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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 41 (Dezember 1910)
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Walden, Herwarth: Bücher zu Geschenkzwecken
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Fixlein, Quintus: Umschau
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Friedlaender, Salomo: Hans Harbeck: oder Wer beisst mich da?
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0333

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Selbstzerfasern diese Vorgänge sich durchsichtig zu
machen. Ich glaube nicht an die seelische Empfind-
lichkeit eines Menschen, der eine Seite Kierkegaards
lesen könnte, ohne im Tiefsten ergriffen zu sein, wie
er ganz verborgene Landschaften seiner Seele in diesem
klaren Teich gespiegelt findet. Und Kierkegaard ist zu-
gleich ein dialektischer Kopf, ein expansionslustiger
Geist, der seine Erlebnisse als lebendige Organismen
aufeinanderplatzen lässt, Menschen zu ihnen erfindet,
Schicksale aus ihnen entwickeW: ein schwermütiger
Mensch, dessen kunstvolle Schöpfungen von einem
intelektuell hochgespannten, besonderen geistigen Ge-
wissen zerfressen werden. Und es bedarf seiner Tiefe,
um so entfernt zu sich heraufschauen zu können, dass
eine seltsam spirituelle Heiterkeit um seine Dichtungen
wittert. Was als Fragment, als Auswahl, als Kürzung
vorlag, ist bei Diederichs endlich als Gesamtheit er-
schienen.

Ein natiirlicher Zusammenhang führt von Kierke-
gaard zurück zu Plato, dem er mehr als nur die
Terminologie entlehnt hat. Nach Schleiermachers ge-
waltiger Uebertragung erscheint hier zum ersten Mal
eine neue Gesamtausgabe, die sich mit den Mitteln
einer um hundert Jahre entwickelten Prosa von neuem
die gleiche Aufgabe stellt. Von Rudolf Kassners Um-
dichtungen ist nur zu sagen, dass dieser Zweck in
überreicher Weise erreicht worden ist. Wir wollen uns
nicht der Banalität schuldig machen, unsern Lesern
die Platolektüre zu empfehlen. Nur der Hinweis sei
gestattet, dass der Grieche von der wissenschaftlichen
wie von der künstlerischen Seite her in stärkster Weise
in den Vordergrund getrieben worden ist. Insbesondere
die Wissenschaft hat den innigen Zusammenhang der
•platonischen Lehre mit unserm an Kant orientierten
Weltbild immer deutlicher aufgewiesen. Aber was vor
relativ kurzer Zeit als ein über der täglichen Diskussion
schwebendes tagabgewandtes Systemgebäude auftreten
konnte, ist bei Plato noch in wundervoller Verschlingung
mit dem täglichen Leben, und ich wüsste mir kaum
eine bessere Form zu denken, in der das Reizvolle
dieses Zusammenhanges deutlicher zum Ausdruck ge-
bracht ist als die Uebertragungen Kassners. Und wer
hierdurch in antikes Geistesleben eingeführt ist, wird
gern die Uebertragung der ältesten abendländischen
Philosophie zur Hand nehmen: Nestles deutsche Aus-
gabe der Vorsakraliter, der die philologische Fachpresse
einen ehrenvollen und originalen Platz neben Diels’
grossem Werk gesichert hat. Aesthetisch ziehe ich die
Ausgabe Nestle jedenfalls Diels vor. Und ebenso sei
an Plotin erinnert, den Otto Kiefer in schöner Ueber-
tragung herausgegeben hat.

Die Neuausgaben der Werke deutscher Romantik
sind weiteren Kreisen genugsam bekannt. Es sei nur
an die philosophischen Untersuchungen von Marie
Joachimi (Weltanschauung der Romantik) und Erwin
Kircher (Philosophie der Romantik) erinnert. Und wer
Novalis gern liest. sei auf die Minorsche Ausgabe hin-
gewiesen, die die abschliessende Edition bedeutet.

