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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 42 (Dezember 1910)
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Wagner, Hermann: Eine Verlorene
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Neumann, R. K.: Das Schweigen im Blätterwald
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Walden, Herwarth: "Empfehlenswerte Bücher"
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0341

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schüchterne, unerfahrene Burschen mochte sie leiden,
die, wenn sie sie ansah, noch rot wurden und unter
ihren Händen stammelten und zitterten. Zu denen war
sie zärtlich, nannte sie „Mäuschen“ und „Bubi“ und
bemutterte sie. Plünderte sie auch nicht aus. Qab
ihnen im Qegenteil gute hygienische Ratschläge und
Warnungen mit auf den Weg. Und legte ihnen vor
allem eins immer dringend ans Herz: sie möchten ja
wiederkommen. Und sie kamen alle.

Ihre Spezialität aber waren die älteren Herren.
Denen war sie aufrichtig zugetan. Sie hatte ihrer sehr
viele. Privatiers, Beamte, Gewerbetreibende, ja sogar
Handwerker und Arbeiter gehörten zu ihren festen
Kunden; sie bildeten ein sicheres Stammkapital, von
dessen Zinsen sie lebte. Ein jeder von ihnen hatte
besondere Eigenheiten, und alle diese Eigenheiten hatte
sie auf das Sorgfältigste studiert und hätschelte und
pflegte sie mit seltener Hingabe. Den alten Herren
schien sie ein Ideal. Sie war nicht ungestüm, liess sich
Zeit und kannte Rüksicht. Unzufriedene gab es nicht.
Sie passte sich allen und jedem an. Nichts mensch-
liches war ihr fremd. Verschwiegen war sie wie das
Qrab. Nie hätte sie einen verraten. Das war ihr
Ehrensache. Das wusste man und schätzte es an ihr.

Ihr Leben hatte den geregelten Gang einer Uhr.
Sie übereilte sich nicht und war auch nicht faul.
Was sie anpackte, führte sie durch, und was sie zu-
stande brachte, hatte Hände und Füsse. Nie sprach
sie viel. In diesem Punkte war sie beinahe phleg-
matisch. Was sie aber sagte, darauf legte sie gewöhnlich
Gewicht, daran liess sie mit ausgeprägter Starrköpfigkeit
nicht drehn und nicht deuten.

Sie scheute auch keine Arbeit. Nähte für sich,
wusch sich die Wäsche selbst, scheuerte sogar Geschirr,
Möbel und Zimmer. Und das mit der Gründlichkeit
der deutschen Hausfrau. Nicht selten ging sie auf den
Markt, zum Fleischer, zum Bäcker. Und kochte sich
selbst. Mit rotem Gesicht, die Aermel ihrer Bluse
hinaufgestreift, mit einer weissen Schürze angetan, stand
sie geschäftig am Herde und war für den besten Gast
nicht zu haben.

