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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 43 (Dezember 1910)
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Scheerbart, Paul: Der Kaiser von Utopia, [3]: Ein Volksroman
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Benndorf, Friedrich Kurt: Vom lyrischem Idiom
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0347

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vom Kaiserreich Utopia wirtschaftlich losgeiöst waren —
so ging in Schilda bald Alles bergab, und die Lotte
Wiedewitt hatte ganz recht, als sie sagte:

„Die ganze Emanzipation vom Volksgeiste hat uns
bloss Jammer und Elend gebracht — und weiter Oar-
nichts — Qarnichts — Qarnichts.“

Herr Käseberg dachte, als er bei seiner Morgen-
zigarre den Schildaer Generalanzeiger durchblätterte,
gerade wieder über die Bedeutung des Volksgeistes
nach — da ward er durch Eilboten zum Oberbürger-
meister Wiedewitt gerufen

Herr Moritz Wiedewitt sass im Rathause mit Herrn
von Moellerkuchen zusammen; Käseberg und von
Moellerkuchen, die beide geheime Regierungssekretäre
waren, bildeten die rechte Hand des Oberbürgermeisters.
Und dieser setzte nun seinen Geheimen eifrigst ausein-
ander, wie es komme, dass in der Residenz alle Leute
dick und fett seien: Uniformen hätten sie alle — und
darum miisste ein „Allgemeiner Uniform-Verein fiir
Schilda und Umgegend“ gegründet werden. Ausser-
dem hätten die Ulaleipuaner sämtlich hochtrabende
Titel wie — Tambourmajor, Feldmarschall, Rechnungs-
rat, Kriegsminister, Professor, Kanzleivorsteher undso-
w-eiter — demnach miisste auch ein „Allgemeiner Titu-
lar-Verein fiir Schilda und Umgebung“ gegriindet werden.

Und Beides geschah, und abends war der General-
Anzeiger ganz voll von diesen beiden Griindungen.

Im Kaiserreich Utopia hatten sich die Titulaturen
im Lauie der Jahrhunderte sehr verändert; da es
Kriege und Heeresorganisationen eigentlich nicht mehr
gab, so waren die militärischen Titulaturen auf andere
friedliche Beschäftigungszweige iibergegangen — so
wurden die Agrikultur-Chemiker Feldmarschälle, die
Rechtanwälte Tambourmajors, die Standesbeamten Kriegs-
minister undsoweiter tituliert. Jedenfalls sollte der Titel
immer nur die Tätigkeit charakterisieren — und da war
oft aus Scherz Ernst geworden. Und nun wollten die
Schildbiirger wieder aus dem Ernste einen Scherz
machen; allerdings taten sie alles mit sauerer Miene,
dass sie schliesslich selbst nicht recht mussten, u'O ihr
Ernst aufhörte und ihr Scherz anfing.

Der Schildaer Generalanzeiger aber — der hatte
jetzt Stoff in Hiille und Fülle.

Und auch Philander der Siebente, der Kaiser von
Utopia, las von den neuen Griindungen - und er las
lange daran und er lächelte schliesslich sehr lange
und beriihrte zum Zeichen des Beifalls mit der Spitze
des linken Zeigefingers seine Nasenspitze — sehr lange
liess er diese beiden Spitzen zusammen.

VIII

Der Voiksgeist

An dem ersten Sonntag vormittag nach dem
Friihlingsfeste sass Philander in seinem grossen Biblio-
thekssale wie ein einfacher Privatmann ohne Greisen-
haar vor seinem zehn Meter breiten Schreibtisch und
las in der neuesten Ausgabe des utopianischen Kon-
versationslexikons unter „Volksgeist“ unter Anderem das
Folgende:

„Als es vor vier Jahrhunderten unter Kaiser Kasi-
mir dem Ersten modern wurde, den Volksgeist immer
höher einzuschätzen und ihm schliesslich eine göttliche
Verehrung entgegenzubringen, da dachte natürlich nie-
mand daran, die einfachen tierischen Instinkte eines
unentwickelten Volkes als göttliche Ang. legenheiten zu
bezeichnen und einzuschätzen. Ueberall — in den
ersten wie in den späteren Grundlagen unserer utopia-
nischen Religion, die dem Volksgeiste göttliche Ver-
ehrung entgegenbringt, wird der Volksgeist immer als
ein „Geist“ aufgefasst, der nicht bloss in dem Volke,
sondern auch über dem Volke lebt — gleichsam eine
ätherische Bildung, die Alles durchdringt und Allem
die Richtschnur gibt, ohne die Einzeleischeinungen in
in ihrem Individualisierungsbestreben wesentlich zu be-
hindern. Der von den Utopianern göttlich verehrte
Volksgeist ist im Grunde genommen ebenso gut ein un-
bekannter allmächtiger Gott — wie die gesamten
Götter der Vorzeit. Wir haben überall Volk und
Volksgeist als zwei wesentlich von einander unter-
schiedene Begriffe aufzufassen und zu behandeln.“

Philander hielt mit Lesen inne, schüttelte den Kopf
und telephonierte nach seinem Zeremonienmeister
Kawatko

Kawatko kam sofort, der Kaiser bot ihm eine Zi-
garre an und rauchte selber auch und zeigte dem
Kawatko einen Brief, den er an den Oberbürgermeister
von Schilda geschrieben hatte.

