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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 13 (Mai 1910)
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Kraus, Karl: Perversität
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Leppin, Paul: Daniel Jesus, [4]: Roman
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0102

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immer für Pläne mit diesen Qeschöpfen vorhaben,
eine tiefere Anteilnahme kann der Einzelfall, nie das
Problem beanspruchen. Der Mischmasch, den die
Natur erschaffen und Herr Dr. Hirschfeld kategori-
siert hat, kann auch Talente haben: seine kriminelle
Behandlung, so verabscheuenswert sie ist, berührt
die Freiheit nicht in einem tieferen Begriffe. Anders
die Verfolgung der „Perversität“ als solcher, anders
der stupide Haß, der der Persönlichkeit in die Rechte
ihres Nervenlebens folgt. Auf die Qefahr hin, sich
selbst dem Verdacht der „erworbenen Homo-
sexualität“ preiszugeben, müßte jeder denkende
Mensch laut aufschreien über die Schändlichkeit, die
eine staatliche Norm für die Betätigung des Qe-
schlechtstriebs vorschreibt, und laut und ver-
nehmlich das Recht auf erworbene Homosexualität
proklamieren. Der fromme Blödsinn hat jede
Nuancierung der Lust, jede Erweiterung der Qenuß-
fähigkeit und die Eroberung neuer erotischer
Sphären, die in allen Kulturen, nicht bioß in der
griechischen, das ureigenste Recht des Künstlers
und den Vorzug jedes höher organisierten Menschen
gebildet haben, als Wüstlingslaster verfehmt, und
die Staatsidioten sind der Ansicht, daß der Mann, der
die Homosexualität „erworben“ hat, sich in keinem
Wesenszug von jenem unterscheidet, der nichts
dafür kann. Die männlichsten, geistig und ethisch
vollkommensten Männer, die seit Sokrates dem
,;Laster“ gefröhnt haben, sehen demnach zurn Ver-
wechseln den weiblichsten Weiberseelen ähnlich,
die ein vertrackter Zufall in einen männlichen Leib
gesperrt hat. Daß sie dort ihre peinlichsten Exzesse
treiben, und daß die Nichtanderskönner eine soziale
Unbequemlichkeit sind, wer könnte es leugnen?
Die Einschaltung eines sexuellen Stroms zwischen
Mann und Mann, also eine zweite „Norm“, schafft
unnötige Komplizierung der Lebensverhältnisse.
Es ist beschwerlich, mit einem Mann ein männliches
Qespräch zu führen, wenn er nur deshalb an
unserem Munde hängt, weil ihm unser Mund ge-
fällt, und statt mit den Ohren, mit den Augen zuhört.
Aber glaubt einer ernstlich, daß in soichem Qespräch
auch der andere Typus, dessen verfeinerte Qei-
stigkeit zur homosexuellen Handlung führen kann,
die Besinnungsfähigkeit verliert? Man muß der
Menschheit solange mit „Paradoxen“ auf den
Schädel hämmern, bis sic merkt, daß. es die einzigen
Wahrheiten sind, und daß witzige Antithesen bloß
dann entstehen, wenn eine frühreife Wahrheit mit
dem Blödsinn der Zeit zusammenprailt. Man muß
ihr sagen: Perversität kann eine Krankheit, sie
kann aber auch eine Qesundheit sein. Das Wider-
spiel der Norm, aber auch die letzte untrügliche
Probe der Norm. Unappetitüch an der Sache ist
höchstens die Terminologie. Wer das Weibliche so-
gar im Mann sucht, ist nicht „homosexuell“, sondern
in der homosexuelien Handlung, „lieterosexuell“.
Pervers ist vielmehr, wer das Männiiche sogar im
Weib sucht. Der „Wüstling“ kann der ent-
schiedenste Bejaher einer Norm sein. Der geborene
Homosexuelle, dem die simple Männlichkeit nicht
mehr genügt, könnte als letztes Raffinement, wenn
er eines solchen überhaupt fähig ist, das Mannweib
in Männerkleidern wählen. Der Normale den
Knaben im Weiberkleide. Wenn ich die Wahl
zwischen einem Antinous und einer Frauenrechtlerin
habe, — ich bin nicht pervers genug, um zu
schwanken, und ich bin nicht Heuchler genug, um
nicht zu bekennen, daß bloß der Qesetzeswahnsinn,
dem ich die Freiheit außerhalb des Kerkers opfern
muß, mir die Praxis meiner Wahl verwehrt Alie
Erotik beruht auf der Ueberwindung von Hem-
mungen. Eine stärkere Hemmung für den Mann
als das Merkmal des eigenen Geschlechtes gibt es
nicht; gelingt es, sie zu überwinden, so ist die Zu-
neigung zum andern Geschlecht, die erlaubte, offen-
bart. Der Anormale sucht die Zeichen der Männ-
lichkeit; der Normale flieht sie oder besiegt sie auf
der sicheren Spur femininer Anziehung. Der Sieg
wird erleichtert durch die Hemmung des Verbots,