Eine ihrer hervorstehendsten Eigenschaften war die
Sparsamkeit. Es gab nichts, für dass sie unnütz Geld
ausgab. Sie war nicht geizig, liebte es, behäbig zu
leben und nirgends zu darben. Mied aber alles Ueber-
mass und zog weise Grenzen. Was sie kaufte, war
solid, nicht prunkend. Batist und Seide kannte sie
nicht. Hatte aber gute und reichliche Wäsche und
Ueberfluss an Kleidern und Scbuhen. Sie legte Pfennig
zu Pfennig, zählte mit Inbrunst ihr Silber und Nickel,
wog und schüttelte ihren Schatz und schien sich an
seinem Klange, seiner Schwere zu berauschen. Eine
naive Freude am Geld um seiner selbst willen be-
herrschte sie. Von Zeit zu Zeit machte sie sich dann
festlich geputzt auf den Weg zur Sparkasse. Mit Selbst-
bewusstsein und einer gewissen herausfordernden Würde
zog sie vor den Herren, die sie alle kannten, ihr
Büchel und fügte ihrem Guthaben ein weiteres Plus
hinzu. War es auch nicht gross, so wuchs es doch
stetig. Und alle hatten Respekt vor ihr. So wurde
sie immer älter, kühler und klüger. Auch wie es schien
jmmer anziehender und begehrenswerter. Da sie nie
schön gewesen war, konnten die zunehmenden Jahre
ihr [Schönheit nicht rauben. Wohl aber begann ihr
Körper, der nie wüst und unvernünftig gelebt hatte,
jene weiche nicht überquellende Füile anzunehmen,
die die Frau von dreissig bis vierzig Jahren, wenn sie
gesund ist, reizend macht. Nur eine Sehnsucht ging
heimlich durch ihr Leben. Ein Gedanke, der sie nie
verliess, der alles, was sie dachte, tat und wünschte,
total beherrschte, den sie wie eine schmerzliche Hoff-
nung verstohlen mit sich herumtrug: der Mann. Sie,
die ein Heer von Männern verbraucht, die stumpf,
ohne Nerven, alle Grade männlicher Gier gekühlt
und gesättigt hatte, harrte verschwiegen eines Ge-
fährten. Dass er kommen würde zweifelte sie keinen
Augenblick. Dass er auch etwas ordentliches vor-
stellen, brav, solid sein, ein festes geregeltes Einkommen
haben müsse, war ihr unerlässliche Voraussetzung.
Ein kleiner Beamter oder Angestellter, ein älterer
Witwer oder Junggeselle, wenn auch unansehnlich,
kränklich oder alt. Ein Mann, der ihr seinen Namen
gab, mit dem ihrem Leben die Erfüllung wurde. Den
sie pflegen, dem sie dienen: den sie lieben konnte.

Sicher kam die Zeit. Das wusste sie. Und ruhig
sah sie ihr entgegen. Die Tage kamen und gingen«
Sie musste siegen.

So war Josefa Novotny. Alle, die sie kannten,
schätzten sie hoch.

Das Schweigen im
Blätterwald

Herr Fedor^von Zobeltitz, Leutnant a. D., hat sehr
schlechte Romane geschrieben, worauf das Publikum
mit £der in Deutschland beliebtan Antwort erwiderte,
dass es diese Romane kaufte. Zeitweilig kommt Zobel-
titz: sogar lyrisch des Weges, aber seine Worte plätschern
dünn, sanfter Teeaufguss, oder haben den faden Ge-
schmack schimmligen Roggenbrotes, den man bei der
Lektüre des Dichters Wilhelm Neumann empfindet.
Man sagte mir, dass Zobeltitz wohl wüsste, welcher
Qualität seine Romane seien — nicht prima ff. Ware
(bei dem Zobeltitzschen Engrosbetrieb möchten kauf-
männische Ausdrücke am Platze sein), sondern Sorti-
ment zu Partiepreisen mit Pfefferkuchenrabatt. Zobel-
tilz soll sich jedoch für einen Bibliographen halten.
Nun veröffentlichte er in „Velhagen und Klasings Monats-
heften,“ in denen immer noch der bis in die Finger-
spitzen lyrische Carl Busse spukt, einen Aufsatz —
oder nannte er ihn schelmisch lächelnd „Plauderei“ ? I
— „Der Pegasus im Weltenraum.“ Ich weiss nicht,
welche Vorstellung Herr von Zobeliitz von diesem ver-
flixten Vieh hat — sein Musenross ist stets ein Stecken-
pferd gewesen; auch der Aufsatz bringt keine Lösung.
Der Bibliograph von Zobeltitz schreibt mit vielen Worten
wenig von schlechten Romanen, die im Aether spielen.
Ein paar verschollene Schmöker eröffnen den Reigen,
die man im Goedicke verzeichnet finden mag, Jules
Verne wird genannt, Poe mit dem sehr schwachen
Roman „Hans Pfalls Mondfahrt,“ die „Ersten Menschen
im Monde,“ ein misslungenes Werk des geistreichen
H. G. Wells (das im Deutschen, dank den Bemühungen
des Herrn F. P. Greve völlig ungeniessbar ist) leiten
zu den „Marsmenschen“ des Herrn Kurt Lasswitz und
anderen modernen Schöpfungen von ähnlichem Wert
über. Mit keinem Wort aber wird Paul
Scheerbart erwähnt! Sollte ihn der gelehrte Biblo-
graph von Zobeltitz nicht kennen, nichts wissen von
dem Mondroman der „Grossen Revolution“ uud von
der tollen Fahrt durch den Raum in „Na prost!“ — ?
Wo war Zobeltitz, als er diesen Aufsatz schrieb? —
Ich glaube, er schrieb einen neuen halbsüssen Sektroman
und es sass ihm etwas im Nacken. Es war aber keine
Meerkatz, sondern ein Meerkater.