Kawatko las und lachte und sagte:

„Ja — willst Du denn den Schildbürgern wirklich
so heftig auf den Kopf hauen — bloss dafür, dass sie
einen Titularverein und einen Uniformverein gegründet
haben ?“

„Ich,“ erwiderte Phiiander, „habe etwas mehr mit
den Schildbürgern vor. Ich las hier im Konversations-
lexikon so viel vom Volksgeiste — und halte es doch
für sehr bemerkenswert, dass sich die Schildbürger so
kühn vom Volksgeiste emanzipierten, obgleich sie da-
durch doch bloss Kummer und Elend geerntet haben.“

Kawatko rauchte in langen Zügen und bemerkte
dann leise: „Willst Du vielleicht auch ein Schildbürger
werden?“

„Ich werde,“ versetzte Philander, „ein Jahr nicht
Kaiser sein — und da könnte sich Manches ereignen.“

Da sprang der Zeremonienmeister auf und drehte
sich sechsmal um sich selbst um schrie:

„Himmel! Wetter! Donner und Hagel! Ich sehe
Dich schon — Dich, den Kaiser von Utopia, den die
hundert besten Utopianer zu ihrem Kaiser machten —
Dich, der Du auch zu den hundert besten Utopianern
zählst — als Oberbürgermeister von Schilda — von
Schilda — die Sache kann lieblich werden — lieblich

— Iieblich.“

Philander stand auf und ging wortlos in seine
Privatgemächer; Kawatko starrte ihm wortlos nach und
fasste sich langsam an seinen alten Kopf.

IX

Die Priester

„Er hat was gegen uns!“ sagte der Oberpriester
Schamawi.

„Er hat was gegen uns!“ sagten bald alle Priester
in Ulaleipu — aber sie sagtens leise und unter ein-
ander, wenn kein Laie dabei war.

Und der „Er“ war Philander der Siebente, Kaiser
von Utopia; der Zeremonienmeister Kawatko hatte von
der Audienz mit dem offenen Konversationslexikon —
so bestimmte Andeutungen gemacht, dass die gesamte
Priesterschaft in grosse Erregung geriet — und Scha-
mawi wurde aufgefordert, mit Klugheit und mit List im
Interesse der Priesterschaft vorzugehen.

Schamawi war ein alter Onkel des Kaisers und
auch ein aiter Oberpriester, der die Gemüter - ■ auch
die erregten — zu lenken verstand.

Nicht ohne Ironie sagte er da lächend:

„Meine Herren, wir sind lange Zeit zu sorglos gewesen.
Es hat sich in der Tat im Lauf der Zeit die Meinung
gebildet, dass das Volk dem grossen Volksgeiste immer
näher gekommen sei, und dass diese Annäherung
schliesslich eine Verschmelzung hervorrufen dürfte.
Schliesslich klingt es nicht mehr so unsinnig, wenn
Jemand behaupten möchte, wir beten das Volk an und
nicht den Volksgeist. Und das ist es, was mein Neffe
uns Priestern in die Schuhe schieben will. Wir haben
sehr vorsichtig zu sein. Und wir müssen einsehen,
dass wir viel versäumt haben — die Rechtspflege
durfte nicht ein so populäres Gepräge bekommen —
das hätten wir rechtzeitig verhüten müssen.“

Und dann sprach man über die Rechtspflege im
Allgemeinen und im Besonderen.

' Die Rechtspflege lag nun so im Kaiserreiche
Utopia:

jeder Prozess wurde nicht mehr endgiltig durch
die Richter bestimmt — es gab immer noch eine Be-
rufung an das Volk. Auf Staatskosten wurde jeder
Prozess, sobald es von einem Kläger oder Beklagten
verlangt wurde, in einer Broschüre eingehend geschil-
dert — diese Broschüren wurden dann gratis verteilt

— und dann konnte nach einer neuen Prozessordnung
sthliesslich das Volk in der Sache das endgiltige Urteil
sprechen. In der grossen Rechts-Zentrale am Schwantu-
fluss standen sieben kolossale hundert Stock hohe
Türme, in denen die juristischen Broschüren verfasst
wurden — und da konnte man leicht erkennen, wie
heftig das Volk im Lande Utopia mitsprechen durfte --
in allen Angelegenheiten.

Und die Priester in Ulaleipu, die den grossen Geist
anbeteten, der in unserem Leben die entscheidende
Führung hat, begannen traurig zu werden, dass sie
diesen grossen Geist gerade „Volksgeist“ nennen
mussten; das gab immer wieder zu Missverständnissen
Veranlassung.

