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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 1 (März 1910)
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Kraus, Karl: Die Operette
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Kurtz, Rudolf: Programmatisches
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0006

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Ürnst des Lebens bessere Qeschäfte machen iasseii,
hat den blühenden Unsinn der Operette zum Wel-
ken gebracht. Sie imponierte sich mit ihrer Pfiffig-
keit, als sie die Unwahrscheinlichkeit einer Operet-
tenhandlung entdeckte. Wie sollte es auch möglich
sein, den im Verdienerleben unaufhörlich tätigen
Verstand fiir einen ganzen Abend auszuschalten?
Zudem ist der Feuilletonlektüre eine vordem nie ge-
ahnte Ausbreitung der Bildung gelungen, und diese,
läßt sich mit Schäferspielen und märchenblauen
Unmöglichkeiten nicht inehr abspeisen. Der auf-
geweckte Verstand hat den Unsinn entlarvt und
seine Rationalisierung durchgesetzt. Was geschieht?
Der Unsinn, der früher das Element war, aus dem
Kunst geboren wurde, briillt losgebunden auf der
Szene. Unter dem Protektorat der Vernunft ent-
faltet sich eine Qehirnschande, welche die dank-
baren Dulder ärger prostituiert, als die speku-
lativen Täter. Die alten Operettenformen, die
an die Bedingung des Unsinns gekniipft bleiben,
werden mit neuer Logik ausgestopft, und der Effekt
läßt sich etwa so an, als ob jetzt die opernhafte
Lächerlichkeit von einer Bande entfesselter Toll-
häusler demonstriert wiirde. Die Forderung, daß
die Operette vor der reinen Vernunft bestehe, ist die
Urheberin des reinen Operettenblödsinns. Der Ko-
miker, der keine Komik hat undsein Lied schlecht
singt, muß freiiich „ein Menschenschicksal darstel-
len“; wer aber ein Menschenschicksal darstelit,
macht die Narrheit, dabei zu singen, erst komplett,
und das Qedudel im Orchester setzt den Respekt
vor einem Seelendrama wie der „Lustigen Witwe“
beträchtlich herab. Doch die ernstgenommene Sinn-
iosigkeit auf der Bühne entspricht durchaus der
Lebensauffassung einer Qesellschaft, die auf ihre
alten Tage Vernunft bekommen hat und dadurch
ihren Schwachsinn erst bloßstellte. Und ihren
Blößen die Stoffe zurechtzumachen, ist eine Legion
taientloser Flickschneider am Werke. Der Drang,
das Leben der musikalischen Burleske zu verifi-
zieren, hat die Qräßlichkeiten der Salonoperette er-
schaffen, die von der Höhe der „Fledermaus“ — des
Uebels Urquell — über die Mittelmäßigkeit des
„Opernballs“ in die Niederung der „Lusti-
gen Witwe“ führen. Von der natürlichen Erkennt-
nis verlassen, daß ein phantastisches oder exoti-
sches und jedenfalls ein der Kontrolle entriicktes
Kostüm notwendig ist, um das Singen in allen
Lebenslagen glaubhaft zu machen, und ohne Ah-

J iß ^ oi-r'nil c* iQ»nr»l'Ir'

UuU Cili clliv

Qesellschaftsplage sei, wagt die neue Industrie das
Aeußerste.

