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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 28 (September 1910)
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Strindberg, August: Schlafwandler
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Döblin, Alfred: Die Ermordung einer Butterblume
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0224

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nicht empfinden, denn alles Moralische ist ihnen
gleichgültig wie die Fliege. Sie verstehen nicht,
wenn sie Unrecht tun, und immer schieben sie die
Schuld auf einen anderen. Sie dichten sich einen
Charakter an, der hel’l und freundlich erscheinen
sofl; aber im Innersten sind sie schwermütig; das
zeigt sich, wenn sie allein sind, dann denken sie
immer an Selbstmord.

Zuweilen, wenn esl ihnen sehr gut geht, ge-
brauchen sie das Wort: der gute Qott; geht es
ihnen schlecht, werden sie böse und glauben an
böse Mächte, verstehen aber nicht Hilfe bei dem
guten Gott zu suchen.

Al'les, was sie wünschen, dichten sie in Wirklich-
keit um; alles, was sie wollen, wird Wahrheit,
alles Unbequeme, Unangenehme ist unwahr. Sie
können sich eine ganze Lebensgeschichte andich-
ten; daß sie Von Karl 1 dem Großen oder August
von Sachsdn abstammen. Ich kenne eine Finnlän-
derin, die sich einbildete, sie sei Russjn. Schließ-
iich stammte sie von Mathias Corvinus, der polnisCh
gewesen sein soH. Ich kann nicht sagen, daß sie
l’og, denn sie glaubte daran, hielt es für wahr,
obgleich sie es erdichtet hatte.

Eine solche Dichterin über eine Tatsache auf-
klären, ist unmöglich, falls diese Tatsache im Ge-
ringsten unangenehm ist. Ihr eine richtige An-
sicht über einen Tatbestand beibringen, ist ebenso
unmöglich, falls nicht Leidenschaft oder Interesse
zufällig dieselbe Richtung einschlagen.

Wenn einer von ihrem Hofkreis einen Buben-
streich begangen hat, so leugnen sie zuerst die
Tatsache: „Es ist unmöglich!“ Wenn es keine Hilfe
mehr gibt, verteidigt sie ihn: „Er ist im Grunde ein
guter Mensch, und ihr seid nicht ein bißchen
besser!“ Es endet damit, daß wir alle Schurken
sind und dort sitzen müßten, wo er sitzt.

Sie ist dreißig Jahre alt, hat ein Kind, aber
sie dichtet sich jung, spricht von ihrer Jugend;
oft ist sie allerdings geplündert vom Mann, der
nichts zu plündern fand, als sie vierundzlwanzig
zählte.

Sie kann sogar noch jungfräulich sein, obgleich
sie ein Kind bekommen hat; ja sie weiß nicht,
wie das Kind entstanden jst . . .

Sie yergißt ejne begangene Tatsäche, die
reichsbekannt ist; aber die hat sie ausgestrichen,
die hat nie existiert, die ist ganz einfach. Lüge
oder weniger als Lüge.

Sie beschäftigt sich immer mit den Schicksalen
der Menschen; schllagen die Gekränkten aber zu-
rück, so beklagt sie sich über deren Bosheit und
Rachgier. Sie selber kann nicht dahinter kommen,
daß sie unrecht getan hat.

Einmal weckte er sie, indem er das rechte Wort
lür ihren Charakter und ihr Betragen benutzte. Da
erwachte sie, flog aus dem Zimmer wie ein wilder
Vogel, ging davon. Er ließ sie gehen.

Sie dachte, er werde ihr nachkommen; das tat
er aber nicht. Da kam sie selber, aber nicht wie
eine Flehende, sondern wie eine Königin um die
Huldigung entgegenzunehmen. Die Huldigung blieb
aus. Da verlör sie den Verstand zwei Tage lang.

