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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 14 (Juni 1910)
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Walden, Herwarth: Schwanensang
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Walden, Herwarth: Die Kunst zu komponieren
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Minimax: Vermischtes
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Scheerbart, Paul: Wir maken Allens dot: Clownerie
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Beachtenswerte Bücher und Tonwerke / Berichtigung
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0114

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wie die Natur. Ich möchte Max Pechstein emp-
fehien, den guten Pietsch bei Abfassung seiner soge-
nannten Kritiken zu malen. Der „lichtvolle Histo-
riograph“ wird sich wundern, wie gelb sein Gesicht
vor Aerger geworden ist und wie giftgrün seine
Augen scheinen, trotzdem er objektiv vermutlich
über rosige Wangen und blaue Augen verfiigt. Und
wenn man ihn noch gar impressionistisch in Punkte
auflösen wiirde, so wären wir endlich von seinen
jämmeriichen Sudeleien befreit. Bemerkenswert
ist noch die neue Lynchjustiz, die Herr Pietsch den
Damen empfiehlt: „Der Maler dieses ekelhaften
Scheusals verdiente es, daß die Frauen, deren
ganzes Geschlecht darin schmählich beleidigt ist,
sich zusammentäten, um an diesem Frauenmaler
die verdiente Strafe zu verrichten.“ Dasselbe Mittel
wird den Malern gegenüber ihrem Kritiker
wärmstens empfohlen.

Doch es ist überflüssig. Professor Pietsch,
„dieser Schmierer und nichts gelernt habende talent-
lose Nichtskönner“ entschimpfte sich an der neuen
Sezession. Am Sonntag, den 22. Mai. Er hat sich
ausgetobt. Sein letztes Lied verklang. Sein
Schwanensang.

Trust

Die Kunst zu komponieren

Nichts macht das deutsche Volk glücklicher, als
seine Künstler bei der „Arbeit zu belauschen.“ Des-
halb muß Herr Holzbock unter anderem jedes Jahr
die „nicht gepflegte Landstraße passieren, um zu
dem Sommersitz von Richard Strauß zu gelangen.“
Aber der „Spezialberichterstatter“ trifft es diesmal
besonders gut. Schon im Garten begegnet er dem
Koinponisten. „Er hält ein dünnes schwarzes Heft
in der linken Hand, in der rechten einen Schreib-
stift.“ Offenbar lauert der Photograph der „Woche“
im Hintergrund. Und Herr Holzbock überrascht den
Künstler richtig im Schaffen: „Jetzt komponierc
ich wieder halt a bissel.“ Mit dicsen schlichten
Worten begrüßt Strauß aul seinem Sommersitz den
Sendboten des Voikes. Aber zu Ehren des Gastes
ur.terbrioht er seine Tätigkeit und plaudert halt
a bissel über die komplizierte Art des Vertonens:

„Hier bin ich am glücklichsten, hier habe ich
dank meiner lieben Frau, die mir ja auch eine wahr-
hafte Geistesgefährtin ist, dank meinem herzigen
Buben jenes ruhige Glück, das ich ersehne, das ich
nötig habe. Hier geht mir das Komponieren am
leichtesten von der Hand, hier arbeite ich auch am
liebsten auch zur Winterszeit. Im übrigen komponiere
ich überall, in meinem schönen trauten Heim und im
geräuschvoll internationalen Hotel, in meinem Garten
und im Eisenbahncoupö, mein Skizzenbuch verläßt
mich niemals, beim Gehen und Fahren, beim F.ssen
und Trinken, immer ist es bei mir, und sobald mir
ein für das mich beschäftigende Thema geeignetes
Motiv einfällt, wird es meinem treuesten Begleiter,
dem Notenskizzenbuch, anvertraut. Eine der wich-
tigsten Melodien für meine neue Oper fiel mir während
des Schafskopfspieles ein, zu dem ich mich mit den
Honoratioren von Garmisch verbunden habe. Die
Einfälle, die ich notiere, sind eigentlich nur Vorskizzen,
dle dann erst verarbeitet werden, aber, bevor ich zu
einer Oper auch nur die kleinste Vorskizze impro-
visiere, beschäftige ich mich mit dem Text secbs
Monate lang. Ich lasse ihn förmlich in mir kochent
Situationen und Charaktere müssen in mir bis ins
letzte Detail durchgearbeitet sein, dann erst lasse
ich die musikalischen Gedanken an mich herantreten.
Aus den Vorskizzen werden Skizzen, dann kommt
die Reinschrift der Skizzen, dann die gesamte Ver-
arbeitung, der Klavierauszug, den ich viermal ändere
und redigiere. Das ist die Anstrengung; was jetzt
kommt, diei Partitur, die grosse Farbenstimmung
durch das Orchester, das ist für mich die Erholung.
Die Partitur schreibe ich hintereinander ohne Mühe
in meinem Arbeitszimmer, in dem ich bis zwölf
Stunden ohne Unterbrechung arbeite. So gebe ich
dem Ganzen die einheitliche Form, und das ist die
Hauptsache.

