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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 52 (Februar 1911)
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Nr. 53 (März 1911)
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Friedlaender, Salomo: Kants Vermächtnis
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Scheerbart, Paul: Der Kaiser von Utopia, [13]: Ein Volksroman
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0426

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einträchtigen oder die subjektiven Ansprüche zu mindern.
Man eriand sich, um die Uebereinstimmung denken
zu können: die sonderbarsten, scharfsinnigsten, fast
aberwitzigen Theoreme. Bald sollten Subjekt und
Objekt identisch sein, Attribute, verschiedene Seiten
derselben Substanz. Bald war Gott der Ort, wo sie
eigentlich harmonierten; nachdem der influxus physicus
nicht mehr Stich gehalten hatte. Wieder waren ver-
schiedene Arten zu ersinnen, auf welche sie in Gott
harmonieren könnten; war’s durch göttliche Hilfsbereit-
schaft in jedem Augenblick? Oder war es würdiger,
dass Gott in einem Augenblick ewiger Prädestinetion
die Harmonie endgültig besiegelte?

Diesen Wagnissen gemeinsam ist die unkritische
Arglosigkeit gegen das denkende Subjekt mit seinen
Begriffen. Den Finger in diese Wunde legte John
Locke. In der Schule Bacons, des Begründers der
Physik, des Wirdlichkeitsfanatikers, und in der des
Materialisten Hobbes wohl vorbereitet, gegen das Sub-
jekt auf seiner Hut zu sein, brachte er die Neigung
mit sich, dessen Immaterialität anzuzweifeln. Jeden-
falls erhält es zu allen Begriffen den Anstoss von
aussen. Ueberhaupt stammt alle echte allgemein
gültige, notwendige Erkenntnis von aussen: hier brach
sich die Willkür des Subjektes an Realien, an denen
es nicht einmal in Gedanken etwas ändern konnte.

Antipodisch entgegen trat der Alles subjektivierende
Berkeley. Sinnreich zu vermitteln suchte Leibniz, einer
der liebenswürdigsten und erfindnrichsteu Geister. Aus
einer Welt schuf er eine Harmonie zahlloser Welten
die sich durch göttliche Fügung zum Reigentanze zu-
sammengeschickt haben. Einer solchen rein geistigen
Weltmonas ereignete sich das materiell Gegenständliche
durch eine Art perspektivischen Um- und Herabblickens
auf die Gesamtheit der übrigen. Das Aeusserliche
war ein Sumationsphänomen, ein Konglomerat aus
geistigen Elementen. —

So weit was das Problem bis zu Kant gediehen
Ueberall war man darauf aus, den Dualismus des
Aussens und Innens zu überwinden, den Riss der
Weltglocke, deren blechernes Geklapper statt des
Klanges man längst vernahm, auszuheilen. Man war
voller Zuversicht: Mit ein paar Dogmen, mit dem Deus
ex machina glaubte man alies geleistet. Denn das
war es eben, dass niemand den Mut besass, die ge-
fährliche Kluft wirklich klaffen zu lassen, die man
längst vor Augen sah. Der Riss drohte durch das
Leben sclber zu gehen. Und ohne sich überhaupt
gründlieh zu den Extremen entschlossen zu haben,
behalf man sich schon mit allerhand Vermittlungen.

Aber Hume hatte bereits mit schwerem Finger an
ein Problem gerührt, welches schon die Zündschnur
zur Mine Kants in Brand setzte, die hernach alle
jene metaphysischen Luftschlösser gewaltig auffliegen
liess. Hume wunderte sich, dass wir manches in-
stinktiv besser und früher wüssten, als es erfahren — viel-
mehr, als es überhaupt nie und nimmer mit rechten
Dingen erfahren werden konnte. Nach einem be-
denklichen Kopfschütteln entschied er sich, es sei
vielleicht eine mehr nützliche ais auf Wahrheit beruhende,
jedenfalls tief eingewurzelte Angewohnheit. Mit un-
vergleichlich denkkräftigerem Organe griff hier Kant zu.

