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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 7 (April 1910)
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Scheu, Robert: Der Sozialanwalt
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Döblin, Alfred: Gespräche mit Kalypso, [3]: Ueber die Musik
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0054

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werdcn. Wenn die Rechtsordnung dem Wucher
nicht beikommt, so rächt sich darin ihre Kurz-
sichtigkeit: daß sie es gar nicht für ihre Aufgabe
halten will, der ökonomischen Unterlage ihrer Qe-
bilde auf den Grund zu gehen. Erst durch die Ein-
beziehung dieser Materie in die Zivilrechtsordnung,
durch die Nichtigerkiärung wucherischer An-
■sprüche, beziehungsweise gewisser Verpflichtungen,
also durch Umwandlung sozialpolitischer Forde-
rungen in materielles Recht wird der Seuche
ernstiich an den Leib gerückt.

Wie steht es aber mit dem Rechtshohn? Unter
Rechtshohn, iniuria, ist zu verstehen das einfache
Ignorieren des Rechts aus Uebermut und Bosheit,
rechtsfeindiicher Qesinnung, die aus der Sicherheit
entspringt, daß der Qegner sein Recht nicht ver-
folgen kann. 1hm steht die Rechtsvernachlässigung
nahe, die gleichsam eine chronische Erkrankung
des Rechtsbewußtseins darstellt und einem peren-
nierenuen Selbstmord nicht unähnlich ist. Die Ver-
rolgung eines Rechts kann ebenso durch ökono-
mische Schwäche und Verzweiflung an der Justiz,
als auch durch eine zufälige Konstellation gestört
sein. Etwa dadurch, daß irgend ein Rechts-
geschäft nicht genügend gesichert wurde.
Nehmen wir zum Beispiel an, jemand ver-
pflichte sich, etwas zu leisten, und empfange dafür
das Versprechen der anderen Partei, daß sie in
einem spätern Zeitpunkt eine Handlung setzen
wcrde, die nur an diesem einen Tage einen Wert
hat. Jener i'eil leistet das Seine und erwartet die
Gegenleistung. Der andere Teil läßt nun den
Termin herankommen und versäumt böswiiiig die
Leistung. Die Leistung kann nicht mehr eingeklagt
werden, dä der entscheidende Tag vorüber ist, und
wenn aus Vertrauen auf die Anständigkeit keine
Konventionalstrafe festgesetzt wurde, so kann kein
üerichtshof der Erde Genugtuung schaffen. Es liegt
dann unsühnbarer Rechtshohn vor, der ohne Ver-
schiedenheit der ökonomischen Lage durch eine
brutal ausgenützte Konstellation möglich war.

In der Regel aber sind die wirtschaftlich
Schwachen das Opfer permanenten Rechtshohns
und ihrer eigenen Rechtsvernachläsigung. Der
Arme darf es gar nicht wagen, sein Recht geltend zu
itwshen. weii sein Kontrahent iq rier P-^el .«»in

- - —- -*■ - ai «• *sy& -=•- --

Brotherr ist.

Dem Rechtshohn ist noch schwerer beizu-
komnicn als dem Rechtsnhßbrauch. Dieser springt
deutlich in die Augen, wird sichtbar; er hat die Er-
findungskraft der Soziaipolitiker gereizt. Der
Wucher hat immerhin die Aufmerksamkeit auf sich
gezogen. 'Aber der schweigende Rechtsverzicht —
die Ausbeutung, das stumme Einverständnis des
Opfers, das den Monopolherrn nicht reizen darf
und bedingungslos in seiner Gewait bleibt — wird
kaum entdeckt, geschweige denn gesühnt.

Wäre es nicht Aufgabe der Jurisprudenz, sich
mit dieser am Volksmark zehrenden Krankheit zu
befassen? Auch hier wieder drängt sich die Frage
auf, ob das Laster des Rechtsverzichts rncht die
Folge einer grobmaschigen, undurchdachten mate-
riellen Rechtsordnung, ob nicht das Zivilrecht unzu-
reichend sei.

Das vollendete und wahrhaft erhabene Zivil-
recht wird jenes sein, das die Rechtsverfolgung, die
Rechtsdurchsetzung in seinen materiellcn Inhalt
aufgesogen hat, das die Ungleichheit aus sich selbst
heraus baianziert, den Prozeß, bevor es dazu
kommt, zu gunsten der wahren Gerechtigkeit ent-
scheidet. Bis zu jenem Zeitpunkt, wo diese Auf-
gabe erkannt ist, und bis zu jenem ferneren Zeit-
punkt, wo sie gelöst sein wird, inuß durch Errich-
tung neuer Institutionen, die das Unrecht w'enig-
stens einigermaßen korrigieren, Ersatz geschaffen
werden.

