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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 26 (August 1910)
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Ehrenstein, Albert: Der Fluch des Magiers Anateiresiotidas
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Blümner, Rudolf: Frank Wedekind als Ästhetiker, [2]: Kritik seines Glossariums 'Schauspielkunst'
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0209

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Kein besserer Zauberer hat so viel 1 Zeit und Geduld,
seine eigenen Reden anzuhören. Und jetzt kam der
Fluth: „Von nun an werden alle Kinder aus dem
Hause Sirvermoor, je iiadh dem Geschlecht, mit dem
Dinge oder Wesen, das jh'rem Vater oder ihrer
Mutter am liebsten ist, zur Welt kommen. Bis einst
ein Jurist erscheint, dessen Namen dieselben Buch-
staben wie „Sirvermor“ besitzt, und nicht _genug an
dem: ohne das geringste Piagiat ein Buch iiber
Rethtsphilbsophie schreibt!“

„Wer gibt?“ fragte guter Laune der König,
dessen geheimer Gram es l'ängst war, daß justa-
ment auf seinem Stamm kein vornehmer Erbfluchl
Iag. Und ehe noch die Sprechwerkzeuge des Ana-
teireslotidas aus dem Spiefzimmer jlirem Lnhaber
nachgeflbgen waren, gab eS bereits ein Solovalat-
pagatultimo, wie er in solcher Schönheit ohnstreitig
noch nie dagewesen war. Das hatten die anderen
Zauberer getan, um den König zu trösten.

Denn eines Trostes bedurfte Haus Sirvermor.
Da doch' gemeinhin die Männer die Frauen am
liebsten haben und umgekehrt — wenn wenigstens,
jenem Fluche nach, Hermaphroditen zur Welt ge-
kommen wären! Die Dynastie hätte zwar zum
längsten bestanden, aber Skandal, durch Jahr-
hunderte fortgesetzter Skandal 1 wäre vermieden
worden. Nein, deutüch getrennt von dem jeweiligen
Kinde und für sich bestehend, stieg das dem Vater
oder der Mutter geliebteste Ding oder Wesen ans
Tageslicht.

Wo sofl ich anfangen, wo soll ich enden! Mit
dir, Dofgoruki, dem sein Weib außer einem Nach'-
fofger eine ewig volle Kognakflasche gebar? Solches,
wäre l'ustig anzuhören, aber wem geraten nicht
unwillkürlich die Tränen in die Augen, wenn er
von dir vernimmt, Seehel'd Aquavit? Wohl wurde
dir deinem WunsCh' gemäß ein Ueberdreadnought
gesthenkt, aber starb nicht dein Weib daran, ohne
daß ein anderes sich hätte finden lässen, todes-
verachtend genug, bald oder später ein ähnliches
Ende nehmen zu woflen? Trotzdem dein Reidh'
größer war, a!S selbst das des Sultans von Babylon ?
Starbst nicht bald hernadi du selbst infolgedessen
an Leibschnciden und Weltschmerzcn, die ein räu-
diger Journafist prosaischer: „Langeweile“ zu nennen
sich' unterfing, blbß weil keiner deiner ungesChickten
Ingenieure im stande war, Weibautomaten zu fabri-
zieren. Aflerdings 1 gelang nicht lange darauf deinem
Leiberfinder Heureka die Herstellung jenes Instru-
mentes, dem wir afle unser Leben verdanken, die
Hersteflung des Fernzeugers. Doch waren damit die,
Leiden dieser TantaÜden abgeschlossen ? Panji-
mama, unter dessen glbrreicher Regierung Apabauru
und Tenteriki an Sirvermor kamen, gerieteben wegen
dieser für den Ackerbäu seines Landes äußerst wich-
tigen Guanoplätzen in Streit mit dem Oberkaiser
Adikran von Afazir und den Zentralkönigen von
Lygien. Al!s gar zu dieser an sichi übermächtigeni
Liga Araumenes der Große Von Paphfagonien seine
sieggewohnten Truppen stoßen liieß, und die Kundei
schrecklicher Gefahren in SiiVermor sich wie Po-
saunenschaü und Tubaklang ergoß, was konnte da
der verzweifefte LandesVater anderes tun, als sein
Weib eines mit den erforderlichen Kanonen und
Vorräten ausgerüsteten Heeres Von sovief Millionen
Mann genesen zu lassen. Sogar Rabelais schüttelte
darüber sein weises Haupt und gab den heirats-
fähigen Königstöchtern der Erde den Rat, bevor
sie sich mit Prinzen von Sirvermor in Verbindungen
einließen, den Herren einen Eid abzunehinen, laut
dem diese in Zukunft von derart gattinnenmörde-
rischen Liebhabereien abzusehen hätten. Und als
einem Herrscher, der wie es scheint, sich selbst am
meisten Iiebte, die Gemahlin einen Doppelgänger ge-
tragen hatte, worauf bemeldeter Monarch elendig
in Wahnsinn verfief, unwissend, wen er am meisten
liebe und welcher der beiden eigentlich er sei; ein
andermal ein in sich verzüCktes Liebespaar ein Dop-
pefgänger-Liebespaar hervorrief, was unendlichen
Jammer und blutige Bürgerkriege erregte — da,
von Grauen überwältigt, bildeten die Fürstinnen den
ihnen anempfohlenen Trust. Das wird ihnen nie-
mand verargen, der es' sich' ins Gedächtnis zurück-
ruft, daß neben dem jeweife Regierenden in Sirver-
mor auch eine Menge Prinzen existierten. Und wie
bäfd zarte Prinzessinnen es müde werden, Ballett-
ratten, Voflblutrennpferde, Küchenchefs, Aebtis-
sinnen und Jagdhunde in die Welt zu setzen, das
läßt sich denken. Waren nun zwar die Prinzes-
sinnen vor einem durch die Neigungen ihrer Ge-
sponsen bewirkten frühen Tode sicher, so hätten
nach dem Vertrag ilire Gebietiger den Leidenskelch

