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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 48 (Januar 1911)
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Unger, Erich Walther: Nietzsche
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Horvat, Heinrich: Gedichte nach dem Chinesischen
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Scheerbart, Paul: Der Kaiser von Utopia, [8]
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0387

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Formen an, die tiefergehend und umfassender die
Zweiheit spiegeln: Das Denken, das an der Oberfläche
des Bewusstseins arbeitet, vom Willen getrieben, und
das Denken, dass aus dem bisher Unbekannten seine
Kraft holt

Nirgends liegt der Abgrund tiefer zwischen dem
Zersetzenden, zwischen Nietzsche und Kant: Der naive
Denker, dessen Denken dem Sinne, der näch der Art
seiner Natur empfindet, gleicht; dieser wendet die in
ihm liegenden Gesesetze des Denkens unbewusst
an; der Denker das Oberbewusstseins und der kritische
bringt sich währnnd des Denkens dauernd die in ihm
liegenden Gesetze des Denkens ins Bewusstsein (darauf
verwendet er die Kraft) und vergleicht, ob e-r nach
ihnen gedacht hat. Darum denkt er nicht eigentlich,
sondern er prüft. Der andere aber prüft nicht —
sondern — sieht.

Wie ist Zweifel möglich, wenn das Denken selber

-sieht? Mit fröhiichem Hohngeiächter antwortet

Zarathustra dem Jünger, der ihn nach Gründen fragt
fiir seine Wahrheit:

„Warum ? sagte Zarathustra, Du fragst „Warum ?“
„Ich gehöre nicht zu denen, welche man nach ihrem
„Warum“ fragen darf.

„Ist denn mein Erleben von gestern ? Das ist
„lange her, dass ich die Gründe meiner Meinungen
erlebte.“

Wie der Sinn seine Fähigkeit holt aus der Lebendig-
keit seines Trägers, so nimmt das Denken seine Kraft
aus Einem, das denkt, aber nicht selber das Denken
ist, aus einem unbekannten Faktor, der das Bewusstsein
erzeugt und in ihm denkt, der aber selbst jenseits der
Grenzen des Bewusstseins schafft und existiert.

Und in gerader Bahn aus diesem Unbekannten
brechen bei Nietzsche die Kräfte des Geistes in die
Bewusstheit, aus diesem Wesen, in dem die Ungreif-
barkeit von Leben und Sein selbst beginnt. So hat er die
tiefste Unmittelbarkeit des Denkens und jede Erkenntnis
ist eine Entladung von unterirdischer Gewalt.

Ein solcher Machtausbruch des Geistes ohne
Gieichen ist der „Zarathustra“.

So tiefher kam die Kraft, dass er näher drang an
alles Unaussprechbare als ein anderer.

In heimlichste Dunkelheiten wurde er getragen im
Sturm des Erlebens ergriff er ihre unfassbaren Formen
und liess die Gestaltungen überfluten, voll von den
Schauern der Wirklichkeit.

In je zehn Tagen stürzen die Rhythmen Zarathustras
hervor — dreimal ein unvergleichbarer Torso — eine
so rasende Verschwendung, dass der überströmende
Reichtum in zehn Tagen nicht erzeugt, nicht geschaffen,
sondern nur gerade ausgeschüttet werden konnte, der
lange auf dem Grunde zusammengetragen war. Ihn
selber, in seinem bewussten Empfinden, ergriff jedesmal
ein fassungsloses Ueberschüttetsein bei diesem Schau-
spiel des vulkanischen Werdens. Und er wusste, dass
dies seine Einzigkeit und sein Geschick war. Er
wusste, dass ail sein Wert an diese Zeit gebunden
war, da ihm ein Unterbewusstsein sein tiefes Schauen
in das Denken warf. Und er fühlte: Sein Leben hing
daran, dass er es ergriff, sonst sank es wieder er-
barmungslos in das Dunkel zurück und wurde leer
und farblos. Nur diese kurze Spanne war ihm ge-
geben, die Empfindungen zu gestalten, während sie
oberhalb der Tore des Bewusstseins dahinflogen, ehe
sie rettungslos versanken.

