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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 17 (Juni 1910)
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Leppin, Paul: Daniel Jesus, [8]: Roman
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Döblin, Alfred: Gespräche mit Kalypso, [13]: Ueber die Musik
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0138

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dieser Nacht erschreckt und verwundet, und ließ ihn
in seinem leeren, haltlosen Leben zitternd und
angstvoll zurück. Nun stand er wie ein furchtsames
Kind im Dunkeln. Ihn quälte keine Reue, und
machte ihn unsicher, aber die große, böse Stunde
stieg aus Trunkenheit und Träumen wie eine Säule
auf, um ihm ein Zeichen von Qott zu geben. Sein
hartes, blindes Herz war schwer geworden vom
Blute der Scham.

Er blieb der einzige im Hause, dem Marietta
nicht aus dem Wege ging. So hieß das blonde
Mädchen aus dem Dorfe. Sie sprach mit keinem,
der sich ihr näherte, auch mit dem Schuster nicht.
Nur wenn im Gebet der Schlaf iiber sie kam, konnte
sie mit allen reden. Am Tage wich sie beharrlich
aus, und wenn sie jemand etwas fragte, dann sah
sie lange in sein Qesicht und verstand ihn nicht.
Aber wenn sie auf die bleichen, glühenden Hände
des Schreibers blickte, der sich leise iiber die
Stiegen durch die Kiiche in sein verfallenes Zimmer
tastete, wurde ihr Mund freundlich und heiter, und
sie ging zutraulich zu ihm und sprach ihn an. Das
erste Mal wollte er sich verwundert und miirrisch
vortiberdriicken, ohne Antwort und ohne Qruß. Da
sah er in ihre weiten schimmernden Augen, die groß
und ohne Qrenze über alle Dinge gingen, und blieb
stehen.

Du bist krank, und deine Lippen sind weiß wie
die eines Mörders — sagte sie zu ihm.

Dein Mund ist wie der Honig — gab er zurück
und konnte nicht weiter reden, weil ihre Augen ihn
hielten und seine Stimme erstarrte. So blieb er
stehen und sah ihr nach, wie sie in ihr Zimmer ging.
Seit dieser Stunde sprach er oft mit ihr. Harte, ab-
gebrochene Worte, hastig vor Heimlichkeit, damit
die andern nicht hörten, was er sagte. Und er war
fromm, wie früher die Zigeunerin neben dem
Schuster, kniete jetzt er neben Marietta und sah sie
an, während sie betete. Leise und demütig kam ei
abends zur Tür herein, wenn die Andacht begann,
blickte keinem ins Qesicht. wußte kaum, daß jemand
da war außer ihr. Nur wenn ihn das böse Auge
seines Vaters streifte, zuckte er zusammen und
senkte den Kopf noch tiefer über seine gefalteten
Hände, und er wandte sich ab, wenn Marietta zu
ihm hinüberschaute. Und langsam und unentrinnbar
fiel in sein Herz der Glanz der lauretanischen
Litanei und machte es blind, und betäubte es. Das
war das Qebet, das lange, tiefe, inwendige Qebet,
das Marietta sagen mußte, weil es der Muttergottes
gehörte und weil sie ihre Dienerin und Sklavin war,
und weil sie mit lebendigen Augen sie selbst ge-
sehen hatte, groß und selig, die Königin.

Wie ein wundervolles, glühendes Lied drangen
die Worte der heiligen Litanei in die Seele der Beter,
in die Seele Mariettas und des Schreibers und ver-
wirrten sie. Wie im Taumel sprach er nach, was
alle rings um ihn eintönig und heftig voll brennender
Angst in die Fensterscheiben riefen. Hinter dem
welßen Vorhang sah er die Sterne am Abendhimmel
stehen, zittrig und bleich, und dennoch wie die
Zacken eines großen und tröstenden Diadems. Er
hob die Hände und stammelte:

Bitt für uns!

