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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 27 (September 1910)
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Dehmel, Richard: Nationale Kulturpolitik
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Ehrenstein, Albert: Der Fluch des Magiers Anateiresiotidas, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0216

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als zu wenig. Potentaten, Finanzbarone, Minister,
Pariamente, Parteien und Kongresse, Demagogen
beiderlei Geschlechts, Universitäts-Professoren,
Volksschullehrer, Literatenkliquen und Zeitungs-
redaktionen, alle sehwingen das Wort „Kultur“ im
Munde und greifen sogar in die Tasche dafür, teils
in die eigene, teifs' in fremde, und natürlich immer
fiir „wahre“ Kultur. Aber mit welcher Sorte wahrer
Kultur man das ganze Volk zu begliicken gedenkt,
davon ist wohlweislich nie die Rede; sie könnte
doch gar zu leicht unwahr tönen. Trotzdem ist einzig
dies der Rede wert. Nationale Kultur bleibt ja leere
Phrase, wenn sie nicht ein humanes Programm be-
deutet: bestimmte Veredlungswerte der MensChheit,
die das Volk selbstbewußt in sich' ausbilden soll.
Allgemeine Bildung ist nur ein Ziel für höchbe-
gabte PersönKchkeiten; im Durchschnitt des Volkes
läuft sie leider auf allgemeine Verbildung hinaus.
Gar eine schöngeistige Bildungspflege ist fürs ge-
samte Vol'k ein Unding, war stets nur gewissen
bevorrechteten GeSellschaftsklassen wirklich erreich-
bar, deren leibliche WirtsChaftsbedürfnisse von an-
deren Klässen besorgt wurden. Alle organische Kul-
turpolitik muß zunächst natürlich darauf bedaCht
sein, besonders leistungsfähige Berufsstände zu
begünstigen, an die sich 1 die übrigen angliedern kön-
nen, je nach den haupts;ächKchen Volksanlagen und
den zeitKchen wie örtKchen Entwicklungsbedingun-
gen. Selbst in den kleinsten Gemeinwesen hat die
Kultur nie von Anfang an harmonisChe Tendenz ge-
habt, war überall .inn spezifisChe Interessengruppen
konsolidiert: agrarische oder kommerzielle, militäri-
sche oder juridische, religiöse oder philoslophische,
je nachdem die Oberschicht mehr sensuell oder mehr
intellektuell begabt war, mehr energisch oder mehr
spekulativ. Für all das lassen sich reinKche Bei-
spiele bei räumKch beschränkten Kulturen finden,
von dem spartanischen Kriegerstaat bis hin zum
FriedenSreich der Inka, von den indisChen Weisheits-
fürstentümern bis zu den Minnehöfen der Provence.

Heute aber, in unseren großen Staaten mit ihren
vielerlei Machthabergruppen, wo herrscht da wahre
Einmütigkeit über solche Meistbegünstigung ? Wie
kann eine Harmonie der Interessen entstehen, wenn
fast jeder Stand nur die PoKtik verfolgt, sich mög-
lichst „notleidend“ zu stellen! In Deutschland wird
man sich höchstens vielleicht auf das Zugeständnis
einigen: wir sCheinen eine industrielle Kultur ziem-
Iich hohen Ranges' zu schaffen. Aber die Folgerung
lautet dann meistens: folglich braucht sie nicht
mehr begünstigt zu werden. Und gewisse Idealisten
zetern sofort: das ist ja „bloß materielle“ Kultur,
ist afeo „überhäupt keine“, ist „nichts afe“ Zivili-
sation. Nun, ich bin selber ein Idealist, allerdings
keiner mit fixen Ideen, und eine Grenze zwischen
jenen beiden Begriffen läßt sich mieines Erachtens
durchaus nicht flxieren. Eine Industrie von mate-
riellem Höchstwert ist notwendigerweise zugleich
ideeil oder zum mindesten intellektuell, nämKCh an-
gewandte Naturwissenschaft; da ist afeo schon ein
Punkt aufgedeckt, wo ZiviKsation in Kultur über-
geht. Die Industrie ist ferner genötigt, sich wegen
ihrer technischen Qualitäten ästhetische Werte an-
zuzüchten; und die teilen sich dann natürlich dem
Volk mit, das ihre Produkte herstellen, vertreiben
und verbrauchen hilft. Und daß durch ein gründ-
lichCs Industriesystem auch allerlei sonstige Diszi-
plin, ökonomische, juristische, hygienische, morali-
sche, in der Volksmasse ausgebildet wird, ist ohne
weiteres selbstverständKch; Bernard Shaw hat dar-
über im letzten Akt seiner Komödie „Major Bar-
bara“ sChr räsonabel phantasiert.