Die grosse Revolution / Ein Mondroman von Paul
Scheerbart / Im Insel-Verlag Leipzig

Die Beichte eines Toren

Tagebuchnotiz

Immer wieder muss ich an warnend in die Höhe
gestreckte Schwurfinger denken, wenn ich von der
„Beichte eines Toren“ höre. Vor Jahren ist mir die
ersten Uebersetzung in die Hände gefallen, die das
normale Sittlichkeitsgefühl eines preussischen Schutz-
manns in Verwirrung brachte, worauf das Buch kon-
fisziert ward. Ich habe es jetzt wieder gelesen, jenes
seltsame Buch, habe es mit dem anderen verglichen,
das kaum etwas von Strindberg gibt, aber immer noch
mnss ich an die zitternde Schwurhand denken. . .
Warum richten, warum hassen? Sohn einer Magd!
wir alle treiben auf jenem fahlgrünen Gewässer, das
man Leben nennt. — Manchmal kommen Stunden, in
denen etwas von uns abfällt, wie die Haut sich vom
Schlangenleibe löst, aber im Gegensatz zu diesem
Tiere lassen wir die Haut nicht vermodern, sondern
heben sie auf, um sie eines Tages wieder anzulegen-
Man muss, sparsam sein, denn die Grillen können im
, Winter nicht singen. Erinnerungen nennen wir die
alten Häute — aber wir Iegen sie an, wie wir wollen.
Warum schreit Strindberg immer von seinem Schmerz
(den er unschuldig leiden muss)? Restif, der ein ähn-
liches Schicksal hatte, liebte die Frauen und dankte
ihnen für alles, was sie ihm gaben. Es war wenig
genug. Ist es ein Zufall, dass im „Monsieur Nicolas“
Seiten stehen, die Strindberg geschrieben und in der
„Beichte eines Toren“ Kapitel sind, die Restif verfasst
haben könnte? Die „Beichte eines Toren“ ist eine
Welt; eine Welt voll düsterer fleckiger Gestalten.
Höllenbreughel. Voll kalter Stürme und entsetzlicher
Regenschauer, voll Menschen, die gepeitscht durch Ein-
öden rasen und, schon verzweifelt, einem fernen Licht
nachgehen, obgleich sie an sein Leuchten nicht mehr
glauben. Ich kenne vieles von Strindberg, niemals aber
empfand ich seine einsame Grösse mehr. Wie Zyklopen-
hammer sausen die Worte herab, ein Vergleich mit

einem anderen Werke der Weltliteratur fehlt Denn
dieses Buch gehört der Weltliteratur an, wie Dantes
Inferno ihr angehört. Man kann es begreifen, dass
die baumwollenen schwedischen Protestanten sich lieber
den sanften Paul von Heyse aussuchen, um den Nobel-
preis loszuwerden, als dass sie Strindberg wählen. Dass
sie sich lieber den Magen mit Malzbonbonleim verkleistern,
der milde schmeckt, als durch Strindberg Revolutionen
erleben. Auch in Schweden gibt es Schutzleute —
und Nobel hat nur das Dynamit nicht das Pulver er-
funden.

R. K. Neumann

Die B eichte eines Toren erschien bei Georg Müller
München.