So griff er in fiebernder Hast nach Bildern und
Gleichnissen, zu halten, was zu halten war, wenn der
Strom des Erlebens heraufschwoll.

In diesem Schweben, in diesem stilien traumhohen
Sich-Halten wird das Denken sich voll Entzücken un-
erhörter Fähigkeiten inne, ein auf- und niederjagender
lautloser Jubel zittert in ihm, da er sieht, dass es alle
Sehnsüchte in Wirklichkeit zu wandeln vermag. Und
ein schmerzhafter Ton des vergangenen Scheins ent-
zündet die stille Lust noch tiefer.

Nichts entflieht, ruhig liegen die fernsten Wunder
vor dem bebenden Erstaunen des Einsamen und haben
sich in dunkelleuchtende Wirklichkeit verändert.

Und er kann es nicht fassen, dass dies nicht Traum
sein soli und sich so ihm zeige.

Höchstes Gestirn des Seins!

Ewiger Bildwerke Tafel!

Du kommst zu mir?

Was keiner erschaut hat,

Deine stumme Schönheit,

Wie? sie flieht vor meinen Blicken nicht?

Schwebendes, Gleitendes, zu greifen ist seine
Aufgabe, seine Weisheit, und er heisst sie
„Vogel-Weisheit“

„Wenn ich spielend in tiefen Licht-

„Fernen schwamm und meiner Freiheit „Vogel-

„Weisheit kam:

„ — So aber spricht Vogel-Weisheit: Siehe es
„gibt es gibt keinen Oben, kein Unten! Wirf Dich
„umher hinaus, zurück, du Ieichter! Singe! sprich
„nicht mehr.

„Sind alle Worte nicht für die Schweren gemacht?
„Lügen dem Leichtem nicht alle Worte?

„Singe! Spricht nicht mehri

Sein Teufel und Erzfeind — das ist der Geist der
Schwere: Wahrlich — nie kannte einer den Todfeind,
das Furchtbare seines Lebens besser als Nietzsche —
der Geist der Schwere, der ihm entreissen wollte,
woran sein Selbst hing, — der Geist der Schwere,
durch den alle Dinge fallen, und alles Schwebende,
das heraufgeschleudert wurde und das nicht fallen
durfte.

Den Geist der Schwere — so nennt Nietzsche das
Denken, das in der Sphäre der bewussten Logik
arbeitet, das kritische, gründliche, zersetzende ober-
bewusste Denken, das schafft, dessen Gründe wohl
„schwerwiegend“ sind, aber den Geist niederziehen,
dass er keine Weite überschauen kann.

Einmal schleppt Zarathustra den Geist der Schwere,
der auf ihm lastet, halb Zwerg halb Maulwurf, der mit
Maulwurfsaugen in versteckte Windungen kriecht, er
schleppt ihn auf seine Höhen, da, wo er den Gedanken
der Ewigen Wiederkunft verkünden will, das einzige im
Werke, das logisch und bewusst zu begründen versucht
wird, ein Opfer dem Geist der Schwere, das ihm
widerwillig ist, denn nicht zu den Gründlichen redet er:

„Zu Euch, den kühnen Suchern, Versuchern, und
„wer je sich mit Kstigen Segeln auf furchtbare
„Meere einschiffte — euch den Rätsel-Trunkenen,
„den Zwielicht-Frohen, deren Seele mit Flöten zu
„jedem Irrschlunde gelockt wird: — denn nicht
„wollt ihr mit feiger Hand einem Faden nachtasten;
„und wo ihr erraten könnt, da hasst ihr es zu
„erschliessen.“

Schluss folgt

Gedichte nach dem
Chinesischen

Der Spielmann und die Tänzerin

Sie tanzt einen Tanz der entzückend ist:

„Das Wiegen der Apfelbaumzweige“.

Alle Männer bezaubert sie,

Alle Frauen beneiden sie,

Ja selbst der Mikado wird freundlich gestimmt —
Doch die Dichter — sie strahlen vor Wonne.

Sie tanzt einen Tanz der berauschend ist:

„Das Taumeln des trunkenen Falters“.

Alle Männer bezaubert sie,

Alle Frauen bezaubert sie,

Ja selbst der Mikado ist höchlich erstaunt —■

Doch die Dichter sind ganz aus dem Häuschen.