Bitt für uns!

Es war eine hohe, singende Welle in ihm heute
Abend. Er hörte neben sich Marietta sprechen und
an ihrer verweinten, gläsernen Stimme erkannte er,
daß er noch diese Nacht die Küsse ihres Mundes
trinken. werde wie jungen Wein. Deine Lippen
sind rot wie der Honig, hatte er ihr einmal gesagt.
Wie wilder Honig, dachte er, wenn ihn die Bienen
im Walde sammeln, und der Wind und die Sonne
und der Regen geben ihren Duft dazu. — Er lauschte
dem seltsamen Klang ihres Gebetes und hörte, wie
sie sich in dem goldenen Zauber ihrer Liebe verlor,
wie in einem Wunder, wie sie darin versank, wie in
einem Teich. Der heiße Schlaf der Vision fiel über
Marietta, und ihr Kopf sank an die Schulter des
Sehreibers. Ihre Hand zerbrach beinah die seine in
efnem wilden, verzehrenden Entzücken, als sie
zwischen den hölzernen Rahmen des Fensters das
Antlitz Marias erblickte. Und Josef sah in die Augen
Mariettas, die in die Ferne irre gingen wie durch
einen goldenen Wald. Ihre armen, zersprungenen
Lippen redeten weiter. Durch einen Schleier kamen
die Worte stoßweise, wie im Glück.

Du geistliche Rose —

Du gütige Jungfrau. —

Und heiser im Chor, angstvoll und taumelnd
klang die Antwort der andern, von Mühseligkeit ge-
quält, von Bangnis zertreten.

Bitt für uns!

Bitt für uns!

Die Hand Mariettas kreeh in den Rockärmel
des Schreibers und bohrte sich im Fieber mit weißen
Nägeln in seinen nackten Arm. Auch über ihn kam
fast von Zeit zu Zeit, wenn er die Augen schloß und
lauschte, wenn er im Dunkeln mit den andern
betete, der Lichtglanz der Vision. Dann trug ihn
die springende Welle der lauretanischen Litanei in
eine schöne, silberne Landschaft, und sein früheres
Leben war versunken wie ein Traum. Eine Hänge-
matte schaukelte draußen vor dem Fenster, wo vor
einer Weile noch die Muttergottes mit der Krone
stand. Und drinnen lag weit ausgestreckt die blonde
Marietta in dünnem blauen Kleide. Um die nackten
Beine schlangen sich schmale Metallstreifen, in
denen rote Rubinen brannten. Und sie sah ihn an,
ihn ganz allein, und ihre Augen gingen in den seinen
irre wie in einem goldenen Wald.

Er hörte ihre verzückte gläserne Stimme
wieder.

Du Arche des Bundes —

Du Turm Davids —

Du elfenbeinerner Turm. —

Und er hörte auch, wie ihre Stimme sick neigte
und kippte und deutlich, ganz deutlich laagsam
zerbrach:

Du Morgenstern —

Du goldnes Haus. —

Erbarme dich unser! schrie der Schreiber auf,
daß plötzlich die Qebete der andern verstuinmten
und es still und reglos wurde in der Stube des
Schusters. Und alle sahn mit Staunen und Ent-
setzen, wie der Schreiber die blonde Marietta in den
Armen hielt und wieder und wieder ihren Mund
küßte. Und Marietta, die blonde Heilige, lag bleich
und lächelnd in seinem Schoß und griff mit ihrer
mageren Hand in sein struppiges Haar und
streichelte es.

Erbarme dich unser! rief noch einmal der
Schreiber und küßte sie.

Dann stand er auf, nahm mit beiden Armen den
kleinen Körper Mariettas und trug sie zur Tür
hinaus. Ihr blasses Haar hing wie ein Band an
seinem Leib herunter, und ihre Hände suchten seine
nackte Brust.

