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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 47 (Januar 1911)
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Scheerbart, Paul: Der Kaiser von Utopia, [7]: Ein Volksroman
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Hoddis, Jakob van: Varieté
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0379

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Der Kaiser von Utopia

Ein Volksroman

Von Paul Scheorbart

XX

Lotte Wiedewitt

Herr Moritz Wiedewitt kümmerte sich aber um den
frossartigen Sonnenuntergang ganz und gar nicht, liess
die ihm verliehene Kaiserkrone im Hofzuge sorgfältig
verpacken und machte dann in Schilda Einkäufe, wobei
er sich mit Wohlgefallen immerzu „Qrandiosität“
titulieren liess.

Der Interimskaiser kam dann in bester Stimmung
nach Hause, um endlich Abendbrot zu essen, aber die
Lotte hatte bereits von der Ratssitzung gehört und zu
Aliem ganz ratlos mit dem Kopfe geschüttelt; sie konnte
es einfach nicht glauben, dass ihr Moritz für ein Jahr
nach Ulaleipu gehen sollte und dort Kaiser sein —
nein, das konnte sie nicht glauben; sie vermutete, dass
dahinter bioss wieder ein abenteuerlicher unnützer
Narrenstreich stäke.

Und als nun der Moritz endlich nach Hause kam,
empfing ihn seine Frau mit einer Gardinenpredigt, die
sich gewaschen hatte.

„Was soll denn das nun wieder? Leben wir hier
denn wirklich im Tollhaus? Bin ich dazu mit Dir nach
Schilda gezogen, um hier bloss mit Dir toile Streiche
anzugeben? Haben wir nicht schon genug mit unserer
Wirtschaft zu tun? Qeht hier zu Hause nicht ailes drunter
und drüber? Wir haben nicht das Nötigste — und zu
dummen Streichen ist immer das Qeld da? Du wolltest
doch noch die eingelaufenen Briefe beantworten —
und jetzt willst Du wieder Kaiser werden? Schämst
Du Dich denn garnicht? lch habe nichts Vernünftiges
anzuziehen und Du denkst Dir bloss windige Qe-
schichten aus. An unser Wäschespind solitest Du doch
denken der Tischler macht es nicht fertig — und
Du hast mir doch versprochen, das olle Spind noch
in diesem Monat fertig zu machen, damit ich endlich
weiss, wo ich mit den paar plundrigen Sachen hinkann.
Aber statt zu arbeiten, wiiist du Kaiser werden. Es
ist unerhört. Du soiltest Dich doch vor den Nachbarn
schämen “

Und dann schimpfte die Lotte, dass die Wände
dröhnttfn, damit es alle Nachbarn hören konnten, was
fürn verrückter Kerl dieser Moritz war.

Aber da riss auch dem Moritz die Geduld, und er
brüllte :

„Mach das Abendbrot fertig. In einer Stunde muss
ich nach Ulaleipu fahren.“

„Fällt mir nicht ein!“ schrie die Lotte, „mach Dir
Dein Abendbrot allein. Ich bin lange genug Dein
Pachulke gewesen. Ich will jetzt ein anderes Leben
geniessen.“

Da wurde der Interimskaiser so wütend, dass er
eine Porzellanvase' ergriff und sie auf den Fussboden
schleuderte, dass die Porzellanstücke zum dreieckigen
Fenster hinausflogen.

„Bin ich denn verdammt,“ rief er grimmig „ewig
und immer mit diesem verrückten Weibe zu leben ?
So bleib Du hier — ich fahre allein nach Ulaleipu.“

„Fahre, wohin Du fahren willst,“ sagte die Lotte,
„ich werde wissen, was ich zu tun habe.“

Moritz wollte wieder einlenken, aber die Lotte
schmiss die Türe hinter sich zu und riegelte ab.

Da nahm der Interimskaiser Hut und Stock und
ging in den goldenen Löwen, ass sein Abendbrot unter
Zähneknirschen, verabschiedete sich von Käseberg,
Moellerkuchen und einigen Ratsherren in sehr kurzen
eiligen Worten und fuhr, als es dunkel geworden war,
mit dem Hofzuge nach Ulaleipu — den ganzen Hof-
zug liess Herr Wiedewitt illuminieren — auch oben
über den Waggondächern — mit roten, blauen und
grünen Flammen — und elektrische Scheinwerfer liess
er aufleuchten, dass der Zng wie ein Lichtgespenst
durch die Nacht dahinsauste.

XXI

Der verzweifelte Steatsrat

Die Rechszentraie in den sieben Türmen am
Schwantufluss hatten sich natürlich sofort der ganzen
Kaiser-Angelegenheit bemächtigt, und fast in jeder
Tagesstunde liefen ein paar Broschüren in Uialeipu ein.

