen entgegen-
gesetzten Strömungen, so manchen wider-
strebenden Einflüssen in der Entwicklung und dem
Oemiit des Dichters zum Trotz errungen ist.

Jeder. der den Roman liest, wird sehen, daß
das ein „Profil-Werk“ ist. Tndem der Dichter dazu
schreitet, sein entscheidendes Werk über den
Niedergang zu schaffen, legt er es als ein Hautrelief
an. wo alle Gestalten ihr von demselben Qefühl ver-
schieden geprägtes Qesicht demselben Punkt zu-
wenden. Die Mittelfigur ist der Faun oder Oott
des Triebes. Alle Steingestalten starren im Profil
die Mittelgestalt an — von ihr beschienen und nur
von ihr.

Diese Darstellungsform ist die Emile Zolas.
Namentlich in der letzten Hälfte der Rougon-Mac-
quart ist sie zu ihrer höchsten Möglichkeit ent-
wickelt. AIs Emile Zola — in einem Riesenwerk —
die ganze Gefiihlswelt des Menschenlebens schil-
dern wollte, entschied er sich dafür, i n j e d e m
einzelnen Buch ein einziges Qefühl zu
s c h i 1 d e r n. Er sah und schilderte nur e i r«
seelisches oder soziales Phänomen auf einmal. So
schuf er dasselbe Hautrelief, wie Gustav Wied in
den „Vätern“, das in der Totalität der Anlage dem,
von Emile Zola geschaffenen Vorbild nachstrebt.

In der Qesamtheit oder in der monumentalen
Anlage.

Denn in der Ausführung der Details gerät Wied
in Konflikt mit dem französischen Meister.

Das Detail, die Einzelgestalt gibt Gustav Wied
nämlich als Impressionist. Der Roman ist aus all
den gebrochenen, lebenden (zuweilen nur leben-
digen) Bildern des darstellenden Romans zu-
sammengsetzt.

Zwei Schulen kämpfen einen harten Kampf in
dem Wiedschen Werk. In der Zurechtlegung des
Stoffes folgt der Dichter Zola, in seiner engeren
Ausformung dem Impressionismus — ohne ihn gana
durchzuhalten. Denn der Roman hat „verbin-
dende“ Stellen von rein erzfihlender Art, die die
impressionistische Einheit der Einzelschilderungen

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