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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 39 (November 1910)
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Lasker-Schüler, Else: Handschrift
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Scheu, Robert: Leitfaden der Weltgeschichte, [3]
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0316

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WunÜerten. Auf eininal steüt auf dem weißen Rand
der Zeitung ein Name im Arabeskenschmuck oder
bliunenverziert. Dort ist ein Zeitwort auf dem Kopf
gestellt, ich meine ein xbeliebiges Wort in Spiegel-
sdirift geschrieben. Ich habe dasselbe fesselnde
Oefühl beim Ansehn einer interessanten HandsChrift
wie bei einer guten Federzeichnung oder einem
Gemälde. Und doch möchte ich darum die Hand-
schrift nicht mit der Malzeichenkunst jn einen Far-
bentopf oder in ein Tintenfaß werfen. Aber der,
welcher sich verzweifelt nach einem Talent sehnt,
taöge es zunächst in seiner Handschrift suchen. Oft
hat schon der Lehrer sie im Keim erstickt. Den
meisten bleibt die Schrift nichts wie Inhalt — die
Nachricht erfreut ihn, ärgert ihn, namentlich wenn
sie noch dazu undeutlich geschrieben ist. Warum
hörte ich nie jemand sagen: Erklären Sie mir diese
oder jene Handschrift. Ich meine nicht des sprach-
liChen Verständnisses wegen, auch nicht aus graphö-
logiscbem Orunde; rein künstlerisch! Wie ja 6ö
oft die Frage aufgewlorfen wird vor einem Bildnis.
Es hat noch nie jemand von einer Handschrift den
alltäglichen Ausruf getan: „Die ist mir zu hoch!“
Und doch gibt es gerade Meister dieser Schul-
meisterkunst. Diejenigen sinds, die sich im Klas-
Benzimmer Strafe holten ihrer Klaue wegen. Es
geht ihnen wie dem Oenie, welches die Kunst-
schule ausspie. Handschrift ist erblich wie jedes
Talent. — Für mich kommt kaum der Inhalt eines
Briefes in Betracht; ich kann mich für den Schrei-
ber nur seiner Buchstaben wegen interessieren.
Und es geschah schon, daß ich ganz entzückt einen
unverschämten Brief beantwortete und umgekehrt.
Die Schrift ist ein Bild für sich und hät nichts mit
dem Inhalt zu tun. Jeder Iernt schreiben, eine
Menge Menschen häben es in ihfer Handschrift
zur Kunst gebracht. Und darum auch gibt es in
keiner Kimst so viele Epdgonen, wie in der Kunst
der BuChstaben. Für diese Nachahmer ist jeder
Buchstabe ein Oestell, dem sie einen Mantel um-
hängen, den ein anderer gewebt hat, sie verstehn
eben ihre Blöße zu bemänteln. Die ursprüngLichen
Epigonen sind reichgewordene Frauen, die sich be-
mühen ihre so oft charakteristische Ladenmädchen-
schrift zentimeterhoch heraufzuschrauben direkt zu
hochmütigen Gänsehälsen. Der Mann möchte Be-
deutung in seine Schrift legen und ahmt der Hand
des ihm Geistigüberlegenen naChl Ungemein sym-
pathisch berührt mich die sogenannte Tatze, die
Schrift der Knaben wenn sie den Aufsatz jns
Diarium schreiben. Hier diese Zeilen hat ein Mäd-
chen vorsichtig und sanft geschrieben. Manchmal
lachen auch Briefe oder sind erbittert, die Schrift
riecht fast nach Galle. Meines Freundes Brief blin-
zelt, eine Faunlandschäft. Dein Onkel schreibt eine
kleine, rundliche, gleichknäßige Handschrift wie
Taler. Geizhals ist er, aber kein HandsChriftkünst-
ler wie mein Freund der Faun. Interessant sind die
spitzauslaufenden Buchstaben auf dieser Seite, jedes
Wort ein Wolfsgebiß. Und doch kein Tiergemälde.
Interessant wirkte auf mich die Korrespondenz, die
ich erbrach zugunsten der [Kunst, zwischen J<arl
Kraus imd Herwarth Walden. Alte und neue Mei-
sterstücke. Ich sprach schon einmal in meinem
Essay über die Rietät in Karl Kraus Buchstaben.
Seine Handschrift ist ein Dürergemälde. Meine
Handschrift hat ,als Hintergrund den Stern des
Orients. pft sagten mir Theologen, ich schfeibe
deutsch wie hebräisch oder arabisch. Ich denke
an der späten Aegypter Fetischkultur; ihnen ging
aus dem Buchstaben schön die Blüte auf. Der
Zwischenduft der Handschrift mit Zeichenmalkunst
verbindet. Mir fallen noch' die Schriften der Chi-
nesen und Japaner ein. „Die Mitternacht zog
näher schon, in stummer Ruh lag Babylon“ — die
plötzliche Geisterschrift an der Wand entsetzte die
berauschten Gäste nicht ries Inhalts wegen, das
furchtbare Schriftbi 1 d war es. Sie erblickten
den Inhalt des FluChes. Darum ist auch das Ver-
ständnis zur Kunst ein Seltenes 1 und Erhabenes —
es liegt uns im Gesicht und geht uns vom Gesicht
aus. — Die Kaufmannshandschrift — ich möchte
noch' vorher fragen, hat schon einer der Leser ein-
mal ein Lebenszeichen vom Dichter Peter Baurn
bekommen? NämliCh' gerade bringt mir der Post-
bote so ein Sommerbildchen, Buchstaben: Mücken-
schwarm, der vergnügt in der Sonne tanzt. Seine
Karte blendet. Ich bin bei der Kaufmannshand-
schrift — phantasielos, nüchtern, sie liegt be-
wegungslos auf dem Papier. Kühle Tatsache. Der
kaufmännische Reisende dreht sejnen Buchstaben

