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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 41 (Dezember 1910)
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Minskij, Nikolaj M.: Tolstoi: Der grosse Schriftsteller der russischen Erde
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Rittner, Tadeusz: Ein Charakter
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0330

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Tolstoi

Der grosse Schriftsteller der
russischen Erde

Von N. M. Minski

Turgeniew dürfte der erste gewesen sein, der in
seinem bekannten Brief Tolstoi den grossen Schriftsteller
der russischen Erde genannt hat. Seither blieb diese
Bezeichnung, die nicht frei ist von einer gewissen
rührenden Geziertheit, dem genialen .Romancier haften
und fehlt in keinem Aufsatz, in keiner Notiz über ihn.

Es ist ja möglich, dass Turgeniew den Namen des
beliebten Schriftstellers nur mit einer Aureole umgeben
und das prosaische „Russland“ mit der poetischen
„russischen Erde“ vertauschen wollte. Aber die retho-
rische Wendung erwies sich als die treffendste Charakte-
risierung Tolstois, als die umfassende Formel seines
ganzen Wirkens — zu Beginn als Künstler und später
als der Verkünder einer neuen Welt.

Und in der Tat ist Tolstoi nicht nur ein grosser
russischer Schriftsteller wie Turgeniew oder Dostojewski,
sondern er ist zum Unterschiede von ihnen der Schrift-
steller der „russischen Erde“ und jener Stände, die
historisch im russischen Boden wurzeln, des Adelstandes
in seiner Doppelrolle als Gutsherr und Staatsdiener,
des Bauerntums, gleichfalls in der historischen Doppel-
rolle als Landmann und Soldat. Alle anderen gesell-
schaftlichen Schichten, die mit ihnen nicht in direktem
Zusammenhange stehen, wie der Klerus, der Kaufmann-
und der Bürgerstand, gleich allen übrigen Klassen
der städtischen Bevölkerung von den Dienern der
Wissenschaft, der Kunst und der Presse, denen sich
die freien Berufe anreihen, bis zu dem niederen Be-
amtentum, sie alle bleiben von Tolstois umfassender
Beobachtung und seinem Schaffen unberücksichtigt.
Allen diesen gegenüber verhielt sich der Künstler Tolstoi
mit verächtlicher Gleichgültigkeit und der Moralist Tolstoi
mit zorniger Verdammung. Die Sympathien des grossen
Schriftstellers, sein Geist, sein Herz, sein Gewissen
gravitierten nur nach der russischen Erde, nach den
Arbeitern und den Hütern dieser Erde. In einer Hinsicht
also muss man Tolstoi unter allen russischen Künstlern
als den betrachten, der in geringem Masse Russland
wiederspiegelt. Erinnern wir uns doch, dass er ebenso
wie Turgeniew und Dostojewski Zeigenosse und Augen-
zeuge jener grossen Erregung war, welche in den
sechziger Iahren beginnend, die russische Gesellschaft
erfasst, in der Begeisterung für eine ganze Reihe
kultureller und politischer Ideen ihren Ausdruck ge-
funden, und nicht nur einer, sondern vielen Gene-
rationen grosse Opfer gekostet hat. Und was geschah?
Zur Zeit, da Turgeniew und Dostojewski die überall
um sich greifende leidenschaftliche Bewegung in positiven
oder negativen Bildern, jeder nach seiner Art, schilderte,
hat nur Tolstoi diese Bewegung mit keinem Wort er-
wähnt. Er hörte einfach nicht, er wollte es nicht hören,
worüber die Leute in den Städten Lärm schlagen, womit
sie ihr Leben ausfüllen und wofür sie sterben. Dieser
angeborene Aristokratismus, dieser zäsarische Glaube
an sich selbst und der Vorzug, den er allem, was ihm
nahe stand, gab, erwiesen sich für Tolstoi von grösstem
Nutzen.