Dem Wucher suchen das Strafgesetz und der
Staatsanwalt beizukommen. Dem Rechtshohn tritt
bislang keine Institution entgegen. Hier bedarf es
einer Neuscijppfung. Die Repression muß durch
eine geregelte systematische Intervention ergänzt
werden. Wird der Rechtsmißbrauch vom Staats-
anwait verfolgt, so muß der Rechtshohn, die Rechts-
vernachlässigung vom Sozialanwalt aufgegriffen
und zurückgewiesen werden. Notwendig ist das
spontane Einschreiten der die Gesellschaft ver-
tretenden Gev/ait, die das auf dem Boden liegen-
gejassene Recht ohne Rücksicht auf die Zustim-
mung des Verletzten aufnimmt und von amtswegen
verfolgt. Die Ü&ellschaft wird einst erkennen, daß
es nicht in ihrem Interesse liegt, wenn auf ihre ge-
satzten Rec’nte verzichtet wird. Der Sozialanwalt
liat überall einzuschreiten, wo Rechte geknickt
50

werden, wo krasse Ausbeutung und Menschen-
schändung durch privatrechtliche Gewalt geübt
wird, gegen die der Verletzte sich nicht verteidigen
kann. Der Sozialgerichtshof hätte dann auszu-
sprechen, daß eine unsittliche Rechtsverhöhnung,
diffamierende Ausbeutung oder gesellschafts-
feindliche Ausnützung eines Monopols vorliegt.

Daß der moderne Wohlfahrtsstaat, der seinen
Arm dem Begüterten leiht und ihm seine Allgewalt
selbst dort zur Verfügung stelit, wo er zähne-
knirschend das Widerliche der Ansprüche durch-
schaut, daß dieser Wohifahrtsstaat eigentlich eine
solche ergänzende Macht braucht, ist einleuchtend.
Und wenn wir unseren Blick durch die Zeiten,
schweifeir lassen, so finden wir, daß es bereits
Staatswesen gegeben hat, die für die positiven sitt-
lichen Pfiichten der Bürger ihr eigenes Er-
munterungsorgan besaßen, nämlich die antiken
Staaten mit ihrer Zensur, deren Wiederaufleben im
Zeitaiter der ökonomischen Notzucht ganz außer-
ordentlich segensreich wäre. Vielleicht könnte eine
nach großen Gesichtspunkten gebildete Wohlfahrts-
behörde dann so viel Material und Einsicht vorbe-
reiten, daß jene höhere Rechtslejire, von der wir
träumen, zu jenem erhabenen Zivilrecht den Weg
fände, in dessen materiellem Inhalt alle Unzuläng-
lichkeit und Lüge aufgelöst ist.

üespräche rait Kalypso

Ueber die iVlusik

Von Aifred Döblin

Drittes Gespräch: Auf purpurnen Decken / Von
der Frage rjer Musik

(Die Grotte der Kalypso. Ein bläuliches Schim-
mern und Aufleuchten. Der Boden feine Stein-
mosaik. Dicht am hohen, aber sehr engen Eingang
ein brennender Altar. ln einer seitlichen Vertiefung
der Grotte zwei Ruhelager, purpurbedeckt; davor
ein niedriger Tisch. Neben dem Aitar Hörner,
Flöten, Trommeln, Lauten. Vor ihm betet
Ksjvnto dif Heiire der Göttinnen, in den

Schnee der Priesterm geriüllt, mit breiter
Stirnspange und Gehängen, verbrermt mur-
melnd Fleisch, betrachtet die Eingeweide. Weiß-
bekleidete Vogelfrauen bedienen sie. Nun geht Ka-
lypso langsam zur Nische hinüber, an das Lager,
gegenüber dem des Musikers. Ihn umhüllt eine
schwere, altgriechische Tracht, schwarzblau und
ohne Schmuck. Sie ruhen stumm gegenüber.)
Kalypso:

Du sagst, Du seiest Musiker. Erzähl mir von der
Musik. '

Musiker:

Wir feierten ein heiteres bräutliches Spiel auf un-
serem Schiff. In meiner Trunkenheit nannte ich
mich Odysseus, der nach Kalypsos Gestaden fort-
verlangte, wollte den reichsten Kranz von ihren
Händen. 0 unsrer Lustfahrt, unsrer Wehfahrt!
Ich hasse Dich, daß Du mich nicht verstehst. Wir
haben nichts gemein. Sieh, dies muß ich dulden,
daß viele Dinge Herr über mich sind, aber daß Dir
nreine Seele verfalien will —

Kalypso:

(Gieiehgiltig.) Du wolitest von Musik sprechen.
Musiker:

Ich verachte sie. Es gibt vieie Arten des Todes wie
des Sterbens. Aber daß Du, auf der der starrste
Tod liegt —

Kalypso:

(Klatscht in die Hände.) Feuer schüren!

Musiker:

(Beißt sich auf die Lippe.) Mißversteh’ mich nicht,
Kalypso.

Kalypso:

(Lächelt.) Ich verstehe Dich. (Pause.)

Musiker:

— Du woiitest von der Musik hören.

Kalypso:

Oft wollen wir von ihr sprechen. Du sollst mir
alles von ihr sagen, was Du weißt. —

Musiker:

— Es spricht sich schwer von ihr. Sie ist, fast
scheint mir, eine Brücke zwischen Sein und Nicht-
sein. — Sie ist auch mehr etwas Unnennbares, Un-
wirkliches, als irgend etwas anderes Wirkliches.
Es läßt sich schwer begreifen, wenr. man einen
Stein, einen Baumstamm, einen Tierleib sieht, was
sein Leben ist — wie dies lebt. was bewirkt. daß

es lebt, die Augen öffriet, wächst. An der Musik
begreift man es vielleicht. Das formlos Regsame,
das Unsichtbare, Durchsichtige, Blasse ist — sie
selbst.

