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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 14 (Juni 1910)
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Döblin, Alfred: Gespräche mit Kalypso, [10]: Ueber die Musik
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Werner, B: Prinzipien moderner Therapie
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Russisches Ballette
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Walden, Herwarth: Schwanensang
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0113

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^ un, laß uns näher an den Schlag fahren; die Wellen
jnöchte ich an den Füßen spüren. Mir ist heiß und
kalt. — So herrschsiichtig ist Deine Musik. Odei
So umarmend liebevoll. Ich trieb Musik immer
Sern, aber ich war ahnungslos bis heut, mit wem ich
jj a Umgang pflog.
f^usiker;
j-uß uns hier halten.

^ u s i k e r :

^alypso?

^ a 1 y P s o :

1J*e Liebe und Umarmung der Musik?
p u s i k e r :

lch will Dir von dem Ding an sich der Musik er-
zählen, von den Eigenwertigkeiten erzählen, die in
äie Musik eingehen, und von der Beziehung der
^iusik zu der Wirklichkeit. — Wir haben einen so
Sanften Abend. Laß uns sehen, daß wir uns zurecht
hnden. — Als wir damals auf dem Meere fuhren
Und an die Riesenwanderin dachten, die mit nackten
^üßen und schleppendem Gewande über das Meer
2°g, Schwalben von unseren Masten und Segeln
Uufscheuchte, daß ein Jauchzen und Heulen in der
f-uft stand, wundertest Du Dich über manches, was
’°h sagte, und Du verstandest den Nutzen meinei
Uetrachtungen nicht.

^ a 1 y p s o :

^h, das Pärchen.
m u s i k e r :

*~s spricht sich leicht aus, daß die Musik und was in
s*e eingeht, zweierlei ist, vielleicht: Musik und ihr
”Stoff“, oder sachliche Musik und Tonballast, oder
h*ieb und Beute, — doch denkt es sich schwer.
•* ene Musikfreunde, die so sprechen, erlnnern mich
an Anatomen, die den Menschen zu kennen glauben,
Weil sie seine Muskeln und Adern trennen und be-
° ennen können. Du verzeihst mir; die Leichen-
heschauer und Totengräber der Musik wissen
njcht, was sie wissen. Laß mich Dir sagen: diese
e*genschöne, reine Musik ist mehr als tot, lst un-
Wirklich, erdacht; das Fremdwillige, aus der
^irklichkeit Stammende, das auch unter der Wir-
hung jener Ton- und Zeitsatzung steht, ist die
V'irkliche Musik. Nicht jene himmlische Musik lebt,
s°ndern die geordnete Wirklichkeit der Töne.

^n der Welt eines großen Denkers treten gestaltende
hormgesetze und ihr Stoff auseinander, und der
stoff erscheint nur gestaltet, so daß ntan auf
Sein Vorhandensein nur schließen kann; das sinnlich
Uestaltete hat alle und alleinige Wirklichkeit; das
Uing an sich aber bleibt vielleicht ein notwendig zu
äenkender Begriff. Und so auch in der Musik: es
s*nd nicht zwei fremde Gewalten, die in ihr kämpfen
°üer paktieren; sondern viele Bestimmungen,
^utzung, — welches Bestimmungen sind am Ton-
stoff. Der blöde, weil außermusikalische, eigen-
^ertige Stoff, von dem ich bald sprechen will, er-
Scheint als Kunst, als Musik, wo er sich in der ge-
Setzten Weise ordnet. Die Musik ist nicht ohne
ä*n; ohne ihn ist sie ein Gedankending. Etwas
anderes, Kalypso, ist Vorbild aber, etwas
anderes Gesetz.

Jjj a 1 y p s o :

*jjun, laß hören Deine blöden Eigenwertigkeiten.