bis zur Neige zu feeren. Wenn dies nicht früher der
Fall gewesen war, lag das an dem: die Gemahl-
innen derer von Sirvermor bfieben den Männern
merkwürdigerweise immer genau eine Sothisperiode!
läng treu, dann waren sie wieder untreu. Und der
gesetzmäßige Uinschwung trat zufällig erst jetzt'
ein, also daß jenes von einem hbchweisen und vor-
sichtigen Rate erlassene Verbot, betreffend Ehen
zwisclien den Operntänzerinnen männücherseits und
etwa zu erwartenden Stierkärnpfern weibficherseits:
dieses sogleich nach dem Fluche angeschlagene Ver-
bot fand dergestaft gar keine Gelegenhfeit in Kraft 1
und Wirkung zu treten.

Vorerst war keine Veränderung bemerkbar. Auf
dein Throne saß gerade Frau Ordilschnut, die Ur-
großmutter Jezaidens und Schwester der berühm-
teren Ordifgund von Undulur, ein Mägdlein annoCh,
so unschuldig, daß sie außer einem Töchterlein
nainens Bamafip nur einer Puppe das Leben
schenkte, worüber sich der ganze Hof vor Lachen
fast aussChütten wollte. Das zweitemal — ich will
nicht fügen — kam sie mit einem Mops und Zwil-
fingen nieder, die jenem Töchterchen Bamalip aus
der Massen ähnfiCh sahen. Man nannte sie daher
auch Barbara und Fresäpo, und alle drei spielten,
wie man weiß, in der sirvermorsdhen GesChichte
nachmalen eine außerordentliche Rolle. Ihr Gatte
war ein in der Räudierkammer der Zeit früh grau
und faltig gewordener Herr in den kalten Vier-
zigern, den sie niCht lieben konnte und der durchaus
und eigensiinnig noch' selbst etwas für die Thron-
fofge tun wollte. Als er die junge Königin in Armen
hieft, klammerte sich die Bedauernswerte, schau-
dernd wie vor dem Töde, in der Angst an das
wenige Liebe, das sie besaß, an ihr Töchterchenl
Bamalip und etwann noch' einen kleinen Mops, der
sie in ihrer Einsamkeit zerstreut hatte. Afs Aspra-
mont die Zeichen der Käfte seiner Lebensgefährtin
sah, die Kinder, deren Mutter sozusagen auch Ba-
malip war, schlug er ob dieser BfutsChande die
Hände über dem Kopfe zusammen, ja, erhätte 1 Ordif-
schnut verstoßen, wenn nicht eine letzte Ueber-
fegung für sie, die doclh! noch ein Kind war, ge-
sproChen hätte. Und so zog er denn in den Krieg
wider die Orilanen, Menschen, denen der Bart auf
der Nase entkeimt, und die sehr sonderbare Speise-
gesetze haben — gebratene Eidechsen essen sie
unter keinen Umständen, Sauerkraut mit Leberwurst
hingegen ist ihnen erwünscht.