Wirklicher, wirksamer ist sie, als etwas Wirk-
liches. Ein Mensch kann schlafen, erstarren, ster-
ben; sie schwimmt dahin, unablässig, wird nim-
mer etwas als schäumen, schiinmern, glimmern.i
Sie zeigt, was Unsterbiichkeit ist. — Wiilst Du
mir gefällig sein?

Kalypso:

Nein.

Musiker:

Laß Deine Flötenbläser kommen.

Kalypso:

— Wenn mein Lehrer mir grollt, fahre ich fort.
Musiker:

Ich aber will Dich fragen: Was lockt Dich zur
Musik? Lockt Dich etwas zu ihr?

Kalypso:

Sieh, ich denke gern an Musik. Wir sind hier ein-
sam, „wir“, „der starrste Tod“. Und es ist, wie
Du sagst. Sie ist mehr wirklich, als irgend etwas
Wirkliches. Ich kann an einer Bildsäule vorüber-
gehen, eine farbige Wand nicht beachten; aber die
Musik ist aufdringlicher, sie verlangt mich, sie
will. Sie faßt mich bei den Händen und wühit sich
in mein Haar ein. Das Gehör muß ein geselligerer
Sinn sein, als das Gesicht; kürzer mag der Weg
zur Seele sein durch das Ohr, als durch das Auge.
Und so macht Stille die Einsamkeit einsamer als
Leere. Wo Musik ist, erfüllt sie die Gegenwart,
daß ein lachcndes Bild zur blöden Grimasse wird
vor einem Trauergesang; sie kann alles zur Lüge
machen und zaubert wahrhaft, daß ich Eifersucht
fühle. Sie verdunkelt jede Landschaft, verteilt
Gewitter, ist Hcrrin über Sonne, Mond und Ge-
stirne. Und eine fürstliche K’rnst ist sie. Ich muß
die Schweigsamkeit lieben, aber wenn es mich
nach einer Stimme verlangt, zu wem soll ich
sprechen, wer soi! zu mir sprechen?
lch lasse die Me^schen tiur in der Musik an mich
herankommen. Sie redet in großem, feierlichen
Ton von ihnen, ohne Umschweif, sachlich, streng i
überlegen, ohne Wort fiir das Bestimmj^ y.lTf' ~ 1
iidlc, l'eimiclie. Eiit viStsägeifdes Mienenspiel geht I
über ihr Gesicht.

Musiker:

(Schweigt.) — — Ich bitte Dich um Verzeihung,
wenn ich Dich iin Stillen unterschätzte.

Kalypso:

(Lacht.) Ihr betet zu einem Gott, einem einzigen,

Ihr Sparsamen, der die Kraft besessen hätte, glaubt
Ihr, die ganze Unermeßlichkeit der Welt zu schaf-
fen, die doch von Urbeginn war und keines Schöp-
fers bedurfte. Nun, was sich Euer Meistergott ani
köstlichen Vorabend des ersten Schöpfungstages 1
dachte — der dunkle Pian der Schöpfung — das i
ßrüten über dem Riesenei — mag wohl von Art I
der Musik gewescn sein —.

Musiker:

Du redest so fein. — Aber Du redest in Bildern,
Kalypso. (Kalypso sieht ihn an.) — Ich sage, dies
ist eine rätselvolle Kunst und ein Land, dessen |
Schluchten und Pfade keiner kennt, mag er auch £
wochenlang vom Morgen bis zum Abend drin ge-
wandert sein.

Kalypso:

Wir wandern viel, aber immer führt uns ein Weg
und immer der Weg.

Musiker:

Doch träumen wir zuviel, wir lassen unsern Geist
in Bildern sprechen. — Wie ist dies möglich, wie ist
die Musik gleichsam wirklichkeitsschwanger, wie
kann sie gleichsam sprechen, die keines Wortes
mächtig ist? Töne gehen hin und her. Wie saugt
sie sich schwellend voll mit Leben, daß sie als Vor-
form der Welt erscheint und als Mutter und zeu-
gender Gott? Dieses „Gleichsam“ ist eine Schlucht,
in die ich oft gestiegen bin.

Kaiypso:

Setz Dich'zu mir. — Sollen meine Flöten biasen?
Musiker:

Bitte. — Ich frage nicht ins Leere hinein. Die
Musik ist wohl die freieste aller Künste. In jeder
Kunst wachsen Pflanzen, die nicht in der Erde wur-
zein, schlagen Kobolde, die keine Mutter gebar,
einen Purzelbaum. Wirres Fabeitier waltet da,
verschlungene Begebenheiten, die dämonisch durch
gebaflte Nebel tratzen. Man nennt die Herrichter
solcher Werke Phantasten und schtlt sie, daß si e
sündigen Umgang mit Wolken trieben. Gibt es eu'
 
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