Und den grossen Absichten eines nationalen Ver-
lages gemäss scheint mir die „Kunst in Bildern“ zu
sein, die zu einem unverhältnismässig billigen Preis
<4,50 Mk. für den Band) die Entwicklung der abend-
ländischen Malerei deuten will. Mit einem ganz ver-
blüffend grossen Anschauungsmaterial versehen — zwei-
hundert Bilder im Band — sucht hier eine kunst-
geschichtliche Methode den Zugang zu dem historischen
Material zu finden, die nicht minder ein Produkt letzter
wissenschaftlicher Kultur ist. Den Bahnen Diltheys
folgend, Wölfflin nicht fernstehend, wird die Welt-
anschauung der bildenden Künstler in einer grossartigen
kulturgeschichtlichen Synthese zugeführt. Wer etwas
an Muthers kulturspielerische Feuilletons gewöhnt ist,
wird bewundernd erleben, in wie grösserer Tiefe das
kulturgeschichtliche Material zum Verständnis der eigent-
lich malerischen Werte hingezogen werden kann. Das
ist der Stil der grossen Historie: die Einzelerscheinung
als Produkt eines innigen Zusammenhanges des Indivi-
duums mit seiner Zeit zu sehen, ohne eins in das
andere aufzulösen. Wer überhaupt Hoffnung hat, zur
bildenden Kunst ein lebensvolles Verhältnisjzu gewinnen,
wird auf diesem Wege sein Ziel am ehesten erreichen.

Und nun sei noch auf eine Neuausgabe hingewiesen,
die ein in Deutschland fast unbekanntes Werk mit
einem Schlage die verdiente Anerkennung gefunden hat:
de Costers Ulenspiegel. Ich wüsste diesem Werk an
innerer Behaglichkeit, atmender Menschlichkeit nichts in
unserer Zeit an die Seite zu stellen. {Man muss schon
zu Rabelais oder Cervantes zurückgehen, um überhaupt
nur ein ähnliches Temperament zu treffen: der Ver-
gleich mit Grimmelshausen trifft nur Tempo und Ton-
fall. De Coster hat alte Sagen etwa so behandelt, wie

Selma Lagerlöf die Legenden ihrer Heimat: aber so
prachtvoll die balladenhafte Schönheit der Gösta Berlings-
saga ist, so 'unvergleichlich 'grösser ist die lebendige
Grösse dieses Werks. Christian Dietrich Grabbe wollte
einen Eulenspiegel voll holzgeschnitzten Niedersachsen-
tums schreiben: hier ist ein köstlicher Ersatz. Es ist
unbegreiflich, wie dieses Werk Menschen fehlen kann,
die die Literatur nicht um^gelehrter Absichten willen
treiben, sondern um eine Steigerung ihres Daseins, eine
Bereicherung ihrer seelischen Möglichkeiten zu erfahren.
Und ihrer Orientierung wollen diese Hinweise dienen.

T.

Umschau

Das Nebengeräusch

Der Harden im Grunewald, der neuerdings Pam-
phlete auf König Friedrich den Zweiten seinem Publi-
kum als pikante Auslassungen des „alten Fritzen“ auf-
zureden versucht und dafür von|dem Solzialdemokraten
Mehring abgestraft wird, hat ein Nebengeräusch. Es
räuspert und spukt Montags in dem Exzellenzen-Blatt
mit den Tönen des Hauptgeräuschs — ohne"Chiffre,
damit die Täuschung vollendet wird. Auch der Zettel-
kasten ist — in bescheidenem Umfange und soweit
der Respekt vor der Routine des Meisters es erlaubt
— zur Stelle.