Nachl Beendigung der über diese Leute ver-
hängten Züchtigung, auf dem Rückwege, geriet As-
pramont — wenn die sirvermorischen Annafen nicht
trügen — mit den Suftanen von Marabu und Talili
in einen Kampf um die WeltherrsChaft, und die
Heimkehr verzögerte sic'h dadurch. Inmitten des
gewaltigen Schlachtenlärmes 1 hatte man es wenig
beachtet, daß die Königin gfücklich von einem Eu-
nucheii entbunden wurde. Dies hätte eine Warnung
sein soflen, war es aber niCht. Wie denn in geheim-
nisvoll alten Büchern zu lesen ist: Leute, denen
das Schicksaf bevorsteht, vom Blitze getroffen zu
werden, haben kurze Zeit vorher sö stumpfe Sinne,
daß sie den Donnerschfag, ja einen noch stärkeren
Hall nicht Vernehmen, wäh'rend andererseits selbst
vernunftlosC Wesen, wenn das WetterleuChten na-
hender Gefahren am Himmef aufzuckt, ahnend die
Vorzeichen der Götter beherzigen und das tiefste
Stillschweigen zu bewahren pflegen, was nachste-
hende, sehr bekannte Tatsac'he beweisen mag. Wenn
nämlich die Gänse der Hitze wegen den Orient ver-
lässen häben, und auf ihrem Zuge nach dem Abend-
lande zu Gebirgen gekommen sind, wo es Adler
in Menge gibt, nehtnen sie aus Furcht vor diesen
mächtigen Vögeln Steinchen in den Schnabel, da-
init ihnen selbst der dringendste Notfall keinen
Laut zu entfocken vermöge; sö sie aber das Gebirge
in beschleunigtem Fluge hinter sich haben, lassen
sie die Steinchen fallen und setzen ihre Wanderung
nun in Sich’erheit färmend fort. Nicht alsö Ordil-
schnut. Sie ergab sich einem ungezügelten Lebens-
wandel’; eine Liebelei mit dem Prinzen Karfiol Von
der Mondscheinküste bÜeb nicht die einzige, die
Leute vom Hofstaat wagten keine Vorsteflungen zu
machen, die Königin alfe die Höherstehende be-
trachtend, weif nicht sie durCh einen Eid zur Ent-
sagung verurteilt war, sondern der Gatte.

Die kurze Pause eines mittlerweile eingetretenen
Waffenstiflstandes benützend, um an das abermalige
erfreuliche Wochenbett der geliebten Gemahlin zu
eilen, welche Ueberraschungen wurden da dem
guten, alten Aspraniont zu teil. ReitkneChte, Tenore,
Schwergewichtsathleten, Chauffeure, französische

Sprachlehrer! Und sö oft der besorgte Gatte: „Halt
ein“ oder strenger: „Jetzt aber Schfuß“ rufen wollte,
kam noch irgend ein Kaminfeger, Leutnant, Fl’eisCh-
hacker oder Kammerdiener zum Vorschein, bis er
die Hand, die Schwertesschwere, wider die Pfficht-
vergessene erhob und zustieß. Fiel aber dann selbst
im Duefl mit detn Leutnant...