Und in den Broschüren wurde des Kaisers Tat hoch-
herzig und bewunderungswürdig genannt, und nur zwei
oder drei Autoren hatten die Tat des Kaisers, der, um
die Abtrünnigen in der Stadt Schilda zurückzuführen
in den alleinseligmachenden Schoss des Volksgeistes,
Oberbürgermeister von Schilda geworden war, für eine
nicht ganz der Rechtsauffassung Aller entsprechende
Tat befunden.

Dagegen war der Staatsrat überall sehr schlecht
weggekommen, indem man in den Broschüren durch-
weg behauptete, dass auch ein Mitglied des Staatsrates
Oberbürgermeister von Schilda hätte werden können.

Dass der Oberbürgermeister Wiedewitt zum In-
terimskaiser ausgerufen worden war, das wurde durch-
weg dem Staatsrat in die Schuhe geschoben; der hätte
für eine geeignete Stellvertretung bei Zeiten tätig sein
müssen.

Dass der Kaiser den Oberbürgermeister zum Stell-
vertreter gewählt hatte, das wurde dem Kaiser garnicht
übel genommen; er sei eben durch den Staatsrat schwer
gereizt worden.

Kurzum: der Staatsrat hatte Alles auszubaden
Und es war nur natürlich, dass er sich in geradezu
grenzenloser Verzweiflungsstimmung befand.

In vierzehn Tagen waren siebenundachzig Bro-
schiiren über den merkwürdigen Vorfali erschienen.

Es gab nur einen Trost für den Staatsrat: in keiner
Broschüre wurde zugegeben, dass das neue Regiment
eine einschneidende Veränderung im Staatshaushalt zur
Folge haben könnte — es gingen sogar einige Autoren
am Schwantuflusse so weit, die ganze Angelegenheit
als nicht sehr wichtig hinzustellen — das beweise schon,
sagten sie, die kleine Anzahl der Broschüren (bloss 87),
während doch im letzten Jahre dreiundvierzig Rechts-
fälle mehr ais hundertundfünfzig zur Folge gehabt
hätten.

Aber der Staatsrat war in Verzweiflungsstimmung.

XXII

Der Leuchtturm

Der Kaiser Philander wurde ais Herr Bartmann in
den Lotsenzimmern des grossen Leuchtturms sehr
freundlich empfangen; der Leuchtturm hiess der grosse
der grossen Molen und des umfangreichen Unterbaues
wegen; in den Lotsenzimmern hörte man die donnernde
Brandung nur wie ein fernes Geräusch, da überall
doppelte Doppelfenster angebracht waren.

Hinter das Leben der Utopianer wollte der Kaiser
kommen, und es schien ihm nun als erste Aufgabe,
an verschiedenen Punkten seines Reiches festzustellen,
wie die vielen Wohlfahrtseinrichtungen auf die Utopianer
wirkten — ob sie noch immer als wohltuend empfunden
wurden — und ob sie ausreichten, das Leben in Utopia
einigermassen glücklich erscheinen zu lassen.

Die Bequemlichkeitseinrichtungen hatten den denk-
bar grössten Grad von VoIIkommenheit erreicht, und
nun fragte der Kaiser zunächst, so als wenn er bloss
Studien halber reise, wie die Lotsen über die Be-
quemlichkeit dächten.

Und da sagte dann ein Alter gleich sehr unwirsch:

„Lieber Herr, die Bequemiichkeit ist für unseren
Stand eine recht bedenkliche Sache; früher gingen die
jungen Leute mit Vergnügen ins Rettungsbot heute
muss man schon Zwangsmassregeln gebrauchen die
Jugend wird durch gutes Essen und Trinken durch
Fahrstühle, vortreffliche Betten und ail den übrigen
neuzeitlichen Luxus so verwöhnt, dass wir viele Be-
ltchkeitsdinge wieder hinausbringen mussten ; die gute
alte Zeit hatte doch mit ihrer einfachen Lebensart
sehr viele Vorzüge

Der Kaiser war ganz sprachlos, aber er sah ein,
dass der Alte wohl Veranlassung hatte, zu klagen —
die anderen Lotsen stimmten dem Alten sämtlich bei.

Es wurde Grog getrunken, und der Herr Bartmann
liess sich Seegeschichten erzählen, sprach nicht viel
und dachte sich sein Teil; er wollte noch über die
vorzdgliche Rechtspflege in Utopia sprechen — aber
ihm schnürte was die Kehle zu, und er ging bald in
sein Zimmer und versuchte zu schlafen.