Sie tanzt einen Tanz der unsagbar ist:

„Das Zittern des Grases im Winde“.

Rosendüfte umhauchen sie,

Goldene Falter umgaukeln sie,

Da streift mich die Seide ihr leuchtendes Haar —
Und die Laute entsinkt meinen Händen.

Vorfrühling

Auf den Strauss von Azaleen
Den die schlanken Finger halten
Blickt sie lächelnd. Goldfasanen
Folgen ihr im lichten Grase.

Plötzlich kommt ein gelber Falter
Streift ihr Haar und lässt sich nieder
Auf den Strauss von Azaleen,

Den die schlanken Finger halten.

Und mit ängstlicher Geberde
Hält sie fern von sich die Blumen,

Dass ihr Atem nicht verscheuhe
Diesen holden Gast des Frühlings,

Auf den Strauss von Azaleen.

Die Liebe

Auf einer grossen Barke zog sie von mir fort;

Ich sah noch lang die Lampen und die Fahnen.

Dann stand ich noch. Dann sank die kühle Nacht

herab --

Dann sah ich nichts, nur grosses schwarzes Wasser.

Nun bin ich traurig Die gewohnten Dinge sind
Wie Fremdes, das mir nie vertraut gewesen ist.

Ich lege mich unter den dunklen Thujabaum
Und denke immer an die frühen Zeiten.

Wenn ich die Augen schliesse, seh ich ihren Mund,
Er ist halboffen — oh ich hör ihn atmen.

Das schöne Jahr

Der Lenz war süss; mit einem jungen Mädchen
Trank ich im jungen Walde goidnen Wein.

Der Sommer war ein Fest; im hohen Mittag
Sangen die Käfer auf dem Blumenfelde.

Der Herbst sah uns in laubgeschmückten Kähnen,
Rot säumten Ebereschen unsern Strom.

Der Winter aber ist die märchenhafte,

Die leise Zeit. Wir dichten dann von Bäumen,
Von rotem Herbst und heller Frühlingshalde,

Von Bienenblumensang und diesem wunderreichen
Schneeflockenvorhang der sich langsam senkt
Und endlos senkt und ohne Laut . . oh sieh
Des Schweigens weisse Blüten an den Fenstern.

Heinrich Horvät

Der Kaiser von Utopia

Ein Volksroman

Von Paul Scheerbart

XXIV

Der spassende Oberlotse

Nach dem Mittagessen, das der Herr Bartmann an
der grossen Lotsentafel einnahm, gabs ein sehr gemüt-
liches Plauderstündchen.

Herr Bartmann fragte nach den persönlichen Ver-
hältnissen der einzelnen Herren und motivierte seine
Fragen dadurch, dass er sich den Anschein gab, als
reise er im Auftrage der grossen Rechtszentrale am
Schwantufluss. Und so bekam er sehr viele offene
Antworten

Doch die Antworten, die Herr Bartmann erhielt,
genügten ihm immer noch nicht — er hätte haupt-
sächlich gern eine Schilderung des Phantasielebens
der Herren Lotsen gehabt und sprach demnach sehr
oft und mit Wiederholungen von dem Innern des
Menschen — und dass der Mensch doch nicht bloss
ein äusseres Leben führe; er meinte:

„Die Natur, die uns umgibt, ist doch eigentlich
nur ein grosses Sinnbild für uns; was wir äusserlich
in uns aufnehmen, wird zu Mist. Und wir selber
werden auch etwas, was als Dünger verwandt werden
kann. Unser äusseres Leben geht zu Grunde — aber
alles, was wir innerlich empfinden und verarbeiten —
was wir, geleitet von dem grossen Volksgeiste, als
eine Lebenswelle schaffen — das geht nicht so zu
Grunde wie das Äusserliche — ist nicht so flüchtig
wie eine Meereswelle. Von dem, was die Herren
innerlich in sich haben — von dem möchte ich gern
etwas wissen.“

„Nun“, meinte da der Oberlotse, „was werden wir
in uns haben? Was wir gegessen haben, werden wir
in uns haben.“

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