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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 11 (Mai 1910)
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Kurtz, Rudolf: Offener Brief: an Karl May
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Fortschritt: Die Rache am Talent
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Lasker-Schüler, Else: Tigerin, Affe und Kuckuck: Tierfabel
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Minimax: Berliner sensation
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0090

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Leistungsfähigkeit Ihrer Gestalten als Dekoration,
als Ideal empfunden und wie jene Affizierung des
Gefühls freudig und teilnehmend miterlebt. Nur
die Torheit grober Volksaufklärer — hassenswerte
brutale Gehirne — vermögen zu übersehen, daß
Ihre Bücher Volksbücher, Jugendschriften sind.

Und gestatten Sie mir noch, Ihnen zu be-
merken, daß ich die Qualitäten Ihrer volks-
tümlichen Lyrik wohl zu beachten weiß. Nicht
ohne Sehnsucht denke ich an die dumpfe Knaben-
melancholie, die mich überfiel, ais ich die Schii-
derung eines Abends in einer Oase in einem Ihrer
Bücher las, wo in einer still begrünten Landschaft
mit flächigem mondbestrahiten Gewässer schatten-
hafte Klänge und Gestalten fließen, die mir heut
noch, nach mehr als einem Dutzend Jahren, leicht
und zart im Gehirn schweben

.... Noch treibt die Fanna heimatlos
Auf der bewegten Flut
Wenn auf dem See gigantisch groß
Der Thalla Schatten ruht.

Ich habe sicher die Namen entstellt. Aber
nehmen Sie mit dem guten Willen vorlieb. Ge-
statten Sie mir nur noch, die ungewohnte Be-
scheidenheit zu rühmen, die einem Schriftsteller von
umfassender Popularität veranlaßt, in einer fach-
lichen Notiz seine Werke mit dieser ruhigen Geste
inäquater ästhetischer Kritik zu entziehen:
„Schrieb: Zahlreiche figürliche Reiseschilderungen
als Vorstudien für seine eigentlichen Werke.“

Der dekorativ beabsichtigte Scheiterhaufen
plötzlichen entflammten Kulturfanatismus läßt sich
gleichmütig ertragen Und ich bitte, Ihnen herz-
lichen Dank sagen zu dürfen für einen Genuß, den
ich aus meinem Leben nicht ausgeschaltet wünsche.
Ob die — hier als wahr — unterstellten Behaup-
tungen zutreffen oder nicht, kann nur zur Charak-
teristik Ihrer Gegner interessant sein. Mir ist es
höchst gleichgültig.

Ich bitte Sie, sehr geehrter Herr, diese Zeilen
ciner Erbitterung zu gut zu halten, die nur durch
den elenden Moralismus einer sonst wahrhaftig
nicht zu ernsten sittlichen Erwägungen geneigten
Gesellschaft so provoziert werden konnte, uner-
betne Zeilen an einen Unbekannten zu ver-
öffentlichen.

Ihr ergebener

Rudolf Kurtz

Fortschritt!

Die Rache am Talent

Wie man sich in Deutschland für jede Geste
rächt, die die Massen aus der Panoptikums-Stel-
lung eingepaukter Opern-Aufmärsche reißt, kom-
mentiere ein Gerichtsbericht aus dem Berliner
Tageblatt:

Frankfurt am Main

„Wie seinerzeit berichtet, hat der Redakteur
Hermann Wendel von der Frankfurter
„Volksstimme“ einen Strafbefehl von drei Wochen
Haft erhalten, weil er am 13. Februar, dem be-
kannten Wahlrechtssonntag, sich auf den Sockel des
Bismarckdenkmals gestellt, den Hut geschwenkt
und gerufen habe, „Auf, alle hierher! Hoch das
freie Wahlrecht!“ Gegen diesen Strafbefehl hatte
Wendel gerichtliche Entscheidung beantragt, die
gestern vor dem Schöffengericht zur Verhandlung
kam. Zwei als Zeugen geladene Schutzleute sagten
aus, daß Wendel die Aeußerungen getan habe.
Zwei Journalisten, die sich in der Nähe Wendels
aufhielten, konnten nicht bestätigen, daß er diesen
Ausruf getan habe. Im Laufe der Verhandlung b a t
der Angeklagte Wendel, den Staats-
anwalt Becker zu veranlassen, daß
er nicht andauernd bei dem im Ge-
richtssaal anwesenden Polizeiassessor
Auerbach Informationen einziehe, da
dies nicht zulässig sei. In erregtem Tone
wies Staatsanwalt Becker diese Kritik
seines Verhaltens energisch zurück, dem Ange-
klagten stehe absulut nicht das Recht
z u , an dem Verhalten des Staatsanwalts Kritik zu
üben. Der Vorsitzende Assessor
Schwabe, ein S t u d i e n k o 11 eg e des
Angeklagten, schloß sich den Worten des
Staatsanwalts an und bezeichnete d i e K r i t i k
des Angeklagten als grobe Unge-
h ö r i g k e i t. Der Angeklagte wies diesen Vor-
wurf zurück, worauf Assessor Schwabe den Vor-
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wurf ausdrücklich aufrecht erhielt. Wendel er-
klärte hierauf, daß er alsAngeklagterda-
gegen w e h r 1 o s sei, daß er aber a n d i e
Oeffentlichkeit appelliere. Der Vor-
sitzende verbat sich dies und drohte
dem Angeklagten mit einer Ordnungsstrafe. Das
Gericht verurteilte schließlich Wendel wegen
groben Unfugs zu der Höchststrafe von sechs
Wochen Gefängnis. Bei der Strafabmessung
wurde berücksichtigt, daß die Menge, wo es nur
ging, demonstrierte, daß dem Angeklagten als
Führer die Masse folgte, daß es ihm darum zu tun
war, die Wahlrechtsdemonstrationsbewegung auf
der Straße von neuem zu beleben, und daß Wendel
ein Mann akademischer Bildung sei, der sich als
„V e r f ü h r e r“ der Massen erwiesen habe.“

