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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 29 (September 1910)
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Lasker-Schüler, Else: Künstler
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Döblin, Alfred: Die Ermordung einer Butterblume, [2]
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Siebelind, H: Kreise
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Kraus, Karl: Vom Lynchen und vom Boxen
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0235

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Vogelnester mehr essen. Ich gleite die Kissen herab,
mein Kopf l'iegt in einem weißen Bach, alle Fisthe
tragen Ketten von Erbsen um den Hafs und schwim-
men hinter mir über die flaue Matratze. Mein Mann
wartet schon im Sessef. Im Rahmen über dem
Schrank hängt Von Kuckuck und über ihm s'ein
Onkel Pankratius, einer der gestrengen drei Herren,
und zählt — Budget, lauter goldene Schnäbel. Es
wird alles so grau — iCh habe solche Angst, jch
verkrieche mich in die Achselhöhle meines Mannes.
Auf dem Sofa sitzt ein Jüngling, er hät große,
braune, spöttische Augen, die lächeln schüchtern.
„Wer bist du!“ ruft mein Mann. „Ich bin der
Schatten Ihrer Frau und habe Theolbgie studiert.“

Die Ermordung einer
Butterblume

Von Alfred Döblin Schlues

Regungslos stand der dicke Herr an der Gas-
laterne vor der kleinen Dorfkirche. Er trug keinen
Hut auf dem Kopf, in seinem zerzausten Haarschopf
war schwarze Erde und Tannennadeln, die er nicht
abschüttelte. Er seufzte schwer. Als ihm warmes
Blüt den NasenrüCken entlang auf die Stiefel tropfte,
nahm er langsäm mit beiden Händen einen Rock-
schoß hoch und drückte ihn gegen das Gesicht.
Dann hob er die Hände an daS Liclht und wunderte
siCh über die dicken blauen Adern auf dem Hand-
rücken. Er strich an den dicken Knoflen und konnte
sie nicht wegstreiChen. Beim Ansingen und Auf-
heulen der Elektrischen trollte er weiter, auf engen
Gäßchen, nach Hause.

Nun säß er ganz blöde in seinem Schlafzimmer,
sägte laut vor sich hin: „Da sitz ich', da sitz ich“,
und sah siCh verzweifelt im Zimmer um. Auf und
ab ging er, zog seine Sachen aus und versteckte
sie in einer Ecke des Kleiderspindes. Er zog einen
anderen schwarzen Anzug an und las auf seiner
Chaiselongue .das Tagblatt. Er zerknäulte es im
Lesen; es war etwas geschehen, esl wär etwäs
gesChehen. Und ganz spürte er es am nächsten
Tage, als er an seinem Pulte saß. Er war versteinert,
konnte nicht ffuchen, und mit ihm ging eine sbnder-
bare Stille herum.

Mit krampfhaftem Eifer sprach er sich' vor,
daß alles wohl geträumt sein müsse; aber die.Risse
an seiner Stirn waren echt. Dann muß es Dinge
geben, die unglaubliCh sind. Die Bäume hätten
naCh ihm gesChlagen, ein Geheul war um die Tote
gewesen. Er saß versunken da und kümmerte siCh
sich zum Erstaunen des Personals niCht einmal
utn die brummenden Fiiegen. Dann sChikünierte
er die Lehrlinge mit finsterer Miene, vernachlässigte
steine Arbeit und ging auf und ab. Man süh ihn
oft, wie er mit der Faust auf den Tisch schfug,
die Backen aufblies, schrie, er würde einmal auf-
räumen im Geschäft und überall Man würde es
Stehen. Er lasse sich nicht auf der Nase lierum-
tanzen, von niemandem.