Dank diesem Umstande war Tolstoi einer der wenigen
Schriftsteller, die statt im Anfang des Schaffens auf der
Suche nach neuen Bahnen herumzuirren und die Kräfte
in der Nachahmung zu vergeuden, schon beim ersten
Schritt seinen Stoff und seine Eigenart besass.

Tolstoi fand sich selbst gleich in seiner ersten
Erzählung „Die Kindheit“. Er fühlte den Drang seiner
Schaffenskräfte und entschied mit stolzem Selbstbewusst-
sein, dass nichts bedeutungsvoller und interessanter sein
könnte, als seine eigenen Gefühle und Gedanken, das
Leben seiner Angehörigen und seiner Umgebung. Ge-
wöhnlich schreibt der Romancier seine Autobiographie
erst gegen Ende seiner Wirksamkeit; Tolstoi begann
mit sich und den ihm nahestehenden Menschen und
von diesem Wege wich er nicht mehr ab, indem er
sich selbst in den Mittelpunkt jedes neuen Werkes
unter dem Namen von Nechljudow, Olenin, Besuchow,
Lewin stellte und diese zentrale Persönlichkeit mit
Menschen aus seiner ihm bekannten Welt, aus dem
mit dem russischen Boden in Berührung stehenden
Herren- oder Bauernstand umgab. Mit den Jahren wird
das persönliche Leben Tolstois immer intensiver und
bedeutender und er reisst den Schleier selbst vom Ge-
sicht, unter dem er bisher vor dem Leser erschienen
war. Statt der Bekenntnisse in der dritten Person, statt
im Namen Besuchows oder im Namen Lewins über

den Glauben zu raisonieren, legt er der Welt sein Be-
kenntnis, seinen Glauben vor, wobei dieser Uebergang
wieder mit der grössten Leichtigkeit vor sich geht, als
ob es gar nicht anders hätte sein können.

Dieses stolze Selbstvertrauen, eben in der Wahl
der Stoffe, half Tolstoi seine Eigenart mit grösserer
Leichtigkeit finden, als dies] anderen Schriftstellern gelang.
Der Naturalismus, die Wahrhaftigkeit der Schilderung,
die |treue Wiedergabe der Wirklichkeit, die bei den
anderen als eine Literaturfrage der Tradition und der
Schule erschien, das alles gab Tolstoi sich selbst, ward
ihm vom Stoff selbst zugeflüstert. Treue Wiedergabe
der Wirklichkeit? Wie konnte der Schriftsteller anders
vorgehen, dem der allergeringste Zug in ihm und
in seiner Umgebung als ein Ereignis von höchster
Wichtigkeit und würdig der Beobachtung und der Wieder-
gabe erschien. Tolstoi konnte aus dem Gefühl des
Stolzes allein weder Romantiker noch Poet werden.
Auf dem elterlichen Landgut sprach niemand in Versen,
folglich steht die Prosa höher als die Poesie. Man kann
sagen, dass von allen zeitgenössischen Schriftstellern
Tolstoi der einzige Vollblutnaturalist ist, da er während
seiner langen Schaffenszeit nur das darstellte, was er
wirklich erlebt hat.

Wenn man Tolstoi liest, fühlt man, dass es ihm
schwerer gefallen wäre zu lügen, das Leben schöner
darzustellen, als die Wahrheit zu sagen. In den sämt-
lichen Bänden seiner Werke ist nicht eine einzige
sogenannte poetische Seite zu finden. Ueber die Liebe,
über den Tod, über die Natur sagt er eben das, was
er davon weiss, was er mit seinen eigenen Augen ge-
sehen hat, mit den physischen und geistigen, und beim
Lesen seiner Werke versteht man nichtfmehr wie beim
Lesen der Iliade, wodurch sich denn eigentlich, von der
äusseren Form abgesehen, die wahre Poesie von der
wahren Prosa, die Kunst von der Geschichte überhaupt
unterscheidet.