die gleichfalis erogen wirkt. Der Künstler, der das
Qebiet der Weiblichkeit schnelier abgehaust hat als
der Philister, hat vermöge der Gnadengabe einer
regenerierenden Phantasie die Kraft, seinen Bedarf
am Weib auch beim Mann zu decken. Der volie
Mann, dem die Möglichkeiten der doppelgeschlecht-
lichen Naturanlage nie versperrt sind und der die
Lust am Weibe nicht nur beweist, sondern vermehrt,
wenn er die Lust am Manne versucht, steht dem
pathologischen Homosexuellen ungleich ferner als
dieser dem Weib. Wie der Magnet die Eisenfeil-
späne im Holzstaub, so zieht er das Weibliche im
Mann an sich. Der Magnet ist also pervers, wei! er
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sich mit dem Hoizstaub einläßt. Die Dummheit
einer ganzen Welt stellt sich das Geschlechtsleben
als eine Sache der Einteilung oder ais die gerad-
linigen Resultate ethischer Entschließungen vor.
Man weiß wirklich nicht, wovon man fett wird.
Daß die süße Speise in einem Hexenkessel bereitet
wird, — wer uns das sagte, verdiente gesteinigt zu
werden. Wer einem Dummkopf sagte, daß die
Würze der Kost jede beliebige Widerwärtigkeit sein
kann. Daß ihn ein Hindernis zu seiner Qeliebten
führt. Und daß der Geschmack, je kultivierter er
ist, desto mehr Würzen braucht. Der Wissende ver-
mag alie Hemmungen, die er als solche empfindet,
als erotische Hilfen zu nützen. Ihm dient die Phan-
tasie, wie dem echten Weib die Sinnlichkeit dient.
Alles, was sich neben der Liebe begibt, fließt, ihn zu
verstärken, jn den Hauptstrom der Sexualität. Von
allen Höhen und aus allen Rinnsalen des Qeistes
kommt Sukkurs; aber der Strom weiblichen Qe-
nießens hat vom Ursprung bis zur Mündung keine
Nebenflüsse. Der Ueberschuß an Sexualität beim
Manne kann sich in einheitlichem Lauf und er kann
sich in geistiger Differenziertheit ausleben.
Zwischen einem Holzknecht und einem Denker be-
steht immerhin dieser Unterschied. Dem Weib gibt
die gerade Linie die Bedeutung, gibt ihm die einzige
Persönlichkeit, deren das Weib teilhaftig werden
kann, und Differenzierung schafft die pathologischen
Formen der Hysterie. „Perversität“ gibts nicht.
Konversionsfähigkeit ist ein Vorzug des Mannes, ein
interessanter Mangel der Frau, deren Unvoll-
kommenheit der Mann wieder zu konvertieren ver-
mag. Das Weib braucht die Persöniichkeit des
Mannes, aber der Mann kann die Persöniichkeit des
Weibes eher anbeten ais brauchen, nur von ihr ge-
braucht werden. Er kann ein Weib verschmähen,
ohne daß sie es ahnt. Sie glaubt. daß er bei ihr ist,
und er betrügt sie mit einer Situation, mit einem
Hindernis, mit einer Erinnerung. Beginnt aber sie
aus Begleitumständen erotischen Qenuß zu ziehen,
so wird sie bedenklich. Die ewig wachen Sinne des
Mannes vermag seine Sinnlichkeit nicht zu be-
täuben. Phantasie eilt ihr zur Hilfe und wird mit
den Sinnen fertig. Sie verarbeitet den Rest, der zu-
rückbiieb, und läßt den Mann aus der vertracktesten
Widerwärtigkeit, die er einmal bei der Liebe ge-
funden hat, erotischen Qenuß ziehen. Die Erinnerung
an ein Klaviergeklimper, das er nicht ausstehen
konnte, treibt ihn zurück, er sehnt sich nach dem
ungelüfteten Schlafzimmer, aus dem er geflohen ist,
und alles, was ihn abstößt, zieht ihn an. Der Frauen-
leib ist ein Imaginiertes, real und enttäuschungslos
sind nur die Vorsteüungen. Phantasie anästhesiert,
macht häßiiche Hände schön und ein Weib be-
gehrenswert, das mit der Andern nichts als eine
häßliche Hand gemein hat. Aesthetisch wertet nur
der Mann ohne Einbildungskraft oder die Frau ohne
Sinnlichkeit. Sie ist noch immer objektiver, wenn
sie an dem Busen einer Rivalin etwas auszusetzen
hat, als er, wenn er ihn preist. Er führt meisterlich
Regie über ein Ensemble der Defekte und kom-
mandiert allen Hindernissen, daß es ein Vergnügen
ist. Beliebte Hemmungen sind, — o Romantik! —
das Nichtzuhausesein einer Frau, das Verreistsein,
das Verheiratetsein, die christliche Sündenlehre und
das Strafgesetz. Wer ohne Hemmungen lebt, ist ein
Schwein. Wer sie im Kampf überwindet, ist ein
Künstler. Das Weib trägt aus solchem Kampf die
Trophäen der Hysterie davon und bleibt die Ge-
fangene ihres Sieges. Sie ist in ihrer Qebundenheit
so normv/idrig wie der Mann als Sexualtier. Aber
die freie Sinnlichkeit des Weibes ist der volle Wert,
durch den es die Natur entschädigt hat, als sie dem
Mann die Phantasie gab.

