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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 31 (September 1910)
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Adler, Joseph: Die Wiederkäuer
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Die Romantischen: oder die grosse Revoloution
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Fixlein, Quintus: Oh! lächelte er diskret
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Schmuck der Berliner Theaterprogramme
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0253

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die Antwort und löst die schwierigsten Probleme.
Der liebe Leser ergreift nicht die Flucht, so viel
rühmenswerte Feigheit besitrt er nicht, er ergreift
die ihm zugedaChte Aufgabe, psycholögische
Probl'eme, die in der GarküChe der BartsCh und
Hermann mit Pegasusschmalz zubereitet werden,
mutig zu fressen. Das ist aber eine Zumutung an
den satten Leser, weif doch die Lektüre eines mo-
dernen Romans die Gourmands und Gourmets unter
den Lesern in gleicher Weise in Wohlbehagen Ver-
setzen, da sie eine Einladung an die „Wiederkäuer“
sein soll. Unter einem „Wiederkäuer“ versteht Sau-
dek einen Lesfer, in dessen Innern für das Thema
„Essen“ so viel 1 Liebe in stets wacher Bereitschaft
ruht, daß er beim LeSfen selbst einer halbwegs guten
Schiiderung einer Mahlzeit sich selbst sofort am
gedeckten Tisch zu sehen und alle Freuden einst
gehabter Mahlzeiten naChzufühlen vermag. O, drei-
mal 1 wiedergekauter Unsinn. —

Von welChem Wert sind diese BüchCr für den,
der sich nicht satt essen kann? Oder ergeht es
einem Leser dieser Lektüre wie jenem bedauerns-
würdigen jungen Menschen, von dem uns Hauff
in der Kontroverspredigt über F. Cfauren und den
Mann im Monde erzählt? Er hatte kein Geld und
war trotzdem imttier satt, speiste er doch bei
Clauren. Hauff empfahl ihm als Lektüre ein Koch-
buch, das doch zum mindesten mehr Abwechsfung
bietet, aber der junge Mann bfeibt bei seinem
Clauren, denn der erzählt auch, wie alles schmeckt.
Das tun heute die Bartsch, Hermann, Ompteda
und andere, alles Männer, welChe „die Berliner
Wiederkäuer afs ihre Dichter gefunden hatten, und
es war ein sonderbarer Zufall, (daß ihre Didhter
auch unsere Dichter waren.“ Auch unsere!

J. A.

Die Romantischen

oder die grosse Revolution

Entschlüß nach der Aufführung im Deut-
schen Theater: Ich werde der Redaktion dieses
Blättes vorsChlagen einen Preis zu stiften. Einen
Reisepreis, für Berfiner Zeitungskritiker. Warum
solfen es die schlechter haben als ihre Kinder?
Kinder, die Teeprämien sammeln, reisen heute nach
Brüssef; Jungens, die französische Aufsätze schrei-
ben, naCh Paris. ICh werde den Herrn Doktor
vom großen Biatt in die Comedie frangaise schicken.
Oder noCh billiger: ich verehre ihm eine
popufäre Ausgabe von den „Drei Musketieren“, das
ist dasselbe. Damit er sieht, was gallisChe Tra-
dition ist und sich seine eigene Mejnung spart.
Wobei gfeichzeitig einmal festgestellt sei, daß niCht
jeder das ReCht auf seine Meinung hat. Wenn der
Zeitungskritiker revolütionär wird und stürmisCh
nach dem „eChten Didhter“ schreit, so wird er
sicher näChstens in KapitelChen schreiben, um mit
Alfred Kerr verweChselt zu werden. Er merkt
nicht, daß Rostands Jugendwerk vief wertvolfer ist
als jedes spätere, weil es eine bewußt vorgeahnte
Persifläge auf Niveau und Stimmung der Cyrano
und Aiglbn ist. Er nimmt den Chantecler ernst-
haft als Dichtung, und sieht nicht, daß in den
„Romantischen“ Franzosengeist eine Satire über den
eigenen Dichter spricht. Er hat keine Ahnung da-
Von, daß das Lustspief desi Zwanzigjährigen niCht
ein Seeleneffekt, sondern eine leichte gesellschaft-
l'iche Angelegenheit sein will. Die reine Angelegen-
heit eines gut erzogenen Verstandes, die der Herr
von der Zeitung indessen verschmäht, wobei
er sich für abwesende Mystik begeistert. Er rollt
sogar fürChterfich die Augen und findet mit un-
geheurer Selbstüberwindung Fuldas Uebersetzungs-
verse „lläppisCh“. Wobei ihm entgeht, daß sie die
besten sind, die Fulda je geschrieben hät. Denn
sie sind traditionefle Gebrauchsdinge aus! zweiter
Hand nach traditionellen Selbstverständlichkeiten,
die auch aus zweiter Hand sind. Für die Presse
hier anzumerken, daß in Deutschfand allein Kerr
das ReCht hat, Fufda schleeht zu finden, genau
wie allein Karl Kraus das ReCht hat, Harden ab-
zutun: Parthenogenesis der Gegnerschäft, unbfe-
ffeckte Empfängnis der Wut. Bei den anderen Herren
ist es Literatenpolätik. DieseS StüCk Rostands ist
übrigens darum gut, weif seine Begebenheiten Von
einem Willen gelenkt werden. Der Mann mit dem
Willen ist ein FeChtmeister, der seinen Kunden alle
gewünsfehten Phantasien einer romantisChen Bür-
gerfichkeit vörmacht, ein Napoleon gegen bär.