Zuweilen will es uns scheinen, es sei so leicht, ein
genialer Naturalist zu sein. Man hat nur etwas im
Gedächtnis festzuhalten und dann niederzuschreiben.
Ist doch jeder imstande, sich auf die Selbstbeöbachtung
und die Beobachtung der Nächsten zu konzentrieren.
Wenn jede Wahrheit des Lebens bedeutend ist, warum
soilte es schwer sein — so scheint es — bedeutendes
*n der Kunst zu schaffen? Man braucht nur das Leben
zu photographieren. Aber es scheint nur so. Tat-
sächlich erklärt sich die Bedeutung von allem, was
Tolstoi schildert, nicht bloss durch sein stolzes Ver-
trauen auf den eigenen Wert, sondern hauptsächlich
dadurch, dass Tolstoi als der Sohn der russischen Erde
in sich selbst deren beste idealste Züge, ihre und ihres
Volkes Grundbedingungen verkörpert.

Deshalb liebt auch Russland Tolstoi mit einer ganz
besonderen Liebe. Indem wir in allen Helden seiner
Romane ihm selbst begegnen, nehmen wir dem Schrift-
steller seine Selbstbeobachtung und gleichsam seine
Selbstbespiegelung nicht übel, sondern wir sind ihm im
Gegenteil dankbar für die Möglichkeit, die er uns bietet,
in seine innere Welt Einblick zu gewinnen, weil Tolstoi
uns als idealster, merkwürdigster Held der russischen
Wirklichkeit erscheint. Tolstoi besitzt ein phänomenales
äusseres und inneres Gedächtnis. Mich setzt eine Stelle
in der „Kindheit“ immer in Erstaiinen: in der Be-
schreibung der ersten Trennung von seiner Mutter, da
Tolstoi kaum das fünfzehnte Lebensjahr überschritten
hatte, erinnerte er sich der kleinsten Einzelheiten, was
erin den letzten Minuten der Trennung sah, hörte und
was Jn jenem Augenblick seiner Aufmerksamkeit ent-
gangen war.

Beim Lesen der Romane Tolstois, so reich an
tausend Alltagseinzelheiten, empfindet man dasselbe, was
Olenin zum erstenmal empfand, als er zum Kaukasus-
gebirge kam: „Des Morgens vor Kälte im Wagen er-
wachend, sah er unerwartet das reine weisse Gebirge,
und diese Nähe von etwas Unbegrenztem und Herr-
lichen verschönte ihm alle seine Reiseeindrücke.“ „Jetzt
begann es “ — — als hätte ihm dies eine Stimme
feierlich zugeflüstert. Und die Fahrt und die in der
Ferne deutlich werdenden Umrisse des Terek und die
Kosakendörfer und das Volk —f alles erschien im jetzt
nicht mehr nichtig. Er blickt auf sich, auf den Himmel
und erinnert sich der Berge. Er blickt auf sich, auf
Wanjuscha und wieder auf die Berge. Da reiten zwei
Kosaken, und die Flintenjin] den Gewehrtaschen tanzen
auf ihren Rücken und ihre Pferde laufen mit braunen
und grauen Beinen durcheinander, und wieder die
Berge.... Die Sonne geht auf und glitzert auf dem
durch das Schilf sichtbaren Terek.die Berge.

Dasselbe Gefühl ,'von etwas Unbegrenztem, Er-
habenen fühlt man unwillkürlich beim Lesen vonToIstois

Romanen. Der eingetroffene Offizier verliebt sich in
die Kosakin, die zuerst nach seinem Reichtum begehrt,
und später angesichts der Gefahr den einfachen Kosaken
ihm vorzieht — das Schicksal.... Lewin beobachtet
die Arbeit der Bauern beim Mähen — die Wahrheit —
Anna Karenina ist grundlos auf Wronski eifersüchtig
— — Gott. Schiuss foigt

Ein Charakter

Von Thaddaeus Rittner

i

Meinem Ferdinand fiel vor einigen Wochen ein
Ziegelstein auf den Kopf. Nun liegt der Schwerkranke
bei mir zu Hause, wo zwar auch Adele wohnt (seit
dem Aschermittwoch), aber sonst genug Platz vorhan-
den ist. Der Arzt versichert, der Zustand des Patienten
sei hoffnungslos.