Es wird niemanden Wunder nehmen, wenn,
durch so entsetzfiche Ereignisse in höchstem Grade
beunruhigt, geradezu außer Atem infolge wieder-
hoft eintretender ähnliCher Vorfälle, die immerhin
nicht so drastisch, weil' sie auf die Hervorbringung
eines einzelnen Jünglings beschränkt büeben, doch
nicht ohne einige Mitwirkung höchstgeborener Prin-
zessinnen von statten gingen, ich' sage, es wird nie-
manden Wunder nehmen, wenn eine föbüche Prie-
sterschaft von Sirvermor da sich ins Mittef zu legen
beschloß. Waren doCh an diesen Begebenheiten
Weltgesetze zuschanden geworden, vor allem jenes
eine, gefaßt in das weiseste Wahrwort, welches je
über die Lippen eines Lateiners kam: Pater semper
incertus.

Außerdem waren die Privifegien der Gottes-
diener durCh die bei den Gesandtschaften tätigen
Ausländer Iädiert worden, deren mangels Einhei-
misCher, Ordischnut sich’ zur Befriedigung ihrer
Lüste bedient hatte. Sirvermor nämliCh p;ehört zu
den Ländern, wo, den Satzungen der Refigion ent-
sprechend, die Prinzen des königfichen Hauses aus-
genommen, die Epheben sich kastrieren, und die
Fortpffanzung auf eine wunderbare Weise durch die
Priester der Göttin Kibla bewerkstelligt wird.

Schluss folgt

Frank Wedekind als Ästhetiker
Kritik seines Glossariums
,Schauspielkunst‘

Von Rudolf Bliimnar

Schlnss

Herbert Eufenberg

Fiir „LeidensChäft“, Drama von Herbert Eulen-
berg, wird eine (morsChe) Lanze gebrochen. Das
Stück ist noCb überafl, wie ich mir sdhmeichle,
sogar unter meiner Regie, durChgefallen und Eulen-
bergs übrige Dramen haben, trotz Hardens „regster
Anteilnahme“ und jahrelangem Geschrei der Eulen-
berg-Entdecker, das gleiche Geschick erduldet, was
natürlich an sich weder für noch gegen die Qualität
der Dramen sprecben würde. Eufenberg war stets
der Typus des Epigonen und Eklektikers. Er be-
gnügt sich niCht, historische Dramen zu schreiben,
sondern datiert auch' seine ßigene Autorschaft um
fünfzig oder sechzig Jahre zurück. Und was bei ihm
niCh'ts afe Niederschlag der Lektüre aller deutsChen
Dramatiker ist, das häften die urteilslosen Eulen-
bergschreier für Originalität und wenn es bei Eulen-
berg Von angefesenen geschmacklosen und unsinni-
gen BilÖern wimmelt, jauChzen sie über die herrliche
poetische Sprache. Freilich immer nur bis zur Auf-
iührung, die es selbst den Kritiklosesten klar macht,
daß diese „ewige Hoffnung“ höffnungslbs ist. Nur
die Theaterdirektoren kommen noch immer nicht zur
Raison. Sie wissen liängst, daß mit Eulenberg nichts
zu verdienen ist, häften es aber füreine EhrenpfliCht,
sich von Zeit zu Zeit einen Durchfafl seiner Dramen
zu leisten.

Albert Steinrück

Neue Lanze, diesmaf für einen Schauspieler,
Albert Steinrü<±. Der hät es Wedekind ganz be-
sonders afe Gabriel Borkmann und Baumeister
SolneSS angetan. Also doch Ibsen. Aber vorher
meinte Wedekind, Ibäen zu spielCn, seieine Bagatelle.

Nun, ich kenne kein halbes Dutzend SChau-
spieler, die Ibsen spielen können. Und Steinrück
stammt aus der Zeit des Naturafismus. Durch
Schillerspielerei wäre er eben nicht der gute Schau-
spieler geworden.

D i e U n f e h 1 b a r e n

Neues Schimpfen auf Naturaüsmus und Presse.
Wedekind scheint nie Berfiner Zeitungen zu lesen.
Sonst wüßte er, daß die Herren von der Tages-
presse noch immer gläuben, wir Ieben in der Zeit
des krassen Naturaüsmus 1. Sonst wüßte er, daß
die Journalisten und er ein ästhetisches Herz und
eine kritisChe Secte sind. Genau wie er, sChimpfen

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