Eine ungeheure Vorsicht bezeichnet seinen Weg,
einen Weg des erstaunlichsten Lavierens zwischen
durch einander treibenden Eisblöcken. Als Mann der
Ordnung, des Vertrauens, der Sicherheiten, hielt er
das Bewusstsein der ausserordentlichen Verantwortung,
welche man mit einer Revolution auf sich nimmt, be-
ständig in sich wach Zögernd und zaghaft gesteht
sich ein solcher Geist die eigene revolutionäre Be-
stimmmung ein. Unter viel Vorbehaltlichkeit und stetem
Protest gegen sich selbst wagt er sich mit ihr hervor.
Er klammert sich an das Alte so lange, bis vor dem
wehenden Winde des Neuen alie Segel sich blähen,
alle Taue sich straffen — dann entschliesst er sich zur
Fahrt. —

Wir sehen Kant in seinen reifen Mannesjahren
von Leibniz-Wolffischer Tradition zur englischen
Empirie zweifeld hin und wieder pendeln. Das Problem
der Apriorität macht ihm die Natur interessant. Nicht
ohne Glück versucht er mehrmals, auf spakulativem Wege
physischen Phänomenen beizukommen. Er stösst hier-
bei auf den Widerstand der Natur, auf die berühmte
Grenze, deren Festsetzung seine erste und letzte Sorge
war.

Hume, wie gesagt, hatte ihn bis dicht an das
Problem herangeführt, dem er gründlicher zu Leibe
als jemals einer vor ihm. Wie ist es mögiich, dass
wir manches über die Dinge da draussen unvergleichlich
sicherer wissen, als es uns Erfahrung jemals lehren

könnte? Apaodiktisch wissen? — Grosse Geister
hatten hier verschiedene Antworten gegeben: von Platon
angefangen, der allegorische Aufschlüsse gibt, wenn er
meint, wir erinnerten uns gewisser überzeitlicher Er-
lebnisse; bis auf Leibniz, dem die äussere Erfahrung
nur eine zusammengeronnene innere ist. Niemand
hatte sich noch um die gehörige Systematisierung der-
artiger apriorischer Erkenntnisse bemüht.

Diese Kritik aller Kritiken unternimmt nun Kant:
die Kritik der reinen Vernunft. Hier ist das Ende
alles philosophischen Vagabundierens ins Blaue hinein
ohne einen anderen Aufwand als wunderschöner Ima-
ginationen. Gleichviel, heisst es jetzt, ob da draussen
eine selbstandige, von unserem Subjekt unabhängige
Welt dasteht oder nicht: — Wir haben an ihr zugleich
unser Machwerk, zugleich unser Problem, Mag das,
was uns der Verstand im voraus eingibt, mit dem, was
uns der Sinn hinterdreinj kennen lehrt, in der Wurzel
verwandt sein: uns Menschen ist diese Verwandtschaft
ein Geheimnis. Wir müssen unterscheiden zwischen
der Weltform, welche wir selbst liefern, und dem
Weltgehalt, der problematischen Ursprungs ist. Apri-
orischer Verstand und aposteriorische Sinnlichkeit sind
auf einanderangewiesen. Dem Geiste ist es fortan nicht
mehr gestattet, die Sinnlichkeit wie eine lästige Fessel
von sich abzustreifen; sondern seine ganze Energie
wird au. die Kultur der Sinne verwendet.

Allein er braucht sie dabei nicht aufl Wo soll
er mit dem Reste hin? Ebenfalls nicht ins Blaue: er
verwende ihn zum Ordnen, zum Regulieren und
Systematisieren des schonErrungenen. Und meldetsich auch
darnach noch ein Bedürfnis herzlichster Art in seinem
Innern, so kann ihn dies mit nichts Besserem be-
schenken als mit einer sicheren, wiewohl unerweislichen
Hoffnung. Damit ist alle wunderliche Verflogenheit ins
Ueberweltliche eingefangen in der Welt des Hier, der
Gegenwart. Hic Rhodusl hic salta! ruft Kant dem
Geiste zu.