Kreuzung aus Corneifles „Lügner“ und einem
Helden des alten Dumas. Jeder Franzose weiß,
was gemeint ist, und fühlt sich getroffen. Rostand
selbst auch. Ein Scherz über die Selbstverständ-
lichkeit pathetischer Schwindeleien. Jede Rolle
parodiert sich selbst. Nur der emsige Herr von
rder großen Berliner Gazette macht Revolution. Von
vorgestern.

P r o g r e ß

Notizen

Privates

Im Modernen Theater fand große Fa-
mifienfeier statt. Der Sohn des Direktors führte
Regie, die ToChter debütierte. (Hoffentlich tut sie
es nie in der OeffentfiChkeit, wenn auCh die Ver-
wandtsChaft febhaft applaudierte.) Der Gelegen-
heitsdiChter Rudolf Presber besaß die Liebenswür-
digkeit, ein Stück aus dem Französischen zu übfer-
setzen. Es war sehr gefäflig. Den Gästen wurde
auf dem verzierten Festprogramm bekanntgegeben,
welfehe Firma die Beleuchtungskörper lieferte. Denn
sie blieben die Lichtpunkte.

Antwort

Ein BriefsChreiber häft die Form, in die Adolf
Loos seine Tristankritik klfeidete, für ein Plagiat,
begangen an einer kürzfich ersfehienenen Skizze im
Simplizissimus, die Alfred Polgar zum Verfasser
hat. Wir teilfen daher mit, daß die Loosische Kritik
knapp inach der Neuinszenierung Rollers, also Vor
Jahren, gesChrieben wurde.

Zum Schweigen der Berliner Kunstkritik

Das Museum Folkwang zu Hagen in West-
falen hat als erste reichsdeutsche Galerie ein Ge-
mälüe von Oskar Kokoschka (Porträt der
Herzogin von Montesquiou-Rohan) seinem Besitz-
stand angegfiedert.

Oh! lächelte er diskret

Von Quintus Fixlein

Der junge Herr, der hin und wieder seine
dummen und überffüssigen Gedanken aufschreibt
und deshalb Schriftsteller genannt wird, erwartet an
der Normalühr auf dem Potsdamer Platz seine
Geliebte.

Es ist zehn Minuten naCh drei.

Verflücht!

Er durchmißt zum hundertvierzehnten Malfe den
Raum zwisfehen der Normalühr und der großen
Bahnhofstreppe. Seine Gedanken beginnen zu
sieden. Hundertvierzehnmaf hat sein gepeinigtes
Auge die Inschrift an dem neuen Bierpafast gestreift:
Erbaut unter der Regierung Kaiser Wifhelms II.

Dazu diesfe Hitze!

Er bfeibt stehen und sieht einer Dame nach,
die — wahrhaftig! — mit ihr eine entfernte Aehn-
liChkeit hat. Freilich nur eine entfernte, Von hinten
gesehen.

Nein! Er fächelt. Sie hat nicht die geringste
Aehnfichkeit mit Tilly. Ich bin vielmehr im Begriff,
mir das vorzufügen, um eine Entschuldigung zu
konstruieren für meine Untreue. Denn wer ein
Weib ansieht_

„Hoppfa!“ entschuldigt sich der Dienstmann,
der einen schweren Koffer schlteppt und den jungen
Herrn empfindfich auf den Fuß getreten hat.

„Oh bitte“, sagt der junge Herr. Und er denkt:
das Leben! Es schert sich den Teufef um Reffexionen
und respektiert weder die Empfindsamkeit noch die
Empfindlichkeit.