^ u s i k e r :

Uh fürchte zwar, wir sind uns noch nicht begegnet.
^°ch meinetwegen. Du kennst sie ja, Du nanntest
s' e ja, die Kämpfe der Helden, die Schreie, die
•Jngden, die grausigen Schicksale. Der Künstler ist
lr* der Welt, ein Teilchen der Welt; sein wunsch-
vpllstes Sinnen und Sehnen durchbricht diese Welt
üicht; es ist derselbe Mensch, der lebt, ißt, trinkt,
s*ch müht und lacht; und der musiziert. Die Er-
hlärung aller Musik fließt aus dem Musiker. Sein
(reist bindet so die Töne zusammen, wie er dieFolgen
^it Wirklichkeitswerten überlastet. Darum handelt
° s sich in jeder Kunst auch mehr oder weniger um
^iederholung eines Weltablaufs. Nun aber ist es
anmöglich, ein Ding wahrhaft zu wiederholen, wie
*-*u begreifst; dieses Ziel bleibt jeder Nachahmung
versagt. Am nächsten der Weltwirklichkeit steht
ri°ch jene Nachahmung, die sich mit allem Schein
Wirklichkeit belädt, sich der Körperlichkeit,
üer Bewegung, vielleicht auch des Tönens bedient,
ürn als Abbild jenes Vorbildes zu gelten, — die
äramatische Kunst des Theaters, der Tanz, die
J'Untomime; schon weiter ab verliert sich die Bild-
hauerkunst, die des Lebens, des Tönens, meist auch
jj er Farbe entraten muß; noch weiter die wirklich-
heitsgetreue Musik, welche naturalistisch heißen

mag, die aber der Körperlichkeit, der Farbe ent-
behrt. Diese Künste nähern sich einer Ver-
doppelung an; ich will sie Nachformungen nennen;
sie sind unter diesem Gesichtswinkel wohl die
niedrigsten Künste. — Die Bestimmtheit dieser
Künste, oder bequem umschrieben, die Mittel, mit
denen sie arbeiten, gestatten ihnen die Wirklich-
keitsnähe. — Unvergleichbar schon mit jeder Wirk-
lichkeit ist das gemalte Bild. Es gibt keinen sol-
chen Querschnitt, solchen Flächenschnitt durch die
Welt, wie ihn die Leinwand verlangen müßte; hier,
wo der Weg zur Nachformung von vornherein ver-
sperrt ist, erhebt sich der Zwang zu Kunst im
engeren Verstande, zur Erfindung eigener Ersatz-
mittel. Scheinbildungen werden hier erzeugt. —
Sie geben einen Henkel in die Hand und bitten, die
Vase mit der Blume hinzu zu denken. Schließlich
wird die meiste Musik, das geordnete Tönen, selbst
hierzu versagen; was Musik an ihr ist, die Ordnung
und Wertung der Töne, bewirkt dies. Sie wird
ernsthaft nicht einmal den Versuch zu einer Schein-
bildung machen und sich ganz an Neubildungen be-
gnügen, oder gar stolz damit tun; gebärdet sich als
Auftakt der Schöpfung. Wenngleich in diesen Neu-
bildungen in vielfacher Wandlung und Maskierung
noch die Wirklichkeit sich hervordrängt, und so
Umbildungen erscheinen, oder Stellvertretungen
der Wirklichkeit. —

Schluss dcs siebenten Gespräches in Nummer 15

Prinzipien moderner
Therapie

Von Dr. B. Werner

Die gegenwärtige Medizin wird in ihren Inter-
essen, Arbeiten und Publikationen völlig beherrscht
von der Serologie, das ist der Lehre von dem Blute
respektive dem Blutserum. Die pathologische Ana-
tomie, welclie unter "virchow glorifizierte, ist zurück-
getreten; die mikroskopische Betrachtung der Zellen
hat nicht weiter geführt, wie die Zellularpathologie
sich rasch verzettelte in vieler unwesentlicher Klein-
atbeit, erschöpfte sich die Bakteriologie. Es stehen
zwar noch wichtige Entdeckungen aus: die Züch-
tung des Syphiliserregers ist noch nicht gelungen, die
Auffindung des Erregers der Masern, des Scharlachs
noch nicht geglückt; aber diesem Gebiet fehlt an-
scheinend die Zukunft und fruchtbare Gedanken.