Daniel Jesus

Roman

Von Pau! Leppin Drltte Fortsetzung

Der Schuster Anton hatte einen Sohn. Als der
noch ein Kind war, nannte er ihn Josef, aber
er hatte nun schon seit sieben Jahren kein Wort
mehr zu ihm gesagt.

Er iieß den Knäben studieren und wollte
einen tüchtigen und gescheiten Menschen aus ihm
machen. Er wurde ein Strolch. Vor einigen
Wochen erst war er wieder aus dem Zuchthause
gekommen. Er schlich sich leise und unhörbar in
sein Zimmer und zeigte sich niemandem. Sein
Vater und seine Mutter Margarete duldeten ihn in

ihrem Hause, weil er ihr Sohn war, und sie beteten
in den Nächten für seine Seeie, während er in
wüsten Lokalen sein Qeld vertrank.

Josef war den Tag über Schreiber bei einem
kleinen Advokaten. Bleich und wortkarg tat er
seine Pflicht und steckte finster den kargen Lohn
ein, den ihm der Monat brachte. Daniel Jesus hatte
ihm diese Stelle verschafft, weil ihn dieser junge
Mensch mit dem schmutzigen Schlapphut, dem
grünen Stein in der grellen Kravatte und dem
Diebsgesicht interessierte. Daniel Jesus hatte einen
weiten und einen stahlharten Blick für die Seele.
Er nahm die Leute nicht nach ihrem Nutzen und
ihrem Wert fürs Leben, er sah und scheute in ihnen
zumeist die latenten Kräfte des Geschicks, das sie
erfüllten. In Josef hatte er gleich beim ersten Male
jene biindwütige und grandiose, stumpfe Energie
erkannt, die seine Jugend in Dunkelheit und Kot
hinunterführen mußte. Er wußte, daß Josef einer
der seltnen Menschen sei, die man dazu gebrauchen
könne, Schicksale zu beschleunigen und bange Ent-
wicklungen gewaltsam zu schmerzlicher Blüte
aufzureißen. Josef hätte eine Stadt angezündet
und tausend Leute verbrennen lassen, wenn er be-
trunken war und ihm jemand diesen Qedanken ein-
blies. Ein schwacher, aber gewalttätigei Mensch,
unsicher und unseibständig, aber eigensinnig und
grausam in seinem Herzen.