Die Kunst zu komponieren. Es besticht zunächst
das Dreieinigkeitsidyll: die wahrhafte Geistes-
gefährtin, der herzige Bube, das treuste Noten-
skizzenbuch. Vereinigt zur „Winterszeit“ im
schönen trauten Heim. Wer es so gut hat, kann
leicht den Text sechs Monate förmlich in sich
kochen lassen. Aber dem originellen System zu
schaffen läßt sich auch ohne diesen Luxus nacheifern.
Vor allem vergesse man nicht, den Klavierauszug
viermal zu ändern. Und im übrigen: andauernd
komponieren, beim Wachen und Schlafen, beim
Essen und Trinken, beim Gehen und Fahren.
Ingredienzien: a bissel Lieb und a bissel Treu und
a bissel Falschheit. Alles förmlich gekocht und die
Wassersuppe ist halt fertig. T r u s t

110

Vermischtes

Noch einmal Herr Löwevelt

Bei einem der beliebten Versuche europäischer
Großmächte, Herrn Theodor Roosevelt ihre Nicht-
achtung zu bezeigen, indem sie ihn zum Doktor er-
nennen lassen, kam es während der letzten Woche
in Cambridge zu einem bemerkenswerten Zwischen-
fall. Nachdem Roosevelt behauptet hatte, der Mut
bei Tigerjagden ließe sich ungezwungen mit der Ab-
wesenheit der Feigheit erklären, meinte er, man
solle mit derselben Ruhe auf einen Löwenkopf
zielen als wäre es die Wasserkaraffe vor ihm.
Darauf zog der Student John Murxly auf der
zweiten Galerie seinen zerrissenen Halbschuh aus
und warf ihn dem Gleichnisredner an den Kopf. Er
traf. Das Wasser lief stromweis. Herr Professor
Knownot komprimierte die Wunde, füllte mit
Brausepulver nach, verschloß mit Gummiarabikum.
Der Student sagte aus, er wollte die Probe auf das
Exempel machen, ob Teddy selbst ein Löwe wär.
Die Professoren erklärten den Beweis für erbracht
und gaben den Schuh zurück. Teddy redete er-
staunt weiter.

Das Lessingzlmmer

Tietz benötigt zur Arrondierung seines Waren-
hauses am Alexanderplatz das Wohnhaus G. E.
Lessings; er hat der Besitzerin versprochen, an der-
selben Stelle pietätvoll ein Lessingzimmer einzu-
richten. Das Zimmer wird im zweiten Stock liegen,
leicht mit Fahrstuhl erreichbar, zwischen den be-
liebten Abteilungen für Grammophone und Früh-
stückscafö. Es wird luxuriös eingerichtet werden
— mit allem Komfort der Neuzeit, so daß sich der
leider verstorbene Poet zu seinen Lebzeiten dort
sehr wohl gefühlt hätte. Seine eigenen Möbel, noch
gut erhalten, repariert und neupoliert, stehen ver-
kaufsfertig vorrätig. Bedienung seitens eines Herrn
aus dem Lande Nathans des Weisen. Es findet
dort auch der Alleinverkauf uer bcrühmten Lessing-
Kakes statt, welche der feinsinnige Poet stets ge-
gessen haben soll, wenn er das nahgelegene Waren-
haus besuchte.

Der Komet

Die Transvaaler Sternwarte schreibt, daß die
Erde südlich vom Schweif vorbeigegangen sei;
Herr Professor Rokka aus Mailand sah in aber im
Westen, nicht wie erwartet im Osten. In Kopen-
hagen Herr Strömgreen bemerkte nur drei Sonnen-
flecke, die er vergeblich von seinem Fernrohr abzu-
tupfen versuchte; der anspruchsvolle Herr hält
auch den Schweif für zu kurz. Die Berliner Stern-
warte sah ihn garnicht, konstatierte aber Rechen-
fehler in der sechzehnten Dezimale; vielleicht habe
der Komet überhaupt zwei Schweife. Ich enthalte
mich jedes Urteils angesichts so autoritativer Be-
hauptungen; glaube aber, daß das Vieh mit einge-
zogenem Schweife davongeschlichen ist und daß
die dabei entstandene Biegung zu den Unstimmig-
keiten geführt hat. Es läßt sich nicht mehr fest-
stellen, ob der Komet zwei Schweife, wohl aber,
daß die Astronomie zwei Hörner hat. Und ich
möchte als Unparteiischer die Meinungsverschieden-
heiten derart beseitigen, daß ich sage:

Erstens: Wenn man gerecht sein will, muß
man zugeben, daß der Schweif in gleicher Weise
zu lang war, wie er zu kurz war.

Zweitens: Der Schweif ist allerdings im Osten
erschienen; wenn man sich aber umdrehte, könnte
man die Gegend auch für Westen halten.

M i n i m a x

Wir maken Aliens dot!

Clownerie

Von Paul Scheerbart

Hopp! Hopp! Hopp!