Die Serologie befaßt sich mit der Untersuchung
der Wirksamkeit eingeführter Bakterien und Gift-
stoffe im Organismus, soweit diese Fremdkörper
Serumveränderungen machen. Die Medizin bemüht
sich, die so gewonnenen Erfahrungen für die
Therapie dienstbar zu machen; und ein Hauptzug
der gegenwärtigen Therapie ist, dieselben Wege in
der Heilung zu gehen, wie die Natur, der Organis-
mus selbst. Sie sucht dem Körper mit denselben
Stoffen zu helfen, mittels derer er sich der Giftstoffe
erwehrt. Der Serologe findet im Blute vieler In-
fektionskranker Stoffe, die man als Gegengift auf-
fassen kann und die der Gesunde nicht hat,
spezifische Stoffe, welche wesentlich in der Milz
und im Knochenmark erzeugt werden. Diese Stoffe
neutralisieren die zugehörigen Giftstoffe, lähmen
und lösen die zugehörigen Bakterien auf. Man ge-
winnt also aus großen Tieren, die man systematisch
mit den Krankheitsstoffen behandelt, hochwertige
Gegengifte, Sera für vielerlei Infektionskrankheiten,
welche heilende Wirkung auf die zugehörige Krank-
heit nach ihrer Einverleibung ausüben. Der Krank-
heitserreger ist in manchen Fällen ein lebendes
Bakterium, in manchen sind es seine Zerfalls-
produkte und toten Leiber, in manchen ein abge-
sondertes Gift. Solche Heilform kennen wir bei
Diphtherie, Genickstarre, Typhus, manchen Tier-
krankheiten.

Vorbeugend und heilend kann man den
Schutzkörper im Organismus erzeugen, indem
man mit vorsichtigen kleinen Dosen des Krankheits-
stoffes den Organismus zur kräftigen Produktion
des Heilstoffes anregt, ohne selbst stärkere Krank-
heit hervorzurufen (Wrights Vaccinbehandlung,
Kochs Tuberkulintherapie, Pockenimpfung).

Hier geht die Therapie indirekt gegen die Krank-
heit vor, indem sie sich vom Organismus den
Schutz- und Heilstoff verschafft. Direkt greift sie
die Krankheit dann an, wenn sie einen gegebenen
Stoff chemischer Art nimmt und mit ihm den Krank-
heitserreger vernichtet. Die Antisepsis arbeitet seit
ihrem Beginn derart, daß sie die oberflächlich

liegenden Keime mit Desinficientien abtötet; gegen
die Eingeweidewürmer geht man ähnlich vor.
Schwer angreifbar sind aber die im Blut und in
den Geweben bei den Infektionskrankheiten aufge-
speicherten Bakterien, weil ihre Vernichtung mit
schweren Desinficientien auch die Vernichtung des
Organismus nach sich ziehen muß. Ehrlich in Frank-
furt am Main nennt die Therapie, welche eine un-
schädliche direkte chemische Abtötung der Krank-
heitsstoffe im Körper bezweckt, Chemotherapie und
therapia magna sterilisans. Durch ein- oder mehr-
malige Einspritzung bestimmter chemischer Sub-
stanzen sollen die Krankheitserreger ein- für allemal
ohne Schädigung des Körpers vernichtet, die Krank-
heiten geheilt werden. Die experimentellen Ver-
suche und die tatsächlichen Heilresultate bei dieser
Methode sind sehr vielversprechend. Hauptsächlich
Trypanosomenkrankheiten. Syphilis, Rückfallfieber
sind studiert. Bei Rückfallfieber sind schon einige
Stunden nach Infektion einer Arsenverbindung keine
Bakterien mehr im Blut zu finden.