Der Schrecken lähmte alle, und keiner hatte ein
Wort gewagt. Jetzt schloß sich die Tür hinter den
beiden, und Josef und Marietta waren im Dunkeln.

Am Ende der großen Straße standen die Sterne
in einem goldnen Haufen beisammen. Und da Josef
und Marietta nicht wußten, wohin sie gehen sollten,
wandten sie sich den Sternen zu und kamen ihnen
langsam näher. Sie schritten nebeneinander pnd
hielten sich wie die Kinder bei den Händen. Und
als Marietta aus ihrem Schlaf ein wenig zu sich
selbst zurückkehrte, fragte sie den Schreiber, was
das alles bedeute und daß sie ihr Herz nicht mehr
erkenne und ob dort rückwärts bei den goldenen
Sternen die Muttergottes sei.

Und Josef erklärte ihr, was er selbst kaum
wußte, daß die Liebe das Herz und auch das Leben
verändere, wie sie es mit seinem Leben getan habe.

Sie faßte ihn um den Hals und schaute auf
seinen Mund, während der Schein der Milchstraße
sein Qesicht umfloß.

Wie kommt es, daß deine Lippen nicht mehr so
häßlich sind und so weiß wie die eines Mörders?

Da küßte sie der Schreiber und mußte an den
wilden Honig denken, den im Walde die Biesen
bereiten.

Und sie gingen beide die Straße weiter, dorthin,
wo die Sterne in einem gelben Haufen beisammen-
standen und fragten nicht mehr.

Sie sind nie wiedergekommen — nie.

Gespräche mit Kalypso

üeber die Musik

Von Alfred Döblin

Biebentes Gcspräoh: Glesst Weln in meinen
Becher / Von den unteren Tonordnungen

ScklaM

M u s i k e r :

Ich stimme Dir bei. In den Erscheinungen der
Wirklichkeit, die den Tonstoff ordnen, nimmt der
Mensch, seine Stimme, seine Qebärden und Bewe-
gungen, großen Raum ein, weil der Musikschöpfer
sich selbst am bekanntesten ist. Ich sage: auch

seme Mimik und Bewegungen; denn nächst der
Stimme sind diese für die Musik wichtig. Hier
möchte ich Dich gleich auch auf einen Wahn hin-
weisen, der weit bei den Kennern und Nichtkennern
verbreitet ist, daß eben der Uebereinstimmung mit
menschlichen Seelenbewegungen, mit Qefühlen, die
Musik die wertvollste Ordnungsregel verdanke;
Du, Kalypso, streiftest selbst eben diesen Qedan-
ken, doch ohne dem Wahn zu verfallen. Wie über-
haupt Qefühle Zugang zu der Musik gewannen,
wies ich Dir schon vorhin. Die Tonfolgen waren
ehedem wohl recht eigentlich absolut, in Deinem
Sinne ausdrucks- und eindrucksfremd, entwickel-
ten nichts als die eigentümlichen, eben hervor-
tretenden Regeln des Tones, die Möglichkeit des
Kurz und Lang, des Langsamer und Schneller, des
Wechsels von Hoch zu Tief und Tiefer. Erst mit
der wachsenden Vertrautheit mit diesen Stoffmög-
lichkeiten bahnte sich eine engere Beziehung des
Musikers zu diesen Tonfolgen an: er fand und
setzte die Gleichniswerte und sonstigen Ordnungs-
weisen der Töne. So band er auch, was man Qe-
fühl nennt, an die Töne und Folgen. nachträglich.
spät, zag, unsicher. Besonders wurde solche Qe-
fühlsteilnahme möglich. je mehr Qesangüches und
Gesprochenes in die Musik eintrat, weil diesen ia
Qefühlsmitteilung und Gefühlsausdruck wesentlich
eignet. So eng sind jetzt in gewissem Hinbück die
beiden, Musik und Qefiihl, verbunden, daß manche
Musiker prahlen, sie könnten ihr Inneres ausdrücken
in Tönen. Es üegt hier so wie mit der Wiüens-
freiheit: nachdem wir gelernt haben, wie einfge
Bewegungen erfolgen und wir sie voraussehen
können, meinen wir, wir machten sie. Einestefls
nun vermag letzt die Musik in diesem Verstande!
Oefühlsregungen und was man so nennt, „auszu-
drflcken“, und sie erhält aus diesem Vermögen. das :
weit flber das des bloß Gesangüchen hinausgeht, I
mächtige schöpferische Antriebe. Weiter aber i
bleibt noch vieles in den Tönen für Qefühls- und i
Empfindungswert unzugänglich, unberechenbar; es
läuft ihnen keine Gefühlsreihe oder innere Erleb-
nisreihe parallel; kein Musiker kann sagen, er hätte
mit diesen Tonverbänden etwas ausdrücken wollen
und was er mit ihnen ausdrflcken wollte. Die Ton-
welt ist ja eine eigene Welt, eben die des Tönens
und ihrer Satzunjren; manches masr da mit kelner ‘
, sonstigen Wirklichkeit sich verschwistern. Viel-
mehr müssen wir erst, wie jene alten Musiker den ;
hölzernen starren Tongebilden, so diesen EmpfiU' :
dungswerte an die Brust legen, oft sogar zu ihnen
solche Seelenwerte und was man so nennen mag.
erfinden. Die Musik. statt Qefiihle und Empfin-
dungsgruppen auszudrücken, lehrt den Menschen
solche; es gibt nicht ihresgleichen irgend sonst in |
der Welt und der Kunst. Und so tut Ja jede andere ■
Kunst und ist ihr Verhältnis zu dem Innern des
Menschen.