Aber sie darf es wagen. Denn ihrem Publikum
dient die heutige Operette bloß als ein Vorwort
zu den gröhlenden Freuden des Nachtlebens. Auf
die weit aufgesperrten Mäuler der Volkssänger, die
der Champagnerwurzen das Vergnügen durch den
Trost: „Es muaß ja net der letzte sein“ erhöhen, will
man durch den Theatergesang schonend vorbereitet
werden. Und vielleicht erkiärt uns ein Feuilletonist
auch diesen protzigen Mangel an Qenußfähigkeit als
tiefere Bedeutung. Wir vermöchten sonst in dem
Tasten nach einer roheren Gegenständlichkeit der
musikalischen Qenüsse nur jenen vollbusigen Qe-
schmack wiederzuerkennen, und jene Kolatschen-
weltanschauung, die jetzt mit dem Stolz der kultu-
rellen Ueberlegenheit getragen wird. Die Wiener
Operette hat sich mit dem Qeist des Drahrertums
verbündet und verzichtet auf das Opfer der Phan-
tasie, das sie einst ihren Qenießern zugemutet
hat. Ihre Entartung ins Volkssängerische, ihre neue
Tendenz, dem niedrigsten Nachtlokalpatriotismus
zu schmeicheln und die Welt als einen großen Qu-
gelhupf aufzufassen, mit der Wieperstadt als dem
einzigen Weinberl darin, ihre Anbiederung an den
Stefansturm, auf dessen Spitze Herr Gabor Steiner
gedacht wird, wie er eine Schenkelparade der
himmlischen Heerschaaren inszeniert: diese ganze
Entwicklung der Operette ins Walzerische und
Drahrerische würde wieder ihre Satire in einer mu-
sikaiischen Burleske verdienen, wie sie Offenbach
aus der Lächerlichkeit der opernhaften Qebärde
geschaffen hat. Der Spott ergäbe sich um so mühe-
loser, als die neue Operette auf der Höhe ihrer Ver-
knödelung sich selbst des Operngestus bedient und
einen Fünfkreuzertanz mit einem Posaunenfest der
Instrumentation beschließt. Die Satire, die hier ein-
zusetzen hätte, wäre eine vollkommene Rehabili-
tierung des wahren Kunstwertes der Qattung.
Sie dürfte nicht den „Operettenblödsinn“ treffen,
sondern das blödsinnige Streben der Operette, sich
einen Sinn beizulegen, der den Blödsinn ins Un-
mittelbare rückt, ihren Eifer, den Mangel an Ko-
rnik durch Logik wettzumachen, und die Stelle, auf
der ein Sänger stehen sollte, mit einem Psycho-
logen zu besetzen. Konsequenz der Charak-
tere und Realität der Begebenheiten sind Vorziige,

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zu denen nicht erst Musik gemacht werden riiuli.
Daß ein schlafendes Liebespaar von einem Poii-
zistenchor nicht gestört wird, ist in der Welt der
musikalischen Unberechenbarkeit durchaus mög-
lich. Die Wahrscheiniichkeit, daß es im Leben
geschieht, wäre die wertlose Erkenntnis einer ratio-
nalistischen Satire, die sich nicht zu hoch über das
Niveau jener lntelligenz erhebt, der die beglaubigte
Albernheit der modernen Operette ihre spottwürdi-
gen Triumphe verdankt.

Programmatisches

Von Rudolf Kurtz

Die Tatsaclje einer neuen Zeitschrift mag ein Be-
mühen um Verständlichkeit entschuldigen, das
selbst vor der Zerrüttung des eigenen Qehirns
nicht zurückschreckt. lch erkläre, daß ich mit p#ein-
iichstem Unbehagen durch eine Unzahl von Zeilen
llösse, was m üer megung emes gutgeucrite-
ten Nebensatzes einen kleinen Farbeneifekt erzielen
könnte. Aber wir haben es dein Publikum so leicht
gemacht, uns mißzuverstehen, daß es ein erlaubter
Scherz ist, zu dem Niveau einer behaglich freund-
willigen Unterhaltung herabzusteigen, wo hand-
feste Worte massive Qesinnungen iilustrieren. Denn
es gilt, ihre trägen Sinne von dem Dasein eines
Wiilens zu unterrichten, wo sie im Glanz der bunten
Feuerwerke schmunzelnd die Absicht zu unter-
halten wittern. Es ist ein Irrtum. Wir wollen sie
nicht unterhalten. Wir wollen ihnen ihr bequemes
einst-erhabenes Weltbild tückisch demolieren. Denn
wir halten ihren Ernst für Lebensträgheit, Hinter-
wäldier-Dumpmeu, deren Fsycnoiogie NietzschRe
längst geschrieben hat.

Als vor einiger Zeit ein paar provokante Notizen
von mir einem gewichtigen Handwerksmeister vor
die massive Stirn sprangen, sammelte sich seine bie-
dere Empörung in diesem Wort: Unreife. Und ob-
schon das Pathos seiner Entrüstung durch keinen
Versuch einer Widerlegung gehemmt war, hypno-
tisierte er seine Leser mit diesem Wort: Unreife.