AISl er rechnete, bestand aber am nächsten
Vormittag unerwartet etwasl darauf, daß er
der Butterbfume zehn Mark gutschrieb. Er
erschrak, verfiel in bitteres Sinnen über seine
Ohnmacht und bat den Prokuristen, die Rechnung
weiter zu führen. Am Nachmittag ltegte er
Selbst das Geld ,in einen besonderen Kasten mit
stummer Kälte; er wurde sogar veranlüßt, ein
eigenes Konto für sie anzulegen; er war müde ge-
worden, wollte seine Ruhe haben. Bald drängte
es ihn, ihr von Speise und Trank zu opfern. Ein
kleines Näpfchct wurde jeden Tag für sie neb'en
Herrn MichaelS Platz gestellt. Die Wirtschäfterin
hatte die Hände zusammen geschlagen, als er ihr
dieS GedeCk befahl; aber der Herr hatte sich mit
einem unerhörten Zornesäusbruch jede Kritik ver-
beten.

Er büßte, büßte für seine geheimnisvolle Sclndd.
Er trieb Gottesdienst mit der Butterblume, und
der ruhige Kaufmann behauptete jetzt, jeder MenSteh
habe Seine eigene Religion; man müsse eine per-
sönfiche Stellung zu einem unausspredilicben Gott
einnehmen. Es gäbe Dinge, die nicht jeder
begreift. In den Erns't seines Aeffchengesichtsi tyar
ein feidender Zug gekommen; auch steine Kör-
perfülle hatte abgenommen, steine Augen lagen tief.
Wie ein Gewissen sah die Bfumte in seine Hand-

lungen, streng von den größten bis zu den kleinsten
alltäglichen.

Die Sonne schien in diesen Tagen oft auf die
Stadt, das! Münster und den Schloßberg, sChien
mit aller Lebensfülle. Da weinte der Verhärtete
eines Morgens äm Fenster auf, zum ersten Malte
seit seiner Kindheit. UrplötzliCh, weinte, daß ihm
fast das Herz braCh. AIl diese Schönheit raubte ihm
Ellen, die verhaßte Blume, mit jeder Schönheit der
Welt klagte Sie ihn jetzt an. Der Sonnensdhtein
lteuchtet, slie sieht ihn nicht; sie darf den Duft
des weißen Jasmin nicht atmen. Niemand wird
die Stelle ihresi sChmählichen Todes betrachten, keine
Gebete wird man dort spreChen: das durfte sie
ihm allesl ZwisChen die Zähne werfen, wie lachhüft
es' auch war und er die Hände rang. Ihr ist alles
versägt: das Mondficht, das Brautglück des Som-
mers, daS ruhige Zusammenleben mit dtem Kuckuck,
den Spaziergängern, den Kinderwagen. Er preßte
das MündChen zusammen; er wollte die Menschen
zurückhalten, als sie den Berg hinaufzogen. Wenn
doch die Welt mit einem Seufzer untergegangen
Wiäre, damit der Blume däs Maul gestopft sei. Ja,
an Selbstmord dachte er, um diese Not endliCh'
zu stiflen.

Zwischcndurch behändelte er sie erbittert, weg-
werfend, drängte sie mit einem raschen Anlauf
an die Wand. Er betrog sie in kleinen Dingen,
stieß hastig, wie unabsichtiich, ihren Napf um, ver-
rechnete sich zu ihrem Nachteil, behändelte sie
manChmal listig, wie einen GesChäftskonkurrenten.
An dem Jahrestag ihres Todes stellte er siCh', als pb'
er süCh an nichts erinnerte. Erst als sie dringender
auf eine stille Feier zu bestehen schien, widmete
er ihrem Andenken einen halben Tag.

In einer Gesellschaft ging einmal die Frage
nach dem Leibgericht herum. AIS man Herrn Mi-
Chäef fragte, was er am liebsten esse, fuhr er mit
kafter Ueberlegung heraus: „Butterblume, Butter-
blumen sind mein Leibgericht.“ Worauf alles in
Gefächter ausbracb, Herr Michael aber sich zu-
slammenduckte auf seinem Stuhf, mit verbissenen
Zähnen das! Lachen hörte und die Wut der Butter-
blüme genoß. Er fühlte sjch als scheusäliger Drachte,
der gerubsätn LebtendigeS herunterschluckt, dachte
an wirr Japanisches und Harakiri. Wenngleich er
heimlich eine schwere Strafe von ih'r erwartete.