Bleibt somit lediglich auszuprobieren, ob in der
Tat unSere Industrie — in Arbeitgebern wie Arbeit-
nehmern — schon so starke Kulturpotenzen um-
spannt, daß sie die übrigen Machthabergruppen von
ihrem Vorzugsrecht überzeugt, zum Beispiel die
Herren Agrarier und den nicht minder herrlichen
Klerus. Sobald die geistig bedeutendsten Macht-
gruppen eine dauernde Hebung ihrer Wohlfahrt,
sei es direkt oder indirekt, von einer materiellen
Tendenz erwarten, schlägt diese bereits ins Ideelle
um, in eine sozialjDolitische Sympathie aller Stände,
die sich bis zu religiöser Ekstase und poetischem
Enthusiasmus steigern kann; siehe die Zeit der
Kreuzzüge, die aus agrarischen Interessen empor-
kam. Dergl'eichen geht meist viel rascher vor sich,
afe die fixen Idealisten glauben; aber ehe es wieder
möglich wird, müssen freilich erst die führenden
Geister der einzelhen Berufskreise mehr Fühlung
miteinander erlängen, als zur Zeit bei uns vorhänden
ist, mehr Achtsamkeit und mehr Verständnis für die

gegenseitigen Ergänzungswerte. Imzwischen hat
jederman im Volk, erst recht aber jeder leitende
Mann, das Eine zu tun, das immer nottut: seine ver-
dammte Pflicht und Schuldigkeit. Bildung predigen
kann der nichtsnutzigste Nörgler; gute Lehren sind
gut, gute Vorbilder besöer. Im eigenen Beruf et-
was Tüchtiges leisten und fremde Tüchtigkeit an-
erkennen, das ist schKeßlich die beste Kulturpolitik,
Kurz: möglichst wenig davon reden im allgemeinen,
möglichst viel im besonderen dazu tun! In diesem
Sinne könnte die Großmacbt „Presse“ aufs beson-
derste vorbilölich wirken; notabene, wenn sie endlich
wolite.