Dieser grandiose Positivismus, der zum ersten
Male, wenn auch gleichsam halb und halb in der
Tasche, die Faust ballte gegen allerhand absolut gewähnte
Realitäten und Dinge an sich, brachte sogleich tief ein-
wühlende Wirkungen hervor. Der Skeptizismus hielt
seine rechte Stunde für gekommen. Der Dogmatismus
bäumte sich aus Leibeskräften gegen den Zwang auf,
der ihm angetan werden sollte. Besonders der
Idealismus glaubte, Gründe zum Triumph zu haben.
Es geschah endlich efne um so grössere Ernüchterung,
eine Ebbe, die man noch heutzutage beobachten kann,
obgleich geschrieben steht: „Die ernste alte Sphinx
mit ihren Rätsel liegt unbeweglich da und stürzt sich
darum, dass ihr sie für ein Gespenst erklärt, nicht
vom Felsen“ (Schopenhauer).

Fortsetzung folgt

Der Kaiser von Utopia

Ein Volksroman

Von Paul Scheerbart

XLII

Der Astronom

Als die Lotte nun nach Ulaleipu fuhr, war der
Herr Bartmann auf der grossen Sternwarte im alten
Schneegebirge und hatte dort die Sturmküste und den
beweglichen Sumpf beinahe schon vergessen; Herr
Bartmann sprach fast den ganzen Tag mit dem Astro-
nomen Haberland; diese beiden Herren schienen un-
zertr^nnlich zu sein.

Herr Haberland entwickelte dem Herrn Bartmann
Theorien über die Natur der menschlichen Sinnesvor-
stellungen und über die verschiedenen Arten des
Denkens.

„Denken ist“, sagte Herr Haberland „natürlich nur
ein Verknüpfen von Sinnesvorstellungen; der Philosoph
verknüpft zumeist nur Formeln, die die Gestalt von
Worten annehmen, der bildende Künstler verknüpft die
Augenvorstellungen, aber der Gärtner verknüpft die
Geruchsvorstellungen — und der Koch Ge-
schmacksvorstellungen. Die beiden Letzteren pflegen
ihre Gedankentätigkeit nicht mit vollem Bewusstsein
auszuüben, aber ihre Gedankentätigkeit lässt sich trotz-

dem nachweisen. Nun lässt sich aber die Gedanken-
tätigkeit des Gärtners und des Kochs, wenn auch in
sehr geringem Masse doch bei jedem Menschen nach-
weisen. Das Denken mit den anderen Sinnen, die
nicht Auge und Ohr sind, nennen wir gemeinhin un-
bewusstes Denken — — man sollte sagen: schwer
kontrollierbares Denken Dieses spielt im sogenannten
Traumzustande die Hauptrolle. Aber der sogenannte
Traumzustand spielt wieder in unserem Leben die
Hauptrolle; der wachende Zustand, in dem nur Auge
und Ohr in Gedankentätigkeit befindlich sind, könnte
als Ausnahmezustand betrachtet werden. Sie werden
mir das, Herr Bartmann, schnell unterschreiben, wenn
Sie eingesehen haben, dass das, was sie hinter jedem
Augeneindruck suchen — eigentlich nur auf die Fixie-
rung der unbewussten Geruchs - Geschmacks - Gefühls-
empfindungen ausgeht. Die unbewusste Verknüpfung
dieser Empfindungen sowohl untereinander wie auch mit
dem Augeneindruck — macht diesen intim. Die soge-
nannte Gehirntätigkeit, die von den anderen Sinnen
ausgeht, macht die bewusste Tätigkeit des Auges erst
interessant, bedeutsam, reich, geheimnisvoll, grossartig,
intensiv und glänzend. Und somit wissen Sie jetzt,
Herr Bartmann, was Sie eigentlich wollen und suchen:
die Mittätigkeit der anderen Sinne wollen Sie ins Be-
wusstsein hinaufziehen.“