Einen sPlthen Guerillakrieg führte er un-
unterbroChen mit ihr; ununterbrochen schwebte er
zwisChen Todespein und Entzüdken; er labte sich
ängstlich an ihreml wütenden Schreien, das er manch-
mal zu hören glaubte. Täglich Sänn er auf neue
Tückten; oft zög er slich, hoch' aufgeregt ausi
dem Kontor in sein Zimmer zurück, um ungestört
Pläne zu sChmieden. Und so heimlich' verlief dieser
Krieg, und niemand wußte darum.

Die Blume gehörte zu ihm, zum Komfort seines
Lebens. Er dachte mit Verwunderung an die Zeit,
in der er ohne die Bfume gelebt hatte. Nun ging
er oft mit trotziger Miene in den Wald nach
St. Ottil'ien spazieren. Und während er sich
eines sonnigen Abends auf einem gefallenen
Baumstamm ausruhte, blützte ihm der Gedanke:
hier an der Stelle, wo er jetzt saß, hatte
Steine Butterblume, Ellen, gestanden. Hier mußte
eS gewesen sein. Wehmut und ängstliche Andacht
ergriff den dicken Herrn. Wie hätte sich alles ge-
wendet! Seit jenem Abend bis 1 heute. Er fieß ver-
sunken die freundlichen, leicht verfinsterten Augen
über dasl Unkraut gehen, vermutlidh den Schwestern,
vielleicht Töchtern Ellens 1. Nach langem Sinnen
zuckte es! spitzbübisch über sein glattesi Gesicht.

O s'ollte seine liebe Blume jetzt eins bekomm'en.
Wenn er eine Butterblumte ausgrübe, eine Tochter
der Toten, site zu HaUse einpflanzte, hegte und
pfltegte, sb hatte die alte eine junge Nebenbuhlerin.
Ja, wenn er esl recht iiberltegte, konnte er den
Tod der al'ten überhaupt sühnen. Denn er rettete
dieser Bfume das Leben und kompensierte den Tod
der Mutter; dieSte Tochter verdarb doch' sehr wahr-
Scheinlich hier. Oh, wiirde er die alte ärgern, sie
ganz kalt stellen. Der gesetzeskundige Kaufmann
erinnerte sich eines Paragraphen übter Kompensation
der Schuld. Er grub ein nahes Pflänzchen mit
dem TaSChenmesSer aus, trug es btehutsam mit der
bfoßen Hand heim und pflanzte es in einen gold-
prunkenden Porzeflantopf, den er auf einem Mo-
säiktisChtehten seines Schlafzimmers! postierte. Auf
den Boden des Topfes schrieb er mit Kohlte:

„§ 2043 Absatz 5“.

TägliCh b'egoß der Glückliche die Pflanze mit

boshafter Andacht und opferte der Toten, Ellen.
Sie war geSetzfiCh, eventuell unter polizeilichen Maß-
regeln zur Resignation gezwungen, btekam keinen
Napf mehr, keine Speise, kein Geld. Oft glaubte
er, auf dem Sofa fiegend, ihr Winseln, ihr lang-
gezögenes Stöhnen zu hören. Das Selbstbewußtsein
des Herrn Michaef stieg in ungeahnter Weise. Er
hatte manchmaf fast Anwandlungen von Größen-
wahn. NiemalS verfloß sein Leben so heiter.