Der Fluch des Magiers
Anateiresiotidas

Von Albert Ehrenstein sckiou

Begünstigt ward das Vorhaben der Ge-
schädigten, in ihren heiligsten Rechten Geschädig-
ten, durch die übereinstimmenden Erklärungen der
Mohnkipfelbeschwörer. Es nahe die Zeit, da das
aflerhöchste Herrscherhaus von dem Fluche be-
freit sein werde — dies gaben sie vor in den
Sternen und Wurstabschnitzeln gelesen zu haben.
Wie jedoch den Prinzessinnen kälteres Blut bei-
bringen, ein Gefühfeniveau, auf dem den an das
beste Mannsfutter gewöhnten Damen sogar Ju-
risten annehmKch schienen ? Auf die erste Nachricht
von so entsetzlicher Zumutung ging wie ein ver-
hattener Wutschrei ein gewaltiges Rauschen des
Zornes durch die Kleider der Betroffenen, ja sie
hätten mit einem Fächerschlag der Entrüstung ihre
Zimmer verlässen, wenn nur jemand darinnen ge-
wesen wäre. Ihnen Juristen antragen, Leute, deren
kühn in die Brillen geschwungenen Schnurrbärte
keineswegs für ihre vornehmKchen Glatzen ent-
schädigen konnten, helltönende Glatzen, die sich
nicht einmal durCh das berühmte Haarwuchsmittel
„Kapitol'“ aufforsten ließen! Alles bäumte sich in
ihnen auf. Juristen! Welther feinere Prinz stu-
diert Jus, und wenn, wo steht es geschrieben, daß
so ein Ausnahmsprinz eines ohne Plägiat durch-
geführten rechtsphilosophischen Aufsatzes fähig
ist? Juristen heiraten! Menschen, die um der
schnöden Leibesnotdurft willen Jahrzehnte lang
Schweißgeruch ansammeln, denen man es ewig an-
riecht, daß sie einst oft ein Paar Frankfurter mit
Krenn für ein opulentes Mittagmahl gelten ließen
. . . Die Prinzessinnen fiefen in Ohnmacht., Jede in
ihrem Zimmer. Afe sie wieder zu sich kamen, war
ihr Wille gebrochen . . . Zehn Roßhähne wurden
den Göttern der Unterwelt geopfert, dann faßte der
Erzeuger den Beschfuß, die Liebesneigungen der
weibKchen Angehörigen des Königshauses durch
Hypnose abzutöten. Und so geschäh es, nachdem
erst das Zustimmungstelegramm vom Delphischen
Orakel eingetroffen war. Wohl gab es noch geraume
Zeit harmlose Rückfälle, den Schwimmhäuten man-
cher Menschen vergleichbare atavistische Hervor-
bringungen von unschuldigem Spielzeug verscholle-
ner Generationen, afe: Tennisrackets, Diabolos,
Trompeten, Automobilbrillen. Doch schwand dies
mit den Jahren, und jener Wackere hätte Gift dar-
auf nehmen mögen, daß die Prinzesäinnen dieser
FamiKe ebensowenig Liebe oder tiefere Neigungen
empfänden, wie die irgend eines ahderen Hauses.
Alle Welt schickte nun die Kinder auf die Gym-
nasien. Denn war früher eine Königstochter vom
Drachen zu befreien, Tapferkeit und weitvoraus-
blickende Klugheit, ein andermal für eine derartige
Erwerbung rätsellösend-einfältige Schlauheit von-
nöten gewesen, dem an unsere Epoche heranreichen-
den aufgeklärten Zeitalter war es entschieden ge-
rnäßer, die Hand einer Fürstin an die durchl den
Besitz eines eigentümlichen Namens verschärfte Ab-
fassung eines rechtsphilosophischen Essays zu
knüpfen.

WelCh ein Wetteifer unter den Juristen sowohl
des KönigreiChes Sirvermor afe auch der anderen
Länder! Sogar der arme Herrscher von Suminqye,
dem sein Herzogtum abgebrannt wlr, Keß seine
Söhne Jus studieren bis sie schwarz wurden. BalÖ
'jedoch sChwoII der Fleiß ab: die Aemter hätten
alle Bittschriften um Namensänderung abschlägig
beschieden und auch die mannigfaltigen Versuche,
durch Beifügung des mütterichen Namens oder
durch Adoptijqn zum Ziele zu gelangen, sie waren,
nachdem eine Saison lang Leute namens Sir oder

Sirver hoch im Preise gestanden, durch Edikte ver-
eitelt worden, deren genauen Wortlaut jedermann
kennen lernen kann, wofern er sich nur in einer
Bibliothek die betreffenden Nummern des sirver-
moriscben Amtsblättes verschafft. Nicht einWeich-
herziger wie ich, ein anderer möge den Jammer
der enttäuschten Eltern beschreiben, die vergebens
ihre Sprößlinge auf die Prinzessin hatten studieren
fassen. Was mich anbelangt, so muß ich hier inne-
halten und einige ihrem gerechten Kummer ge-
weihte Zähren weinen . . .

Andererseits gingen entartete Untertanen in
ihrem Groll zuweit; sie waren es, die zuerst Real-
schulen erfanden und gründeten, um möglichst viele
Jünglinge der Dynastie erlösenden Beschäftigung
mit den Rechts\vissenschaften abspenstig zu machen.
So groß ist die SchlCchtigkeit der Menschen!