Das Nebengeräusch dichtet im Anschluss an die
Königsberger Kaiserrede von „der Windsbraut, die um
die Kiefern des Blätterwaldes fegte“. Die Windsbraut
ist eine Entgleisung, die der von der Windbraut der Re-
porterbegeisterung umstürmte wachende Wahrer deut-
scher Volkheit verzeihen wird. Denn schon im nächsten
Satze wird von den Reichstagsabgeordneten als von
den „durch die Wahlweihe Gesegneten“ gesprochen!
Und wenn das noch nicht ganz versöhnt, so muss die
in der Folge erwiesene Tüchtigkeit in der Handhabung
des Zettelkastens die Grimmfalte unterm Scheidelgebiet
des Miauzers strälen.

Das Nebengeräusch beginnt mit Zitaten aus den
Reden des Beraters „Karls des Neunten und Heinrichs
des Dritten“ und schliesst nach einer Abschwenkung
zu Luther. Pufendorf, Bismarck und Wilhelm den Ersten
mit siebenundzwanzig Zitaten aus den Reden Wilhelms
des Zweiten. Es kommt zu dem Resultat, dass der
Kaiser „zum alten, in eines Menschenlebens Spanne
liebgewordenen Glauben zurückkehrt“. Und nachdem
es noch einmal den Zettelkasten über die Jesuiten
Lainez, Bellarmin und Mariana befragt hat, klingt es
in eine männliche Belehrung über eines jeglichen
Deutschen Pflicht aus, „möge er Civis oder Tribun,
Kanzler oder Kaiser sein“.

Möge es Hauptgeräusch oder Nebengeräusch sein.

Das Reformbild

„Sind Sie mit dem Wandschmuck Ihrer Wohnung
zufrieden ? Vielleicht nicht. Vielleicht gehören auch
Sie zu den Vielen, die sich gern mit guten Bildern
umgeben möchten, denen aber die von manchen Kunst-
händlern geforderten hohen Preise die Lust dazu
nehmen.

Das wohlfeile Reformbild ist abejr
schon da!“

Aus einer Offerte, die R. Voigtländers Verlag [in
Leipzig gegenwärtig [unter die aufklärungsfreudigen
Kreise deutschen Volkes verteilen läßt.

Reformhemden, Reformehe, Reformchristus, Reform-
speisehaus — weshalb nicht auch Reformbilder I
R. Voigtländers Verlag hilft einem dringenden Bedürf-
nis ab. Der Jubelruf: Das wohlfeile Reformbild ist da!
braust zur rechten Zeit „ins Land“. Weihnachten
„steht vor der Tür“. Man beeile sich, nachzusehen,
ob man mit dem Wandschmuck seiner Wohnung zu-
frieden ist. Im andern Falle lege man seinen Lieben
ausser Reformunterkleidern und einem Bandchen
Reformlyrik auch das Reformbild unter der Weihnachts-
bauml

Wie Georg Brandes mit
Hilde Simon kämpfte

Der gelegentliche Leitartikler des Organs der
Berliner Strassenhändler hat einen Roman gedichtet,
in dem eine gewisse Hilde Simon mit Gott und dem
Teufel kämpft.

Herr Professor Georg Brandes, zu dessen Ehren
der Vater Hilde [Simons ein Bankett mit Blumen,
schönen JDamen und den Herren Lothar und Tur-
szinsky veranstaltete, hat sich [nun über Hilde Simon
geäussert. Er Jfindet: „Das Buch wird als ganzes
eine vorteilhafte Ansicht von dem Verfasser hervor-
rufen“. Weiter: das Werk „ist zugleich Berliner Sitten-
schilderung, Philosophie, Theologie, Lebensansicht,
Menschenverachtung und Kultus der Ideale geworden“.

Es ist also ein umfassendes Werk.

Folgen des Boykotts

Die illustrierten Wochenschriften haben dem Lyriker
Erich IMühsam [die Mitarbeit aufgesagt, weil er als
„Anarchist“ auf der Anklagebank gesessen hat. Das
war unangebracht, denn die illustrierten Wochenschriften
sind nach dieser Boykotterklärung nicht wertvoller ge-
worden. Der Anarchist und Lyriker wusste, was er
zu tun hatte. Er liess sich den lyrischen Befähigungs-
nachweis von den Brüdern Mann, Hermann Bahr und
Frank Wedekind beglaubigen und ging mit dem Doku-
ment zu dem »„Grossen im Geist“, der „schon oft
einem zu Tode Gehetzten, der sein Recht nicht finden
konnte, eine Tür offen liess“.