Uebrigens — wenn sie bis fünf Minuten nach
viertef nicht da ist, fasse ich sie sitzen!

Er wirft einen scheuen Blick nach der Inschrift
des Bierpafastes.

„Erbaut unter der Regierung Kaiser Wil-
hehns II.“ surrt es mechanisch durcli sein Gehirn.

Hölle und Teufel! jetzt könnte sie aber wirk-
lich da sein. Er geht noch einmal, die Uhr in der
Hand, zurück. Schon ganz tiefsinnig. Vor der
Bahnhofstreppe rennt er mit einem Mann zusam-
men, der aussieht, afs ob er aus Kötzsfehenbroda
eingewandert wäre, oder aus Langenbieläu. So sieht
er aus. Ein Viktuallienhändler, der über den großen

Zeh geht, einen Viereckigen Vollbart trägt und jeden-
falls ein deutscher Mann ist. Dieser Mann ärgert
sich. Weil' der junge Herr nicht aus Kötzschenbroda
eingewandert ist, nicht über den großen Zeh geht,
keinen ViereCkigen Volbart trägt und sonach kein
deutscher Mann ist.

In diesem Augenbfick treibt der Zufall dem
jungen Herrn einen Nagef, eine Phrase ins Gehirn,
wie man sie in den Zeitungsromanen fiest, die in
Kötzschenbroda oder Langenbiefau erscheinen.
Oder in Berlin:

Oh! fächelte er diskret...

Der junge Herr atmet auf, denn fürs erste ist
das: Erbaut unter der Regierung... siegreich äus
den Gangfienzellen seines Gehirns in die Flucht
geschlagen.

Er fächelt glücklich und vergißt eine Minute
nach der Uhr zu sehen.

Oh! fächelte er diskret — ein wundervoller Satz!
Man kann ihn in tausend Zusammenhängen an-
wenden. Er bedeutet auf dem sorgsam abgesteckten
Sandfefde des Familienromans den beweglichen
Fußbal, den der flinke Autor zum Ergötzen der
Leser von Berlin und KötzsChenbroda bald nach
dieser, bafd nach jener Ecke schfeudert. Hin-
wiederum ist er wie ein sanft abführendes Oef oder
aber ... der junge Herr wird unruhig. Der präch-
tige Satz fängt an, sein Gehirn zu mofestieren. Wie
ein frisch eingefangener Stiegfitz im Käfig beginnt
er durch die Gehirnzelfen zu flattern und um Frei-
lassung zu piepsen ...

Donner — Donnerwetter! Es ist zehn Minuten
nach viertef und von Tilly ist noch nicht einmal
der Rand des Hutes zu sehen.

Also nofeh fünf Minuten. Sonst heißt es eben
ein Mann sein und —

Oh! fächelte er diskret.

Verzweifeft sfehaut er um sich. Vorn an der
Wand des Bierpafastes leuchtet es grell: Erbaut
unter der Regierung... Krampfhaft häl't er sich
in der Nähe der Bahnhofstreppe.

Nofeh eine Minute! Die Gewißheit, Tifly heute
nifeht mehr zu sehn, verwirrt ihn völig. Er hat
ein Gefühf, als bohre man ihm ein Messer in dic
Eingeweide und drehe es rasch hintereinander drei-
maf rum.

Genau dreimal.

Da — Bfendwerk der Hölle! (wie Schiller sagen
würde) — was ist das!

Tilly ?!

Tilyü

Ein großer Jubel' reißt ihn herum. Sein Gehirn
wird frei. Sie ist gekommen! Er stürzt ihr ent-
gegen. Herausfordernd mißt er die Inschrift am
Bierpaläst. Er nimmt den Kampf mit ihr auf.

Er steht auf halbem Weg gelähmt.

Ein Herr ist auf Tily zugetreten.

Ein Herr?

Ein Geck! Ein Fatzke! Ein —!

Afeo der ist es!

Der junge Herr, der hin und wieder seine
dummen und überffüssigen Gedanken aufsfehreibt
und deshafb Schriftsteller genannt wird, fühlt, daß
jener berfinisfehe Satz aus Kötzschenbroda sich aufs
neue in sein Gehirn sfehlängeft.

Oh! fächelte er diskret.

Schmuck der Berliner Theaterprogramme

II / statt einer Zeichnung von Oskar Kokoschka zur Be-
ruhigung hiesiger Einwohner, die sich fortgesetzt
schriftlich »äussern“.
 
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