„Empfehlenswerte

Bücher“

Die „Insel“ war die erste deutsche Kulturzeitschrift
europäischen Stils. Ihr aufzeizender Hochmut verletzte
das deutsche Gemüt, ihr Kosmopolitismus rang völkischer
Begeisterung jähe Verachtung ab. Und dieses gute
Kulturgefühl gab ihr eine bestimmte Physiognomie, die
durch keines Reporters Behendigkeit entstellt wurde.
Und als sich ein Verlag um sie kristallisierte, behielt
er diesen abstandsuchenden Charakter durchaus, ja
vielleicht verlor er noch jenen penetranten Erdgeruch,
der den seligen Bierbaum an das heimatliche Wurst-
land band. Der „Insel“ hat das Bedürfnis nach einem
stilvollen Buchäusseren zu einer Angelegenheit des
täglichen Gebrauchs gemacht.

Die meisten Dichtungen, die im Aufstieg europäischer
Entw'icklung an entscheidender Stelle eingetreten sind,
hat der Insel-Verlag ihrem Reklam-Dasein entzogen.
Es ist nun so, dass man den Don Quixote lesen kann,
ohne von dem Gefühl historischen Abstands entfernt
zu werden, das die üblichen Ausgaben immer herauf-
beschworen. Mit innigem Vergnügen giebt man sich
dem behaglichen Tempo der Jrrfahrten des Gil Blas
hin, empfängt diese von fröhlicher Sichtbarkeit erfüllte
Prosa, ohne dass ein raffiniert verengter Druck die
willige Aufnahme stört. Und ich möchte das gute
Gefühl nicht entbehren, den Decameron in einer Form
zu besitzen, die der Grazie des Inhalts einfühlend sich
anpasst. Spartanische Seelen werden diese „Aeusser-
lichkeiten verachten“. Dafür aber werden sie als Vege-
tarier enden.

Doch das Schönste, was ich im Insel-Verlage ge-
funden habe, ist die Neuausgabe des jungen Goethe.
In der Folge des Entstehens reihen sich die ursprüng-
lichen Fassungen der Dichtungen aneineinder, die wir
meist in der Ueberarbeitung des Alters kennen. Aber
mit welch anderer Jugend, mit welch anderer Lebens-
energie tritt dieser brausende Mensch vor uns, der
in Flammen Iodern lässt, was seine Fingerspitzen be-
rühren. Man muss nicht durchaus Historiker sein, um
mit unabweisbarer Deutlichkeit zu fühlen, wie im Licht-
kreis dieser Seele alle überkommenen Dinge im neuen
Glanz zu strahlen beginnen, wie längst entleerte Formen
sich mit neuer Daseinskraft erfüllen. Und nie wird
man sich einem Dichter näher fühlen, als beim Lesen
dieser Prosa, die gleichsam den Eindruck eines privat
in der Hand gehaltenen Manuskriptes suggerieren. Man
erlebt das Beispiel eines dämonischen Aufstiegs, in dem
jede Etappe ein immer reicheres Ausströmen ritaler
Kräfte bedeutet — ein seliges Auflösen in der drama-
tischen Bewegtheit eines durch seine eigene Schwer-
kraft rasend dahinrollenden Lebens

Auf die gelehrte Bedeutung dieser Ausgabe einzu-
gehen liegt hier kein Grund vor. Es sei nur im Vor-
übergehen erwähnt, dass der Insel-Verlag für Heine
und Kleist, Lenau und Heinse eine würdige Form ge-
schaffen hat. Besonders sei nur die wunderschöne
Ausgabe des Heinseschen Petronius genannt; dieses
lasterhaftesten Werks der Weltliteratur, dem an epiku-
räischer Gelassenheit und Behagen am dekorativen
Reiz der Korruption nichts zu vergleichen ist.

Dieses gleiche antike Dasein spiegelt sich in
„Marius der Epikuräer“ dem reifsten Werke Walter
Paters. Ich weiss nicht in welchem Masse dieses
Werk in Deutschland Leser gefunden hat Ich glaube
auch nicht, dass preussische Nutzgehirne diese ruhige
ganz auf Ausdruck ihrer Inhalte bedachte Prosa
wachend überdauern. Aber ein Mensch, der den Be-
griff des Stils irgendwann einmal in seiner ganzen Be-
deutsamkeit erlebt hat, wird diesem Buch mit inniger

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