Von da ab redete man nur wenig von unsCrer
Angelegenheit, Artikel höchstens in den Familien-
blättern, angefüllt mit königstreuer Mathematiker-
Berechnungen über die Wahrscheinlichkeit einer
völligen Aufhebung des Fluches, erinnerten die Bür-
ger ab und jju an jene unliebsämen Ereignisse.
Und damit wären wir bfe zu jener Zeit hinaufge-
schritten, in der die eigentHche Geschichte sich ab-
spielt. Erbprinzessin Jezaide Sirvermor lustwandelte
im königlichen Garten. Ist doch der FrühKng an-
gekommen, auf seinen Schültern und Flügeln die
Scharen der Singvögel tragend. Ja, sie singen im
königlichen Garten die klejnen Nachtigallen, das
heißt mit allerhöchster Erlaubnis und soweit sie
keinen Schnupfen haben. Aber nicht der Nachti-
gallen GeSange oder Nichtgesange lauscht ihre könig-
liche Hoheit, Falte auf Falte schneidet sich in ihre
Alabasterstirn, siehe: wie in tiefem Sinnen hebt sie
eine Hand empor, mit dem Rücken nach oben, und
spricht zu ihrer Obersthöfmeisterin: „Mir scheint,
eS will regnen.“ Und in dieser Haltung wollen wir
sie verlassen.

Um diese Zeit tebte in der Stadt Vienna ein
edler Jüngling namensl Srimoverr, Baron Aeneas
Srimoverr. Er brachte die übKchen Jahre in einem
geistlichen Gymnasium zu und widmete sie — wie
bilKg — einem zweifachen Studium. Auf der Bank
lagen vor seiner Nase ausgebreitet lateinische Klas-
siker, unter dem Pul't aber entzückte seine Sinne die
Lektüre klässischer Franzosen. Nachdem er seine
ebenso verschiedenartigen afe eindringlichen Stu-
dien durch das Auftreten noch einiger Freiherren
namens Srimoverr und eine sogenannte SChlüß-
prüfung beendet hatte, beehrte er die juridfeche
Fakultät mit seinem Besuch, nicht so sehr, weil
ihn die Süssigkeit der Wissenschaft anzog, nein, eine
durch das Bildnis Jezaidens geschmückte Zeitungs-
annonce hatte ihn mit den Bedingungen vertraut
gemaCht, unter denen ein Königtum von den Di-
mensionen des Reiches Sirvermor zu erringen war.
Und seine Liebe erlahmte nicht angesichts der
SchreckKchkeit seiner Aufgabe. Zwar: es ist richtig,
wenn der berühmte lygische Geschichtsschreiber
Moses Maria Archivstaub behauptet, Aeneas habe
sich selbst hinlänglich für seinen bewundernswürdi-
gen Fleiß belohht. Er benützte nämlich nicht nur
die reichhaltige Bibliothek seines Oheims, des Pri-
vatdozenten für Rechtsphilösophie Bartholomäus Sri-
moVerr, sondern auch dessen Gemahlin teilte von
jeher mit demselben Eifer das Lager des jugend-
liChen Neffen, wie die Annehmlichkeiten, die Stel-
lüng und Güter des gelehrten Gatten mit sich
brachten. Dieser Umstand aber sollte Aeneens Ver-
hängnis werden. Der Tag, da er mit dem voll-
endeten Werke sich zu seiner Tante begab, Ab-
schied von ihr zu nehmen, der Tag ward sein Todes-
tag. Tief, tief waren die beiden versünken, er in
das Vorlesen seiner Schrift, sie in ein enthusiasti-
sches Lauschen, und die Doppelschritte des nahen-
den Gatten wurden erst gehört, afe es zu spät war.
Kein zweckdienlicher Kasten im Zimmer, und schon
schwang sich Aeneas, das kostbare Pergament in
der Hand haltend, statt den Ehemann so ins Jen-
seits zu stürzen, in unbegreiflicher Verwechslung
selbst auf das Fensterbrett und sprang zum letzten-
maf hinab in den Teich, dessen Wellen manchen
Ueberraschten geborgen haben mochten. Ach, dies-
mal dürften die Mühen der Lektüre zu gewaltig
gewesen sein. Des kühnen Tauchers Herz brach
darüber. Wild aufrauschten die Wasser, und indem
er den Zwicker aufsetzte, sprach der Privatdozent
die geflügelten Worte: „Traun! ich habe doch
diesem Fischhändler gesagt, ich will nur echt Ibsen-
sChe Karauschen. Und was hat der geschickt? Sind
das Ibsensche Karauschen? Mutwillige Fische, die

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