Er erbarmte sich ihrer. Aber sie konnte nur
wieder aufgerichtet werden, wenn er sichl ihr reuevoll
wieder näherte. Es war ein großes Opfer, aber
er brachte es um des Kindes willen. Da bekam
sie „ihren Verstand wieder“ und verzieh ihm, nach-
dem sie die Bedingungen diktiert hatte: Er sollte
nett sein; das heißt: s,ie gewähren lassen, wie sie
wollte; und er sollte nicht harte Worte gebrauchen.

Harte Worte fürchtete sie am meisten; denn die
weckten sie. Die wirkten wie Dynamit auf ihr ver-
steinertes Herz und Gefüht. Und was sie „den Ver-
stand verlieren“ nannte, war gleichbedeutend mit:
den Verstand wiederbekommen, zum Bewußtsein
erwachen, sich im Spiegel sehen, sich selber er-
kennen.

Ihr Ich gtich einem Ballon aus Seide, der beim
geringsten Riß zu Boden fallen konnte. Daher ihre
Furcht vor Ecken und Spitzen.

Sie l'iebte das Feine. Das bedeutete: laß mich
gewähren; widersprich mir nicht, sonst zerstörst
du mein Netz aus Spinngewebe, mit dem ich dich
gefangen halte.

Dann schlief sie wieder ein, begann ihre Vor-
stellungen von ihrer Jungfräulichkeit, der geplün-
deiten Jugend, der Geberin, die ihm alles gegeben
hatte (wo nichtsi zu geben war); der Gläubigerin,
der eingesperrten Sktavin (die frei ging und kam);
dem unterdrückten Weib, das keine eigene Meinung

haben durfte, dem er die Lebensfreude geraubt
hatte.

Jedes fünfte Jahr weckte er sie mit einer Dyna-
mitpatrone. Dann aber schlief sie wieder ein. Und
dann begann sie wieder aus demselben Sprachvorrat
zu fabulieren. Dreißig Jahre dichtete sie ihren
Charakter, ihre LebensgesChichte, ihre Ansichten,
ihren Geschmack, ihre Reliigion. Sie war fünfzig
geworden, hatte Hauer im Mund, Muskeln und Fett
im Ueberfluß, grauesl, aber gefärbtes Haar, das
nacli Talg roch. Sie war alt und wußte es nicht.

Sieh meine Zähne, sagte sie, ich habe noch
alle. (Aber einer war künstlich, mindestens einer.)

Sie ging mit bloßen Armen auf die HoChzeit
ihrer Tochter und machte selber den jungen Herren
den Hof. Zeigte ihr schönes Haar, das jetzt weiß
war unter dem SChönheitsmittel.

Bald darauf starb der Mann; ermoiidet känn man
sägen. Sie fiel zusammen und ward ein altes Weib.
Es war des Mannes „Lebensprana“, von dem sie
gelebt hatte, ohne es zu wissen; und es war, als
nehme er, der im Grabe l'ag, sein Eigentum zurück,
um die Auflösung aufzuhalten.

Jetzt ist sie fünfundfünfzig, kokettiert aber nocli
immer (zeigt Zähne und Haar). Sie ist nocli nicht
erwacht, und scheint nicht eher erwachen zu können,
als im Tod.

Zuweil'en, wenn sie traurig ist, besuc'ht sie mich
zur Mittagszeit, bleibt eine Stunde und lügt mir vor;
sie dichtet, hatte jch zu sagen versprochen.

Sie redete meistens über die Undankbarkeit der
Welt gegen sie, die ejnem schlechten Mann eine gute
Gattin gewesen sei, eine vortreffliche Mutter, wohl-
gesinnt, aufopfernd, besonders gegen den, der „ihre
Jugend“ geplündert hatte. Balzac hät den Typus in
„L’art d’etre martyre (Petites miseres de la vie cori-
jugale)“ gesChildert, trotzdem er nicht verheiratet
war.