Das ist es, was aus tausend triefenden Mäulern auf
uns herabgespieen wird. Die Moral der brutalen
Unempfindlichkeit, die in einem «ohneügleitenden
Paradox lhre monurnentale Haltung gefährdet sieht.
Als ich vor eiiiem halben Jahrzehnt mit behäbigem
Pathos einige Stichflainmen unter dem Qesäß eines
allzubequemen Literarhistorikers anzündete, stieß
der Trommeiwirbel jedem das Wort in den ach-
tungsvoil geöftneten öchiunu zurück. Daskritische
Empfinden der Zeitgenossen mibi die ver-
brauchte Lungenkraft und antwortet nur auf die
kunstvoll gerunzelte Stirn. Ihr Qefühl von Reife
bestimmt sich durch Merkmale dieser Art: daß
wohlperidiosierte Sätze in ernstem Trott über die
Zeilen schleichen. Sie propagieren ein Ideal der
Männiichkeit, das wetteifernd mit dem Tischler-
gewerbe um den Kranz der energischsten Transpi-
ration streitet. Sie begreifen nicht, daß es aus der
Not eines von der Fülle des Daseins überwältigten
Lebens geschieht, wenn spitze Ironien den dunklen
Spalt zwischen Schicksal und Welt überbrücken.
Ihr Qehirn ruht zu unbewegt in dieser Kruste von
Lebensernst, als daß sie spürten, wie sich in einer
sorgsam von allen Sprachresten befreiten Anti-
these, die wie ein leichtsinniger Flügelschlag empor-
flattert, ein Schmerz befreit, der zu fieberhaft von
allen Kräften des Lebens zittert, um in einer ache-
rontischen Vereisung seines Sachgehalts erschöpft
zu sein. Die deutsche Intelligenz ahnt nichts vor.
der Leidenschaft des Schriftstellers, Musik zu wer-
den, Sinn und Traum im Anschlag elnes Wortes zu
hören, das leicht und frei sich von der Erde Iöst.
Ihr grober Sinn übersieht, wie Haß und Erbitterung
aus der spielerisch geschnellten Kurve eines Rela-
tivsatzes in tödlicher Verdichtung aufblitzen kann,
wie in einer heiteren Qebärde ein Wille seine be-
freiteste Form gefunden hat, der schmerzhaft und
dumpf im Gestrüpp dunkler Vorstellungen vege-
tierte.

Nie hat die Kunst sie berührt. Ihr Verständnis ist
ganz erfüllt von dem Ernst der Aufgabe: nie kom-
men sie über diese Sphäre hinaus zu jener Freiheit
der Bewegung, die sie dumpfen Herzens als „Un-
reife“, „Spielerei“ ablehnen. In jener glücklichen
Epoche deutschen Daseins, als logische Begeiste-
rung mit einer tiefen ästhetischen Intuition sich
durchdrang, spiegelte sich dieses jQefühl in dem
Begriff der Ironie und einer der wenigen ebenbür-
tigen Nachfahren jenes Geschlechts, Nietzsche, pre-
digte einem dumpfen Ernst zwecklos die frohe

botscnärt ucs „l'änzes“. Die deutsche inteiiigeuz
ist sich längst klar — soweit sie Snobismus oder
fachliches In’eresse nicht zu einem anderen Urteile
bewegt — daß dies alles Dilettantismus ist.

Sie werden es nie anders begreifen. Nie wird ihr
Qehirn ein S'rahl des Qefühls erhellen, daß jenes
Schweben über den Dingen, jene romantisehe Ironie
nicht dilettantischer Hochmut ist, sondern ein wol-
lüstiges Qefühl der unendlichen Fülle des Daseins;
daß es heiter macht, diese Atmosphäre innig zu
atmen, in einem Augenaufschlag den Reichtum der
Landschaft polarisch zu umfassen, Beweguiig und
r Licht der Sterne. (Und hier, aus einem tiefen Emp-
finden des Beschenktseins: unser Dank an Alfred
Kerr.)

Mit gereizter Würde wehrt man ab, den Enthusias-
inus für Dinge zu begreifen, die nicht im Brenn-
punkt der bürgerlichen Moral stehen. Der gelähmte
lnstinkt versagt vor der Erkenntnis, daß es begel-
sterte Hingabe an die Fülle der üesichte ist, eine
reizbare Verfeinerung und Steigerung des Daseins-
gefühls, das neue Möglichkeiten in der Aufhebung
der Schwerkraft durch japanische Akrobaten, der
Charme einer durch behutsame Technik erfahrenen
Sexualität einer Tänzerin, dem ungeheurer. Tappen
des Nilpferdes anschauend erlebt.