Nebenbei gesagt, hätte ich nie geglaubt, dass ich
den Menschen überleben würde.

Zuweilen kommt auch Mischi (nach Schluss seiner
Apotheke) und wir spielen Karten. Es ist doch an-
genehmer, einen Kranken zu pflegen, wenn man Ge-
sellschaft hat.

Hier und da gehe ich zeitig zu Bett, und Adele
und Mischi halten Wache.

Mischi sagt zu mir:

„Du brauchst mehr Schfaf als wir, weil du viel
arbeitest . . .“ Früher konnten Mischi uud Adele den
armen Ferdinand nicht ausstehen; aber nun sitzen die
guten Seelen viele Nachtstunden an seinem Bett . . .
mit Rücksicht suf die Hoffnungslosigkeit seines Zustandes.

Die Nächte sind so heiss, dass ich trotz offener
Fenster niederträchtig und mit Unterbrechungen schlafe.
Und morgens wache ich mit einem Gefühl auf, als
hätte ich die Nacht nicht in meinem Bett, sondern
weiss der Teufel wo verbracht.

Ich träume hauptsächlich, ich selbst hätte meinem
Freund den Ziegelstein auf den Kopf geworfen.

Und vorige Nacht wurde sogar über mich Gericht
gehalten.

Ich erinnere mich deutlich.

Grosser Saal, Gerichtshof, Staatsanwalt, Advokaten
— alles wie in Wirktichkeit.

Man stellt mir Fragen, ich antworte. Ich sage, wie
ich heisse, wann und wo ich geboren wurde . . alles
wie in Wirklichkeit.

„Bekennen Sie sich schuldig?“

Ach so . . . Die Sache mit dem Ziegelstein.
Also nicht ein Zufall, sondern . . . . ich?

Ich weiss es selbst nicht. Aber nach kurzem Nach-
denken komme ich zu der Ueberzeugung: ja, ich hab’s
getan.

Ich hab’s getan.

Zweifellos, denke ich. Hatte ich nicht unzählige
Male grosse Lust, dies zu tun? Wie oft? Wie oft?
AIso werd’ ich’s wohl auch getan haben. Sicherlich.

„Ja,“ sage ich einfach.

Aber nun fragt man mich nach den Motiven, und
da . . . schüttle ich nur den Kopf. Ich habe wahr-
lich nicht die Lust, über meine privatesten Angelegen-
heiten zu beichten.

Ich antworte nicht, Ich schaue dem Gerichtshof
unverschämt ins Gesicht und pfeife vor lauter Gemein-
heit und Verstockheit .... Und der Gerichtshof
überschüttet mich mit stummen Drohungen, die mich
wie Rossfliegen peinigen.

In meiner Bedrängnis und Verlegenheit beginne ich
endfich zu sprechen. Ich spreche lange und so aus-
gesucht witzig, dass ich davon Kopfschmerzen bekomme.
Als hätte ich nicht nur eine unglaubliche Rednergabe,
sondern auch mehr als vierzig Grad Fieber.

Ich erzähle, wie mir Ferdinand das Leben ver-
bittert hat, und wie ich ihn dafür töten musste. Es
gelingen mir einige fabelhaft komplizierte Sätze, die
Ferdinand und seine Beziehungen zu mir charakterisieren.
Ich spreche . . .

Und nun bin ich plötzlich wo anders . . .

Es verschwindet der Saal, es verschwindet der hohe
Gerichtshof ... ich bin augenscheinlich zum Tode
verurteilt.

Ein rührend einfacher Galgen. Als wäre er von
einem Schuijungen auf der Schiefertafel gezeichnet.
Und Henker is Ferdinand. Aus diesem feierlichen
Anlass ist er natürlich gesund geworden. Seine Augen
drücken, wie gewöhnlich, strenge, ich möchte sagen,
unbarmherzige Freundschaft aus.

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