Was es aber mit diesen Qefühlen noch auf sich
hat, berührtest Du schon leicht, o Kalypso. Hief :
kann der Mensch viel von der Musik lernen.
Gefflhle kennt die Musik nicht; sie kennt nicht Haß.
nicht Schmerz, Kummer, Trotz, Wut oder Liebe.
Wenn die Bewegung der tiefen Töne Grauen und
Furcht, die gebundene Bewegung Liebe und Sanft-
mut, der kurz abgesetzten Trotz bezeichnen, so
danken sie diesen Zeichenwert nicht den Qefühlen-
sondern Erscheinungen der Qefflhle. Die Musik
gibt nichts von dem Seelischen der Qemütsbewe'
gungen. Sie entreißt jedem das Aeußere und 1äß<
davon ein wirres Bild vor uns vorüberziehen. Sie
kann nicht sagen: „Ich liebe Dich; ich bin stolz; ich
bin betrübt“. Thre Freude ist kraftvoües, UU'
ermfldetes Springen, Tanzen, Jubeln. Kichern und
leichtes Wiegen; ihr Stolz Iäßt Rosse traben.
Armeen marschieren, einen ungebrochenen Qesan?
anstimmen mit befehlerischer Knappheit; sle kenn<
keine Liebe, sondern nur den Kuß. nur eine dunklc
nnsichere Aufgelöstheit und Spannung, das Drän-
gen und Werben, das Anschmiegen. das angstvolle
Zueinander, das ruhelose und wieder ruhige Hln :
und Her, In dem sich Lachen und Schluchzen j
mfscht. Das Zittern, das unentschieden, ungleich'
mäßige Bewegen heißt Eurcht. Der tangsamf
Schritt, das volle tiefe Tönen: die Würde. dei - j
Ernst. Die Musik, die tönende, hält slch an da«
Tönende und den greifbaren Ausdrnck des Oe-
müts: s!e ist hierin weit ab von dem Qedanken und
von der Sprache, sie bleibt nachbildend unter den
Dineen. Sie ist von der Art der alten Erzähler, di ß
nur Kämpfe und Begebenheiten kennen. Meint elnef
vleüeicht nun, sie begnflge sich da mit dem Aeußer-

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