An Deutschlands Küsten wuchert fahlgrün und
algenhaft das Würde-Infusor. Blinder Intellektua-
lismus vergewaltigt die Wirklichkeit. Eine Kunst
soll gezüchtet vi erden, in der der konstitutive Fak-
tor der Anschauung bis auf ein Minimum ge-
schwächt ist. Die deutschen Kunstbestrebungen,
soweit sie einer Formulierung fähig sind, bewegen
sich in den gleichen Qegensätzen wie zur Zeit der
Romantik. Noch gilt die Polemik dieser Zeit gegen
die Dramatik Schillers. Die Kunst stellt Entfaltung
der Individualität dar: jeder dieser Zustände be-
deutet zugleich einen Zustand der Menschheit. Ob-
jekt der Kunst ist nicht eine von ihrer Qebunden-
heit befreite Möglichkeit, sondern die gerade in
dieser Bestimmtheit zu tiefst erschaute Wirklich-
keit, die Schiller entmaterialisiert: „Der Dichter
ieiht der Welt eine Vollkommenheit, in der sie nle
existiert hat,“ Deu Romantikern aber ist uie Wirk-
lichkeit schon das Kunstwerk, daß zu seiner Voil-
kommenheit m der Kunst wonl Künstlensche Krart,
aber nicht Erweiterung bedarf. „Alle heiligen
Spiele der Kunst sind nur ferne Nachbildungen von
dern unefldlichen Spieie der "weit, dcin ewig Sich
selbst bildenden Kunstwerk.“ (Friedrich Schlegel.)
*Und diese Unfähigkeit, das Qesetz vom Objekt zu
empfangen (wie zitiert wird), beherrscht die zeit-
genössische Kultur. Wohl drängt ein Wille zur
Form, aber er wird trivialisiert durch die oberfläch-
liche Unterordnung des Objekts unter ein willkür-
iich erfühltes Schema — sei es auf ürund einer
empirischen Täuschung errichtet, sei es die ent-
artete Fortbildung einer ehemals gerechtfertigten
Gesetzlichkeit. Die Organe sind geschwächt, der
Instinkt ohne Schwungkraft. Einmal war es in
neuester Zeit denkbar, daß eine Epoche aufge-
wühlter Menschlichkeit als Vorfrühling späterer
Blüte sich entfaltete: das war, als Nietzsche seine
Bücher schrieb und es galt,, sie in die dichterische
Praxis aufzunehmen. Aber die Zeitgenossen wehr-
ten den Impuls mit einer geradezu welthistorischen
Banalität ab und brachten ihr Bedürfnis auf das
engste, beschränkteste, widerspruchsvollste Bild:
den Naturalismus.

Das Signal unserer Zeit ist der wohltemperierte
Liberalismus. Man will aufbauen, wo die Basis
von jedem Fingerdruck in ein schwammiges Qe-
webe zerrissen wird. Der Intellektuaiismus kann
nur gedämpft werden von der lärmvollen Betonung
der Instinkte, der dunklen Kräfte, die er organisie-
rend im Dienst des Lebens stellen sollte und zu
denen er längst alie Beziehungen verloren hat. Der
Intellektualismus genügt seinem Stilbedürfnis, in-
dem er das Leben einer vereinfachenden Schablone
unterordnet. Die Sehschärfe des Auges ist ge-
lähmt: es geniigt die begriffliche Signatur der Dinge.
(Und die Anschauungen füllt eine zweifelhafte, stil-
lose Erinnerung hinein.) Ueber die Breite der deut-
schen Literatur kreist dieser perverse Stilbegriff:
von der klassischen Qebärde Neuweimars bis zu
der pragwienerischen Verklärung der Bügelfalte.
Die Revision dieses lebensfernen Stilbegriffs wird
uns Qelegenheit zu anmutigen Scherzen geben. Mtt
der provokantesten Qeste werden wir jede Aeußc-
rung dieser Kultur verhöhnen, die statt auf Aus-
schöpfung des Lebens auf Erhaltung ihrer Konven-
tionen abzielt. Jede liberale Schüchternheit, inhalt-
lose Qebräuche zu erhalten, werden wir mit radi-
kaler Sorgfalt ausrupfen. Denn wir erleben das
welthistorische Schauspiel einer Epoche, in der das
 
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