Da is er — zieht Zylinder — verbeugt sich und
sagt ernst wie Staatsanwalt:

„Dramatuschek!“

Der Andre lächelt, klopft sich auf dickes Bauch,
nickt mit kahles Kopp und sagt schmunzelnd:

„Serr erfreut, mein Lieber! Ick bin der Ka-
pitalski.“ Händegeschüttel — Schmunzelei — zwei
Stühle — Zylinder vergraben — Männer rauchen
jleich Ziehgarn — bald serr viel Dampf in Luft.

„Ick bin,“ spricht Dramatuschek, „wie Sie woll
wissen — ein Schenie!“

„Weeß ick längst!“ erwidert Kapitalski.

„Ick will“, fährt Dramatuschek fort, „bauei
jroßes Theater mit neistes Brimborium und aller
scheenstes Humbug (speak: Hömböck!). Wi
maken allens dot. Jiebst Du Kapital? Speak, Ka
pitalski!“

Jast legt rechtes Bein auf linkes Bein, rauch
wie Schornstein und kickt jradaus wie Tatmensch

Kapitalski steckt rechtes Hand in sei Rocktascl

— zieht aber jleich wieder Hand raus.

Dramatuschek kriegt Courage, redet feste
„Mensch — jutes! Denk an! Ick hab jroßes Je
danke mit jroßes Mond — das schwebt auf Podiun
und quickt: Au!“

„Jroßes Narr — kei Schenie!“ murmelt Kapi
talski — Jast seiniges jleich serr hitzig.

Dramatuschek, das jroße Schenie, erhebt sicl
von Stuhl und hält wildes Red:

„Du hast kei Ahnung, Kapitalski! Weißt Du
was ick will maken? Ick will maken jroßes Theatel

— serr jroßes und auch serr kleines. Da sollen
Sterns vons Himmel auftreten als Aktörs, soller
sein tiefsinnik wie altes Sokrates — noch merr tief-
sinnik. Jrosse Riesendame sollen ooch kommen in
schlackerndes Feuer und buntes Pfaulicht. Tanzen
sollen Panthers und Kameels, Oxen und Schenies-
Janzes Welt soll werden gekrempelt um. AllenS
maken wir dot! Siehste, Kapitalski?“

„Nix seh ick!“ schreit der Herr mits PorP
monnee.

,0 du stupides Eichkatz!“ kreischt nu Drama^
tuschek, „hast Du kei Fantasie? Mal Dir aus ein
jroßes Kunst mit Blitz und Donner — mit jroßes
Krieg mit herzzerdrückendes Jejammer und bonv
bastisches Seligkeit. Wir maken Allens dot!“

„Kei Kunst!“ repliziert Kapitalski, „dotmaken
kann jedes Mörder. Aechtes Kunst muß maken
jutes Appetit — aber nich dickes Kopp.“

Dramatuschek flennt wie trauriges Mutter und
sagt dazu:

„Materialiste biste — kei Schenie! Aber jieb>
Kapital — dann biste Ober-Schenie — Erz-Schenie

— Gold-Schenie — General-Schenie! Jieb Kapital!’
Sei Freund!“

Jutes Mensch janz jerührt — umarmt Kapitalski

— der steckt wieder Hand in Hosentasch — zieht
raus blankes Ding — ächtes deutsches Pfennig —
jiebts an jutes jerührtes Mensch.

Uih

Bumm!

Dramatuschek springt hoch in die Höh, schreit
wie Schwein bei Schlächters — makt immerzu SaP
tomortals und packt altes dummes Kapitalski at*-
Gurgel — dreht — dreht — dreht ab das Kopp.

Wie Kopp in Dramatuscheks langes schmales
Hand, steht Kapitalski ohne Blut und ohne Kopp

janz ruhig auf — und — redet Bauch-sagt

dunkel:

„Kapitalski kann leben ohne Kopp-'

braucht kei Kopp.“ Kopplos jeht das harte Mensch
in sei Stall.

Dramatuschek heult wie Wolf, schmeißt KapP
talski-Kopp mang Publikum, daß alle MenscheH

quietschen-und fällt steif wie trocknes Brett

auf sei Nas.

Publikum janz dumm.

Schenie Dramatuschek weint blutijes Trän —

Sand wird naß und rot --immer merr nass —■

wird rotes Strom — und armes Kerl schwimmt
fort-auch in sei Stall ....

Armes Dramatuschek!

Armes Kerl!

Rotes Strom wird rotes Meer!

Armes Publikus!

Beachtenswerte Bücher und Tonwerke

Ausführliche Besprechung vorbehalten
Rücksendung findet in keinem Fail statt

SAMUEL LUBLINSKI
Die Entstehung des Christentums aus der
antiken Kultur

Verlag Eugen Diederichs Leipzig

Berichtigung

In dem Beitrag von Karl Kraus Perversität (Nr. 14)
ist zu lesen auf der zweiten Spalte 37. Zeile von unten
Handlung „heterosexuell“ statt Handlung, „heterosexuell“;
in der dritfen Soalte 3. Zeile von oben gradlinige Resul'
tante statt gradlinigen Resultate.

Verantwortlich für die Schriftleitung:
HERWARTH WALDEN / BERLIN-HALENSEE
 
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