Was ist das für ein menschenähnliches Wesen,
von dem der Mann nach einem Zusammenleben von
dreißig Jahren sägen konnte: „Da jst nicht ein
menschlicher Zug zu finden!“ Sie zeigt Teilnahme,
um etwas zu gewinnen; weint sie, will sie ein
Kteid oder einen Ring haben; lacht sie, so benutzt
sie die Getegenheit, die Zähne zu zeigen; ist sie
wirklich einmal zugänglich für eine tatsächliche Aus-
künft, ist es aus Falschheit und Schöntuerei. Sie
versöhnt sich nur, wenn man Besuch erwartet; sie
liebt ihre Kinder nur, weil sie die Aussicht auf ein
heiteres Alter hat, in dem sie nicht allein zu sein
braucht; vom Manne wollte sie sich nicht scheiden
lassen, weil sie eine Wohnung häben mußte, in
der sie empfangen konnte. Und sie hätte ihn längst
gemordet, wenn sie nicht befürchten mußte, die
Pension zu verlieren.

Nichts war bei ihr ganz wirklich. Ihre Er-
gebenheit glich Ergebenheit, ihre Freude erinnerte
an Freude, war aber böse; ihre Trauer besaß ent-
fernte Aehnlichkeit mit Schmerz. Es waren nur
Gleic'hnisse.

Sie begriff nie, waS er rneinte, sondern faßte
eS auf ihre Verkehrte Art, nach ihrem Interesse.
Ich verstand nie, was sie sagte; denn sie muß eine
Antiphrase benutzt, das Gegenteil von dem gesagt
haben, was sie dachte. Sie gebrauchte niemals die
klären einfachen Worte ja und nein; sie wich ihnen
aus wie einer Falle; denn sie glich dem Tier eines
Jagdgrundes', das überall Fallen sieht. Sie selber
aber l<nüpfte SChlingen mit Worten. Sie verwandelte
einen freien Vorsddüg in ein festes VerspreChen,
sie stahl Blicke als Beifall, verwandelte ein Nicken
in eine Verpflichtung; bot ihre Dienste an, um
später die Rechnung senden zu dürfen.

Der Mann sagte einmal: Wenn mich, ihren
Gatten, naCh dreißig Jahren jemand fragt, mit wem
ich verheiratet gewesen bin, kann ich nur antworten:
daä weiß iCh nicht! Ich habe dieses Weib nie
gekannt! Wenn iCh mandimal nachts erwachte,
mußte ich nachdenken, wen ich neben mir habe.
Wenn sie schlief, existierte sie nicht! Aber ich war
an sie gebunden; sie wuchs auf mir, nahm ihr
„Prana“ aus mir. Ich muß ihr einige Eingeweide von
mir gegeben haben; wenn sie fortging, schmerzte
es, ich konnte nicht atmen oder verdauen, ehe sie
nicht mit meinen Eingeweiden zurückkam. Sie ge-
brauchte einen Spiegel, aber nur für daS Aeußere;
und wenn ich zuweilen den anderen Spiegel vor
ihr Innerstes hielt, entsetzte sie sich; ihr Gesicht
bekam Krämpfe, wie der Fuchsl, wenn der Jäger
ihn überrascht. Sie Verdrehte die Augen, verwandelte
ihre Züge, daß sich eine ganze Reihe Gesichter

nacheinander zeigten; und statt ihrer Biieke saH
ich die eineS Dämonen oder eines Tieres.

Deutsch von Emil Schering
Schluss folgt

Die Ermordung einer
Butterblume

Von Alfred Döblin

Der sehwarzgekteidete Herr hatte erst seine
Schritte gezählt, eins', zwei, drei, bis hündert
und rückwärts 1, ate er den breiten Fichtenweg nach
St. Ottilien liinanstieg, und sich bei jeder Bewegung
mit den Hiiften stark nach rechts und links ge-
wiegt, so daß er manchmal taumelte; dann vergaß
er es.