Diesen Menschen entdeckte Daniel Jesus mit
Freude und Qraun. Er unterstützte ihn mit seinem
Qeld und seinem Einfluß und hielt die Polizei von
ihm fern, so lang es ging. Er bewahrte ihn, wie er
zuweilen leise schauernd dachte, für einen großen,
roten Augenblick seines Lebens, wo zwischen Qiut
und Staub und Asche die trunkne Hand des Diebes
eine Stunde oder ein Wort zu ihm brächte, das viel-
leicht ohne ihn niemals oder sehr iange nicht ge-
kommen wäre.. Ailmählich fühlte er, daß diese
Stunde nahe war zum Qreifen. Er sah die blasse,
zerrissne Stirn des Schustersohnes, auf der die
ruchlosen Qedanken eines feigen und unbesonnenen
Herzens krochen, und sah die Schatten und Flecke
in seinem Qesichte, die von den wilden Flüchen
seiner betäubten Seele sprachen. Und er wußte
nun, daß dieser Mensch reif für ihn war. Fast kams
wie eine Angst zu ihm bei dieser Erkenntnis.

Daniel Jesus war reich. Er streute das Qeld
mit fiebernden Händen aus wie einer, der nur für
einige Minuten Kaiser ist. Darum ging es wie ein
Zauber und wie ein Bann von ihm aus. Oft mußte
er an den Rattenfänger von Hameln denken. Sein
Qeld zog um ihn einen gespensterhaften unsicht-
baren Kreis, dem jeder erliegen mußte. Viele
Menschen waren seinetwegen schon verraten
worden und manches Gliick verkauft. Aber es war
trotzdem immer wie ein Rausch und eine wiilenlose
Hingabe um ihn her. Wenn die Musikanten für ihn
spielten, dann schien es, als ob die Instrumente
lebendig würden und Hände bekämen. In tausend
Figuren sprachen und schrieen sie zu ihm hin und
folgten ihm nach und haschten ihn mit den Fingern
und baten und lachten und kicherten immer um ihn
herum, wenn sie rückwärts an seinem Buckel vor-
überkamen, hell und impertinent wie die Buben,
die über ihn auf der Straße lachten.

Daniel Jesus saß auf den schmutzigen Dielen
und schrie. Er wollte ein andres Lied haben, ein
ehrliches oder ein schuftiges, aber keins das mit Qri-
massen hinter ihm herschlich und mit seinem eignen
Qelde so höllisch gell klimperte. Die schwarze
Carmen saß vor ihm auf einem leeren Fasse und
hatte fingerdicke Goldringe in den Ohren und darin
links und rechts je einen echten Diamanten. Die
Steine schenkte ihr Daniel Jesus im letzten
Sommer, weil sie ihn eine Viertelstunde lang
amüsiert hatte. Sie war in seiner Equipage eines
Mittags splitternackt hoch aufgerichtet im Kutsch-
bock mit seinen zwei tollsten Pferden wie eine
Rasende durch die Stadt gefahren, und niemand
hatte gewagt, die wahnsinnige Fahrt aufzu-
halten. Wie durch einen Zufall geschah kein
Ungiück, und die Polizei hatte das Nachsehn. Zwar
hatte man den Wagen Daniels erkannt, aber nie-
mand vermochte mit Bestimmtheit etwas auszu-
sagen. So fuhr die schwarze Carmen, die nackte
Hure, jauchzend und wild im' geöffneten Tore der
Villa „Jesus“ ein, wo weit draußen vor der Stadt
die alte Bettlerin auf der Straße und der Leiermann
mit seinem Holzbein dem seltsamen Wagen und
seinem seltenen Fiihrer wie einem Spuk nach-
starrten.

Heute dachte Daniel Jesus gar nicht mehr an
dieses Abenteuer. Er sah in das rote, verzerrte Qe-
 
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