Diese beiden Prinzipien also, die der Serum-
therapie und der Chemotherapie, stellen die Grund-
lage moderner rationeller Heilbemühung dar.

Russisches Ballett

Im Vestibül des Theaters des Westens stand
als Vertreter der russischen Regierung Herr
Barchan oder Barches, der eigens aus dem Cafe
des Westens herbeigereist war, aus welchem er
Petersburger Briefe an das Berliner Tageblatt
schreibt. Ich verneigte mich vor seinem Schatten,
ging in den dritten Rang. Dies ist sehr hoch; ich
konnte aber nicht höher kommen. Im Haus saßen
viele Menschen; sie lobten laut die russischen Zu-
stände auf der Bühne, so daß ich sehr gespannt war.

Kleopatra, Sylphiden und eine Nationaltanz-
serie gab es. Eins immer schöner als das andere;
ich lüge Sie nicht an. Die greisenhaften Dinge des
Berüner Hofballets vergaß ich gern; man läßt dort
aus Achtung vcr c*er Tradition Damen aus den
Freiheitskriegen tanzen, ciie zu allgemeiner Freude
noch gut auf dem Posten sind. Unter Hern F o -
kine ein hohes Tanzniveau. Prächtige GeStaneiTT -
junge Gesichter, persönliche heiße Temperamente.
Pantomime wie bei uns: gelingt nicht, gar nicht.
Wundervolle Gruppen, die sich lösten und
schlossen; oft schien es mir gesehene Musik. Gute,
nicht zu viele tänzerische Einfälle. Ich war sehr
froh über alles, was ich sah. Mögen die Russen oft
wiederkommen. Aber Herrn Barchent im Cafe des
Westens lassen. R. R.

Schwanensang

Nun ist sein letztes Lied verklungen. Man
fühlt: Er hat sich ausgetobt. Professor Pietsch,

dieser „Schmierer und niclits gelernt habende talent-
lose Nichtskönner“ entschimpfte sich an der Neuen
Sezession. Am Sonntag, den 22. Mai. Denn man
wird nicht annehmen, daß eine Redaktion es noch-
mals wagt, nur eine Zeile solches unsinnigen senilen
Gelalles je wiederdrucken zu lassen. Dieser
Pietsch, der über die dümmsten und langweiligsten
Bilder in dilettantisches Entzücken gerät, erlaubt
sich von den „greulichen Schmierereien eines
Munch“ und den „armseligen Machwerken eines
Manet“ zu sprechen. Dieser Pietsch erlaubt sich
ein Talent wie Max Pechstein einen armseligen
Kleckser zu nennen. Dieser Pietsch, der offenbar
die Welt bisher nur mit Oeldruckaugen gesehen hat,
erlaubt sich von der Natur zu faseln, deren Farben-
reichtum seinen Blicken allerdings stets ver-
schlossen blieb. Der alte Mann operiert mit den
Anschauungsbegriffen der Fiebel: Der Baum ist
grün, der Himmel ist blau, der Mensch ist schön.
Für ihn sind Farben mathematische Werte, wobei
er noch das kleine Einmaleins mit der Arithmetik
verwechselt. Aber der alte Mann ist eine glückliche
Natur. Er sieht alles grün und blau und schön, und
ärgert sich maßlos, wenn jemand seine Glasglocke
von den Gegenständen aufhebt und sie der Wirkung
von Luft und Licht aussetzt. Mit einem Mal ist die
Grünheit, die Blauheit, dic Schönheit fort, unendliche
Farben leuchten auf und Herr Pietsch vermißt
prompt die Natur, die er mit Präparaten in Spiritus
oder im luftleeren Raum verwechselt. Aber die
Kunst läßt sich ebensowenig begrifflich festlegen

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