XLIII

Der Nachthimmel

Dem Herrn Bartmann fiels plötzlich wie Schuppen
von den Augen; der Astronom Haberland kam ihm wie
ein Erlöser vor — und es währte lange, bis sich die
Natur dcs Herrn Bartmaun wieder konzentriert hatte;
er kam sich so aufgelöst vor — er verglich sich mit
einem Knoten, der von der Hand eines Zauberers ganz
leicht auseinandergelöst wurde und nun als einfaches
schlappes Tau daliegen muss und für andere kein
weiteres Interesse bietet.

Und der sonst so stolze Kaiser Philander verlor
in ein paar Stunden sein ganzes Selbstbewusstsein,
dass er dem Herrn Haberland mit einer Demut und
Ehrfurcht begegnete, die etwas Kindliches hatte und
sehr fein berührte.

Und so gingen die beiden Herren eines Abends im
Schnee auf dem grossen Balkon lebhaft gestikulierend
auf und ab; sie hatten dicke Pelze und Pelzhand-
schuhe an und achteten nicht auf die rotglühenden
Schneekuppen der grossen Berge ringsum und auch
nicht auf die Sterne des Himmels, die nacheinander
sichtbar wurden und mächtig funkelten.

„Es handelt sich“, meinte Herr Haberland, „sicher-
lich immer wieder darum, die unbewussten Empfin-
dungen und Vorstellungsverknüpfungen, die wir auch
als Gedankenoperationen bezeichnen müssen, ins be-
wusste Augen- und Ohrenleben hineinzuziehen; wir
müssen uns eben bemühen, immer mehr zu erwachen
— um das aber zu können, müssen wir immer leb-
hafter die Traumzustände und die Tätigkeit der Sinne,
die nicht Auge und Ohr sind, aus dem Dunkel der
Nacht in die helle Beleuchtung rücken.“

Jetzt funkelte der Nachthimmel ganz hell, und die
roten Gluten in den Berggipfeln wurden dunkler und
dunkler, und der Herr Bartmann erwiderte erregt:

„Das ist die Beleuchtung dessen, was ich erstrebte;
ich habe immer in unsicheren Konturen gefühlt, dass
wir hinter die Sinneseindrüke kommen müssten; ich
meine natürlich nur: hinter die Augeneindrücke; die
Ohreneindrücke beachtete ich noch garnicht. Sie haben
mir, Herr Haberland, das Allerwichtigste in meinem
Leben gesagt; ich glaubte tatsächlich, dass zunächst
die Tätigkeit der anderen Sinne dem Augeneindruck
einen Hintergrund gibt. Jawohl I Jawohl I Was für uns
hinter dem einfachen Augeneindruck Iauert — das
sind immer die anderen Sinnesvorstellungen, die bei
dem Augeneindruck mittätig sind, ohne dass wir ihre
Mittätigkeit genau kontrollieren können. Aber nun die
anderen Sinne I Glauben sie nicht, dass wir noch
andere Sinne haben können, von deren Dasein wir
vorläufig noch keine genauere Vorstellung besitzen?“

Der Nachthimmel leuchtete; und Herr Haberland
erwiderte sehr schnell:

„Sie gehen zu schnell vor! Sie dürfen nicht ver-
gessen, dass es die Idee unseres Schöpfers sein kann,
uns alimählich immer wacher zu machen — aber nur
allmählich — allmählich — damit wir auch Zeit haben,
den ganzen Vorstellungsrausch, den uns das Weltleben
bieten kann, in uns aufzunehmen — es gehört was
dazu Herr Bartmann. Es wäre doch schlimm, wenn

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