Die Stadt Frankfurt, dieses kulturlose Protzen-
nest, durfte sich also rühmen, Hermann Wendel,
der bekanntlich einer der begabtesten Schriftsteller
des jungen Elsaß ist, als Redakteur einer ihrer
Zeitungen (gleichviel welcher!) aufweisen zu
können. Die Stadt Frankfurt hat sich geschändet
durch dieses Urteil, das einen Mann ins Gefängnis
bringt, weil ihn sein Talent zur Begeisterung hln-
reißt! In dieser Stadt verbot der Staatsanwalt —
zum ersten Mal in Deutschland — an seinem Tun
Kritik zu üben. In der Stadt Frankfurt, wo jeder
Bordellbesitzer Goethe für sich in Anspruch nimmt,
wagt man es, einem deutschen Schriftstcller solche
alten, ekelhaften Gymnasialphrasen ins Gesicht zu
sagen, wie „Verführer der Massen“. In der Stadt
des Goethehauses und der Pariser Imitationen wird
einem deutschen Schriftsteller die akademische
Bildung als strafverschärfend angerechnet.

Meine Teuren, der Vorsitzende dieses Schand-
prozesses war ein Studienkollege Wendels. Wird
Euch Einiges klar? Gewiß war dieser treffliche
Vorsitzende, der die Kritik des Angeklägten als
„grobe Ungehörigkeit“ bezeichnet, nicht von
„persönlichen“ Motiven geleitet. Aber denkt
Ihr vielleicht, Ihr paar Begabten in Deutsch-
land, an Eure Studiengenossen? An den hämischen
Neid der Carrieristen auf Eure Fähigkeiten, auf
jeden Einfall, auf jedes Fältchen, das in Euren
Mienen von Geist erzählt. Denkt Ihr daran, wie
fest Ihr überzeugt wart, daß die Rache übel sein
würde, die der Glattgescheitelte einmal für Eure
Verachtung nehmen könnte. In der Schandstadt
Frankfurt triumphierten die Grimassen der offi-
ziellen Talentlosigkeit, die brennend Rache heischt
für die anderen Kollegen der Unbegabung, befriedigt
Uber Enthusiasmus und Kultur. Triumphierten über
das Talent!

Progreß

Tigerin, Affe
und Kuckuck

Tierfabel

Zirkus Busch ist in seinem Extrazug von Berlin
abgereist. Ich bin zu seinem Abschied auf die Bahn
gekommen, früh am Morgen; der Komet stand noch
über der Sternwarte, aber die Zirkussterne, Schul-
reiterinnen, Jongleure, Auguste, der Riese mit dem
Zwerg, der große Bär, die Elephantin, das Dromedar,
der glitzernde Galawagen, alle waren sie im Lauf
und bald im vollsten Zuge. Noch lange hörte ich das
Brüllen der Tigerinnen, nie haßte ein Mann so
wütend das Weib wie der Bändiger dieser ge-
streiften Katzenleiber. Der Puls des Zirkus blieb
stehn, trat der unerschrockene Sultan in das Gitter-
gemach seiner brüllenden Sklavinnen. Er miß-
braucht sie nicht zu Kunststücken, läßt er auch die
Kunstreiterin seiner Tigerinnen durch einen Papier-
reifen springen. Wollust bereitet ihm, seine wut-
schäumenden Tigerweiber mit Stangen und Schüs-
sen bis zur Wutekstase zu reizen und sie zu bezwin-
gen. Schschschschschschsch — sch — die beiden
eleganten Brüder Fillies und ihre graziöse Schwe-
ster werfen noch einen kurzen Blick auf den Perron,
der Clown mit der genialen Ungeschicklichkeit ver-
Iangt auf idiotisch vom Zeitungsträger den
„Ulk“ — Sch .... Berlin hat sein größtes Kind eine
Weile verloren, den Zirkus; wo geht man nun hin,
um zuzugucken? Wie ein Mensch soll der Affe sich
im Wintergarten benehmen. Herr Darwin, der
Enkel des großen Zoologen, wird mich ins Vari6t6
begleiten. Es ergreift ihn, so einen gebildeten Vor-
fahren seiner Baumzeit zu sehen. Ich bin ebenfalls