Und der Kaiser von Utopia sagte zu Kawatko am
Sonntag Nachmittag:

„Ich bemerke, dass gerade die Priester versäum
haben, Volk und Volksgeist deutlich von einander zu
trennen — es wird ihnen heute garnicht mehr gelingen
diese beiden Begriffe voneinander loszulösen. Und,
daher bin ich geneigt, mich vom Volke zu befreient
und ich gestehe, dass ich mich auch vom Volksgeiste
befreien möchte — und das ganz besonders dürfte
den Priestern unangenehm sein.“

Und das war auch den Priestern sehr unangenehm.

Fortsetzung folgt

Vom lyrischen Idiom

Von Friedrich Kurt Benndorf

Obwohl die lyrische Dichtersprache ilire Ausdrucks-
mittel mit der Prosasprache teiit, ist sie doch von
dieser beinahe ebensoweit entfernt, wie die Sprache
der Töne, Farben oder Linien von der Wortsprache.
Sie hat ihre eigene (aus einer Logik der Phantasie
hervorgehende) Bildlichkeit (Methaphorik) ihre eigene
Klanglichkeit (Melodik), ihre eigene Wortbewegung
(Rhythmik) und ihr eigenes Tempo. Sie ist ein Idiom.

Die potenzierte Bildiichkeit, duch die sich das
lyrische Idiom von der konventionellen Sprache haupt-
sächlich unterscheidet, bedeutet für den Lyriker nicht
eine blosse Erhöhung ornamentaler Reize, sondern ist
innere Notwendigkeit seines Schaffens. Was die
Theoretiker der Poesie etwa unterTrope, Personifikation,
Epitheton ornans begreifen, ist ihm kein blosser „Rede-
schmuck“, sondern unmittelbare Anschauungsform,

Was die Poetiker „Figur“ getauft haben wie
Anaphora, Polysyndeton, Onomatopöie gehört, ebenso
wie Assonanz, Ailiteration, Reim und Refrain, zur
potenzierten Klanglichkeit des lyrischen Idioms.

Was die Poetik als Inversion, Ellipse etcetera be-
zeichnet und desgleichen jene Freiheit des Wortgefüges,
welche die Griechen äxa;(a und die Franzosen beau
desordre nennen, ist Bestandteil des differenzierten lyri-
schen Rhythmus, der seinerseits an ein metrisches Schema
(einen „äusseren“ Rhythmus), gebunden oder ohne ein
solches selbständig sein kann (der plastische und der
musikalische Rhythmus)

Bild, Klang und Rhythmus — ins Sinnlichere hinaus-
gesteigert über das in der Prosasprache schon Ge-
gebene — sind im lyrischen Kunstwerk eine völlig
untrennbare Einheit, wie in der Musik Melodie, Harmonie
und Rhythmus.

*

Es ist versifizierte Prosa, wenn Goethe sagt:

Hafis Dichterzüge, sie bezeichnen
ausgemachte Wahrheit unauslöschlich,
aber hie und da auch Kleinigkeiten
ausserhalb der Grenze des Gesetzes . . .

Dagegen ist es von Gnaden des lyrischen Urtons,
wenn derselbe Goethe „singt“:

Wen du nicht verlässest, Genius,
nicht der Regen, nicht der Sturm
haucht ihm Schauer übers Herz —

Viele Gedichte erheben sich — unbeschadet ihrer
sonstigen Bedeutung — nur stellenweise zum Niveau
des lyrischen Idioms und sind im übrigen metrisch
arrangierte Prosa. Zu dieser Halblyrik gehört die
Mehrzahl der erzählenden Gedichte (Balladen, Romanzen)
und der grösste Teil der Reflexionspoesie.

Und ebenso gibt es zahlreiche Gedichte, die nur
die lyrische Gebärde haben: — nur die äusseren
Mittel des Metrums und des Reims verwenden und
sich mit der Bildlichkeit der Prosa begnügen oder doch
nur die schon Gemeingut gewordene poetische Bild-
lichkeit wiederholen. Beispiele für diese Scheinlyrik
lassen sich in unsern „Familienblättern“ leicht auffinden

Anderseits trifft man in erzählenden und dramatischen
Werken häufig auf Stellen, die dem lyrischen Idiom
mehr oder weniger zugehören. Als Beispiel aus der
epischen Literatur diene ein „Leitmotiv“ (eine Ar
Refrain) in dem Novellenband „Tristan“ von Thomas
Mann, das wenigstens seinem rhythmischen Charakter
nach ausserhalb der Prosasprache steht:

„ — er wartete, dass sie kommen möge. Aber
sie kam keines Weges. Dergleichen
geschah nicht auf Erden.“

Aus der dramatischen Dichtung sei ein Frag-
ment der Szene in Kleists „Hermannsschlacht“ zitiert,
wo der römische Legat, an dem die hintergangene

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