Mit dem Schlafe ging es aber nicht — es war
nur ein haiber Schlaf — aus dem Meere, das unten
brauste und krachte, stiegen immsr wieder bleiche Ge-
stalten heraus, die immerzu leise flüsterten und das
klang wie eine Anklage — und schliesslich wie ein
Fluch auf die Bequemlichkeiten der verwöhnten Utopianer.

„Wären die Lotsen,“ sagte eine Gestalt dicht neben
dem Bette des Kaisers, „nicht so saumselig gewesen —
ich wäre noch am Leben.“

Der Kaiser steckte seine Kerze an und rieb sich
die Augen, er war ganz allein

Unten tobte die Brandung des Meeres wie in weiter
weiter weiter Ferne — murmelnd.

Und der Orkan brauste vor den Fenstern, dass
ein leises Pfeifen und Knailen zu hören war.

Die Fenster klirrten

Der Kaiser schlief ein

Die Kerze beleuchtete das Gesicht des Schlafenden
in dem die scharfen feinen Züge mit dunklen Schatten
erschienen; das Profil des Gesichtes lag als Schatten-
bild an der Wand

XXIII

Die Zeitungen

Am nächsten Morgen sass der Herr Bartmann im
Lesezimmer der Lotsen und las die neusten Zeitungen.

Das Lesezimmer machte den Eindruck eines
Bibliotheksaales, und die Möbel Iiessen an Behaglichkeit
und künstlerischem Schliff nichts zu wünschen übrig;
jede Ecke und jede Kante war anders und voll intimster
Reize, sodass man sich auf jedem Stuh! so recht zu
Hause fühlte — Alles giänzte wie neu und wirkte doch
gleichzeitig wieder so alt wie eine alte Handschrift.

Ein Lotse der dienstlich abgerufen wurde, rief
ärgerlich: „Gerade jetzti Bei diesen Zeitungsberichten
über Schilda!“

Aber er ging. und der Kaiser las weiter von
Schilda — im „Alten Staatsblatt“ stand unter Anderem:

„Es lässt sich immerhin die Frage aufwerfen, ob
der Kaiser von Utopia berechtigt war, für ein ganzes
Jahr seine hohe Stellung aufzugeben, bloss um die
verirrten Schildbürger wieder auf den rechten Pfad zu
bringen. Der Kaiser ist nicht nur dazu da, im Volke
ein juristisches Gleichgewicht herzustellen; die fünfzig
Stimmen, die er allein den hundert Stimmen seines
Staatsrates gegenüber zu stellen vermag, sind nicht
bloss für die Rechtsfragen da; er soll auch — und
dazu ist er in erster Linie hochstehender Volkskaiser —
in allen Lebensfragen seines Volkes eine entscheidende
Führerrolle in Anspruch nehmen, er soll dem Volke
neue Bahnen eröffnen und immerdar tätig sein zum
allgemeinen Wohie — er soil auch ein Anreger sein.“

Herr Bartmann lächelte und las in einer anderen
Zeitung:

„Die anregende Haltung des Kaisers, die vom Alten
Staatsblatte so angelegentlich empfohlen wird, wird der
Kaiser als Oberbürgermeister von Schilda am aller-
besten zur Geltung bringen; es ist doch nur natür-
lich, dass die etwas komische und durchaus pein-
liche Lage der Schildbürger zu sozialen Anre-
gungen grade genug Veranlassung gibt; in seiner
neuen Position als Oberbürgermeister wird der Kaiser
sicher eine grosse Anzahl von Verhältnissen, die der
Verbesserung bedürfen, kennen iernen. Und Schilda
ist uns Allen ein Dorn im Auge Schiida muss ver-
bessert werden, und die Dinge, die in Schilda ver-
besserungsdürftig erscheinen, werden ihre Schatten über
das ganze Kaiserreich werfen. Warten wir ab, was der
Kaiser in Schilda tut.“

Herr Bertmann sah jetzt sehr ernst aus, und es
ging ein feierlicher Zug über sein Gesicht, und er
dachte an die Schatten der vergangenen Nacht — die
Kerze hatte grosse Schatten an die Zimmerdecke ge-
bracht, und die bleichen Gestalten des Meeres gingen
durch die Schatten an der Zimmerdecke durch.

Und des Kaisers Züge wurden plötzlich hart; er
stand auf und ging mit festen Schritten hinaus — auf
die Galerie — dort hörte er das Meer ganz laut her-
aufdröhnen — und unten schäumten an den Klippen
die hohen Wellen.

Portietzung folgt

Variete

Von Jakob van Hoddis

I

Loge

Ein Walzer rumpelt; geile Geigen kreischen;

Die Luft ist weiss vom Dunst der Zigaretten;

Es riecht nach Moschus, Schminke, Wein, nach fetten
Indianern und entblössten Weiberfleischen.

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