AIS er ejnes Abends vergnügtj aus jsieinem! Kontor
fin Seine Wohnung geschlendert war, erklärte ihm
seine Wirtschafterin glteich an der Tür gelassen,
daß das 1 Tischchen beim Reinemachen umgestürzt,
der Topf zerbroChen stei. Sie hätte die Pffanze,
daS gemeine Mistzeug, mit allen Scherben in den
Mülleimer werfen lasäen. Der nüchterne, leicht ver-
ächtliche Ton, in dem die Person von dem Unfall
beriChtete, fieß erkennen, daß sie mit dem Ereignis
lebhaft sympathisiere.

Der runde Herr Michael warf die Tür ins
Schfoß, schlug die kurzen Hände zusämmen, quiekte
laut vor Glück und hob die überrasChte Weibs-
person an den Hüften jn die Höhe, so weit es seine
Kräfte und die DeCkenlänge der Persön erlaubten.
Dann sChwänzelte er aus dem Korridor in sein
Schläfzimmer, mit flackernden Augen, aufsl höchste
erregt; laut schnaufte er und stämpften seine Beine;
sejne Lippen zitterten.

Eä konnte ihm niemand etwas naChsagen; er
hatte niCht mit dem geheimsten Gedanken den Tod
dieser Blüme gewünscht, nicht die Fingerspitze
eines GedankenS dazu geboten. Die alte, die
Schwiegermutter, konnte jetzt flüchten und slagen,
was sie wollte. Er hatte mit ihr nichts zu schaffen.
Sie waren gesChiedene Leute. Nun war er die ganze
Butterblümensippschaft ios. Das Recht und dasl
Glück standen auf seiner Seite. Es vvar keine Frage.

Er hatte den Wald übertölpelt.

Glteich wollte er nach St. Ottilien, in diesten
brummigen, dumlmigen Wald hinauf. In Gedanken
schwang er schon sein schwarzes Stöckchen. Blü-
men, Kaulquappen, auch Kröten, söllten daran glau-
ben. Er konnte morden, sio viel er wolltte. Er
pfiff auf sjämtliche Butterblumen.

Vor Schädenfreude und Lachen wälzte sich der
dicke, korrekt geklteidete Kaufmann Herr Michael
FisCher auf seiner Chaisefongue.

Dann sprang er auf- stülpte seinen Hut auf
den SChädel und stürmte an der verblüfften Haus-
hälterin Vorbei aus dem Hause auf die Straße

Laut laChte und prustete er. Und verschwand
in dem Dunkel desi Bergwaldes.

Kreise

Im Gewirr der werbenden Mächte
Hierhin, entgegen, dorthin —

Ziehen schweigend die Gestirne ruhelose Kreise.

In dem vielfältig-bunt-jagenden Troß des 1 Lebens
Hält einer, wirft sich verzwteifelnd zur Erde 1 —
Schreit eine Frage — noch eilt weiter der Schall —
SpurloS zertreten — des Kreises Beginn? — düngt

er die Erde.

H. Siebelind

Vom Lynchen und vom Boxen

Von Karl Kraus

„Ich bitte Sie, zu erklären, daß die in Mastodon,
Mississippi, vollzogene Lynchung des Negers Curl in
aller Ruhe und in vollster Ordnung vor sich ging. Sie
wurde von den angesehensten Leuten des Ortes,
Bankiers, Advokaten, reichen Landwirten und Kauf-
leuten, geleitet. . . . Ich kann sagen, daß noch niemals
vielleicht an einer Lynchung soi viele wahrhaft vornehme
Menschen sich beteiligt haben. . . “

Diese Erklärung erschien, wie die verläßliche
Schere des Neuen Wiener Journals behauptet, jn
vielen amerikanisChten Blättern. Sie war ein Protest
gegen die mögliche Unterstellung, daß es bei dieser
Lynchung grausain zugegangen sei. Im Gegenteil
wurde niChts getan, was irgendwie gegen die Vor-
schrjften einer humanen Lynchung verstoßen hätte.

„Ich verlangte für mich nur ein einziges Vorrecht:
ich wollte beim Hochzieheü des Negers, den wir auf-

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