Die hellbraunen Augen, die freundlich hervor-
quollen, starrten auf den Erdboden, der unter den
Füßen fortzog, und die Arme sChtenkerten an den
Schultern, daß die weißen MansChetten halb über
die Hände fieten. Wenn ein gelbrotesi Abendlicht
zwischen den Stämmen die Augen zum Zwinkern
brachte, zuckte der Kopf, machten die Hände ent-
rüstete hastige Abwehrbewegungen. Das dünne Spa-
zierstöckchen wippte in der Rechten über Gräser
und Blümen am Wegrand und vergnügte sich mit
den Blüten. .

Es blieb, als der Herr immer ruhig und acht-
los seines Weges zog, an dem spärlichen Unkraut
hängen. Da hielt der ernste Herr niCht inne,
sondern ruclkte, weiter schlendernd, nur leicht am
Griff, schaute siCh dann am Arm festgehalten ver-
letzt um, riß erst vergebens, dann erfolgreich mit
beiden Fäüsten das Stöckchen los und trat atemlos
mit zwei rasChen Blicken auf den Stock und den
Rasen zurück, so daß die Goldkette auf der
schwarzen Weste hochsprang.

Außer siCh stand der Dicke einen Augenbl'ick
da. Der steife Hut saß ihm im Nacken. F.r fixierte
die verwachsenen Blumcn, um dann mit erhobenem
Stock auf sie zu stürzen und blütroten Gesichts
auf das stumme Gewächs loszuschlagen. Die Hiebe
sausten rechts und iinks. Ueber den Weg flogen
Stiele und Blätter.

Die Luft laut von sich blasend, init blitzenden
Augen ging der Herr weiter. Die Bäume sfehritten
rasfeh an ihm vorbei; der Herr achtete auf nichts.
Er hatte eine aufgesteiite Nase und ein plattes barit-
loses Gesicht, ein ältliches Kindergesicht mit süßem
MündChen.

Bei einer scharfen Biegung des Weges nach
oben galt es 1 aufzuachten. Als er ruhiger marschierte
und sich mit der Hand gereizt den Schweiß von der
Nase wischte, tastete er, daß sein Gesicht sich ganz
verzerrt hatte, daß seine Brust heftig keuchte. Er
ersfehrak bei dem Gedanken, daß ihn jetnand sehen
könnte, etwa von seinen Geschäftsfreunden oder 1 eine
Dame. Er strich sein Gesicht und überzeugte sich
mit einer verstohtenen Handbewegung, daß es
glätt war.

Er ging ruhig. Warum keuchte er? Er lächelte
versfchämt. Vor die Bl'umen war er gesprungen und
liatte mit dem Spazierstöckchen gemetzelt, ja mit
jenen heftigen aber wohlgezielten Handbewegungen
geschlägen, mit denen er seine Lehrlinge zu ohr-
feigen gewohnt war, wenn sie nicht gewandt genug
die Fliegen im Kontor fingen und nach der Größe
sörtiert ihm Vorzeigten.

Häufig schüttelte der ernste Mann den Kopf
über das sonderbare Vorkommnis. „Man wird
nervös in der Stadt. Die Stadt macht mich nervös,“
wiegte sich nachdenklich in den Hüften, nahni den
steifen englischen Hut und fächelte die Tannenluft
auf seinen Schopf.

Nach kurzer Zeit war er wieder dabei, seine
Schritte zu zählen, eins 1, zwej, drei. Fuß trat vor
Fuß, die Arme sChlenkerten an den Schultern. Plötz-
lich sah Herr Michael Fischer, während sein Blick
teer über den Wegrand strich, wie eine untersetzte
Gestalt, er selbst, von dem Rasen zurücktrat, auf die
Bl'umen stürzte und einer Butterblume den Kopf
glätt abschlug. Greifbar geschah vor ihm, was
sich vorhin begeben hatte an dem dunklen Weg.
Diese Blume dort glich den anderen auf ein Haar.
Diese eine lockte seinen Blick, seine Hand, seinen
Stock. Sein Arm hob sich, das Stöckchen sauste,
wupp, flog der Kopf ab. Der Kopf überstürzte
sich in der Luft, verschwand im Gras. Wild schlug

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