Der Grosse im Geist veröffentlichte das Dokument
unter Beifügung einiger Gedichte, aus welchem die
lyrische Intaktheit des Dichters klar erkennbar wird.
Wir bemerken, dass Herz und Schmerz auch nach
dem Boykott noch innig beieinander liegen, und be-
ruhigen uns bei der Feststellung, dass das Glück,
gleichviel ob westlilch oder östlich, auf jeden Fall
köstlich ist.

Das neue Montagsblättchen ist ergriffen von der
Grossmut des „Grossen im Geist nnd im Herzen“,
der „auch diesmal wieder hilfsbereit Schutz gewährt“
— wie er vorher den zu Tode gehetzten Lyrikern
Theodor Suse und Erich Sello hilfsbereit Schutz
gewährte.

Ich finde es nur in der Oidnung. Warum sollte
Mühsam nicht des gleichen Schutzes teilhaftig werden
wie jene — wenn er auch den Grossen im Geist in
den Tagen der von beissenden Ruch umschwelten
Fährnis nur mit einer Broschüre verteidigen konnte?

Quintus Fixlein

Hans Harbeck

oder

Wer beisst mich da ?

Mit Hans Harbeck kämpfen Götter selbst vergebens!
Also, ich unterliege und Iasse mich auf seine Hörner
nehmen — da trabt er schon an, ich halte ihm meinen
blauen Schleier als rotes Tuch entgegen, und jetzt
brülle, mein Hans:

S. Friedlaender: durch blaue Schleier

Gedichte. Im Verlag A. R. Meyer Berlin-Wilmers-

dorf

Das trillert brüh
Im Wortgeglüh’,

Herzohren hör’n erschlossen,

In Liebesmüh’,

Erkeimt Geblüh’,

Zum Glanzgezieh ersprossen.

Herrjemineh, dachte ich, als ich beim ersten Durch-
blättern des Buches auf diese sinnbetrübenden Verse
stiess. Ist das das Stammeln eines Genies oder das
Geschwätz eines Narren ? Um diese Schicksalsfrage
nicht voreilig zu beantworten, raffte ich mich zusammen
und Ias weiter. O, und seltsame Dinge vernahm ichl
„Wie Dietrich erschliesst’s jede Pforte.“ Das sagt der
Verfasser von dem Gedicht als solchem und meint
mit Dietrich weder den grossen Gotenkönig noch sonst
irgendein findiges Individuum, sondern jenen Dietrich,
dessen sich die Einbrecher bedienen. Das ist, dünkt
mich, eine ungemein poetische Erfindung. Weiterhin
hörte ich etwas sehr Tiefsinniges von dem „Urgeruch
der Wesen“, von der „wanken Mondlatern“, von „Herzens-
irrnissen“ und von einem „schlangenringelnden Himmels-
mantel“. Und da klappte ich das Buch zu und sagte
mir, dass das Blöken eines Hammels verständiger und
melodischer sei als dieses „Glutgestöhn“ I

Hans Harbeck in den „Hamburger Nachrichten“

Ach, bin ich ein Hammel? Oder ein stammelndes
Genie? Oder ein Narr? Oder weniger als ein Ham-
mel? — Mein kluger Hans, mein Iyrischer Harbeck-
messer, mein Hamburger Nachrichter, du begehst einen
ästhetischen Justizmord am Verfasser der blauen
Schleier, der ja nicht ohne weiteres mit dessen Person
identisch ist. Seine Gedichte sind voll von allen Ge-
schmacklosigkeiten der Fruchtbarkeit. Ich dulde keines-

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