von dem fletschenden Erzurgroßvater entzückt. Eifl;
Gourmet ist der greise Herr, keineswegs lebt er vou
Luft und Erkenntnis. Der verwandte Künstler da
oben verzehrte ein Menu von Dressel und regaliertei
sich an Heidsieck-Monopol. Mit Verbindlichkeit
raücht er die Zigarette, die ihm ein Bewunderer ver-
ehrte. „Es istZeit“ noch prüft erdieZeigeraufseinef
Uhr. — Ich möchte mich auch in ein solches Pracht-
bett legen — ich bin müde — die Nacht vorher
brachte ich, mich verirrend, in der Kolonie Grune-
wald zu; im Rieselregen auf einerrunden Sommef'|
bühne, worauf die Gärtner Kiesel legen. Nasse
Nacht, kein Komet mehr. Ich war trostlos. Plötz-
lich rief der Kuckuck — ich bezog es zU'
erst persönlich, aber so unhöflich sind nur die
Kuckucksuhren. Dieser da zwischen jungem Griin.
zwischen April und Mai, ist ein vortragender Künst-
ler, ein wundervoller Komiker. Also gibt es wirk-
lich Kuckucke? Ich dachte immer, es sei eine Fabel-
ElseLasker-Schüler

Berliner Sensationen

Erweiterungsbau Wertheim

In vergangener Woche ist mit der Niederreißung
der gesamten Leipzigerstraße, des Potsdamer-
platzes und des Spittelmarktes zwecks Erbauung
eines größeren Warenhauses Wertheim begonnen
worden. Der Neubau wird sensationelle Neuig-
keiten bringen; wir teilen einiges aus dem Pro-
spekt mit:

I. Selbstmörderkabinett mit Hotelbetrieb. Spe-
zialität: Gemeinsames Verleben letzter

Stunden. Nach dreimaligen Versucheri
zwangsweise Ueberführung in die Abtei-
lung für Schuhwaren oder für Hinrichtungen.

II. Abteilung für Zahnziehen.

Für Zahnlose völlig gratis. Jeden Montag
Serien-Zahnziehen durch den Champion Mr.
Bulldogg. Bei jedem siebenten Zahn bläst der
Abteilungsvorstand Posaunen.

III. Abteilung für Mädchenhandel, kombiniert mit
Mutterschutz und Heiratsvermittlung. Steter
Eingang gutgewachsener Neuigkeiten. Allein-
verkauf der Mutterschutztabletten

IV. Aus der Toilettenabteilung: Seife als Volks-
nahrungsmittel. Kutschkes Nährseife Stück
1,50 Mk„ 3 Stück 5,00 Mk. unterdriickt nach
einmaligem Genuß das Eßbedürfnis auf drei
Tage und vier Nächte. — Seifenpulver, einzig
hygienische Säuglingsnahrung. Wäscht auch
den Darm aus, putzt noch nicht vorhandene
Zähne im Handumdrehen. — Lösung der
sozialen Frage durch chronischen Darm-
katarrh.

Architektenscherze

Am Bierhaus Siechen steht mit fußhohen
goldenen Lettern: „Erbaut unter der Regierung
Kaiser Wilhelm II 1910“. Da uns das auffiel, haben
wir andere Gebäude auf Inschriften untersucht; wir
fanden auf der Kehrseite mehrerer Häuser Insignien-

Die grüne Bude am Potsdamerplatz: „Errichtet
im Protest gegen den Untergang Polens. Das
weinende Polen.“

Lestmanns Bailsalon: „Zur Verherrlichung
Jagomirs des Sittenstrengen. Dem Verdienst seine
Krone (österreichischer Währung).

Das Abgeordnetenhaus: „Erbaut vom Grafen
Kopfscheu, dem frumben Raubritter. Zur Pflege
von Gesinnung mit Bügelfalten. Der Freiheit eine
Gosse.“

Das Herrenhaus: „Stehengelassen aus der Zeit
Mammuthios’ des Altersschwachen. Zur gemüt-
lichen Schüttellähmung.“

M i n i m ax

Beachtenswerte Bücher und Tonwerke

Ausführliche Besprechung vorbehalten
Rücksendung findet in keinem Fail statt

NIKOLAUS GOGOL: Sämtliche Werke / Herausgegeben
von Otto Buek/Acht Bände/Band 1 und II: Tote
Seelen / Novellen / Band IV: Mirgorod / Noveilen
Veriag Georg Miiller, Milnchen
SHAKESPEARE in deutscher Sprache / Herausgegebefl
und zum Teil neu iibersetzt von Friedrich Gundolf
Vierter Band: Königsdramen / Verlag Georg Bondi,
Beriin

Verantwortlich für die Schriftleitung:
HERWARTH WALDEN / BERLIN-HALENSEE
 
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