eitel den Sdhnurrbart. Stutzig madhen mich 1 Briefe,
die vom Geschäftsmann geschrieben sind und von
'der Buchführung doppelt abweichen. In dem Schrei-
ber steckt sicherlich das Handschrifttalent. Es gibt
auch Launen der Schrift. Kinder, die erst morgen
dem Christkind sdhreiben wollen, da sie heute nicht
schön schreiben können. Meiner Mutter Briefe
waren schwermütige Cypressenwälder, meines Va-
ters Schrift reizte zum Lachen, hümoristische Zeich-
nungen aus dem Struwelpeter. Kohlrabenpech 1-
schwarze Mohren oder der böse Nicolas steckt
die Jungens ins Tintenfaßi. pelungene, amüsante
Ueberschwemmungen von Tinte waren die Briefe
meines Vaters. — Es gibt auch Schriftinspirationen,
viele Menschen berauschen sich an ihrer Schrift, und
den Inhalt, den sie aufschreiben, ist nur Vortäu-
schung. Ich schreiibe oft, um miCh durch meine
Schrift zu erinnern, mein Vater um sich zu ergötzen.
Meine Schwestern schreiben zweierlei: die älteste:
Reisebilder, die andere: Kinderbilder. Der einzige
Plastiker der HandsChrift, den ich kannte, war St.
Peter Hille, Petrus — er schrieb Rodins. Wie viel
deutliCher gemalt ist das tiefsinnigste Bildnis, |als
die ausgeschriebene Handschrift (rein künstlerisch
verstanden). Aber auch die kann dilettantisch sein,
wenn sie ohne Tiefe imd Geist und nur aus Ausi-
übimg entstanden ist. Manche sogenannte sChöne
Schrift allzudeutlich 1, Oelbilder nach Sichel. L.ieber
ist mir schon die Pfote von jAujuste. Ihr Brief
und die Antwört vom Schütz, geben sich einen
Schlnatz. Derbe Genrebilder. Vielerlei gibts davon.
Aehnlich wie die KöChin sChreibt das Dienstmäd-
Chen, die Kellnerin, das kleine Mädchen, die kecke
Hure. Aber loser geheftet, unordentlicher ihr Brief,
ein leicht schaukelndes Gerippe. Weit eher ist die
Demimonde eine Epigonin. Sie stiehlt lächelnd Und
liebkosend die Buchstaben der Originale oder ver-
steht nie die SpraChe auch die Schrift ihres in
Fessel gelegten Herrn zu kopieren und belecken.

— Habe ich sChon gesagt, daßi es auch Stilleben
in der Handschrift gibt, zehnseitenlange Briefe, die
sChlafen, aber deren Inhalt yoll Leben sprudeln;
HandschriftkünstLer, die schulakademisch erzogen
und erwogen sind. — Manche Buchstaben
gucken neugierig; gewissenhafte Schriften,
wo die Buchstaben getrennt auseinanderstehen. Er
war sehr niedergeschlagen, als er diesen Brief
schrieb, seine Handschrift war dünn aufgelegt.
Hochbeglückt, glänzen die Vokale — glückliche
Handschrift. Ich habe ein kleines Laboratorium
vön Schreibkaninchen, die ich anrege, mir ßriefe
zu schreiben. Sie können sich' also schon auf meine
Erfahrung verlassen, Iieber Sturmleser; es tut mir
unendlich leid, daß mein Manuskript dieses Aufsatzes
nicht in Ihre Hände gelangt. Trotzdem es mit
schwarzer Tinte geschrieben ist, wirkt es blau, tief-
blau, liebesblau. Den wissenschaftlichen, lang-
weiligen Inhalt müssen Sie schon in Kauf nehmen

— seine Handschrift ist ein Liebesbildnis. Ich dachte
nämlich ,indem ich über „Handschrift“ schrieb, an
drei schöne Königssöhne. In Wirklichkeit schrieb
ich drei Briefe; den ersten an Zeuxis, den grie-
chischen Maler, der nun in Berlin wohüt. Er sei
mein Ideal, aber ich ginge nicht an ihm zugrunde.
Ich schrieb dem guten Prinzen von Afghanistan,
daß' er mein Typ sei und daßi wjr ineinander ver-
wachsen wären. Ich schrieb Wilhelm von Kevlaar,
daß er mein Symbol war, daß ich am Sterben
läge, denn ich 1 hätte an die große Treue geglaubt,
an seine Treue zu mir, und er häbe sie gebrochen.

Das Manuskript liegt dem interessierten Leser
zur Verfügung in der Direktion.

Leitfaden der WeltgescMcMe

Von Robert Seheu

III / Neuzeit

Der Rückschritt war im Mittelalter derart gang
und gäbe, daß es schließlich ein öffentlicher Skandal
wurde und der Eintritt der Neuzeit nicht mehr
länger aufgehalten werden konnte. Die war, seit-
dem Kolumbus auf dem nicht mehr imgewöhnlichen
Wege seines Eis Amerika entdeckt hatte, ohnehin
nur eine Frage der Zeit. Ungemein gesundheits-
schädlich wirkt die Erfindung des Schießpulvers,
die kolossal vielen Personen der Neuzeit, die damals

noch gar nicht lebten, das Leben kostete. Diesjj
mußten aber trotzdem noch hochentzückt sein, weif
sie ohne das Schießpulver im Mittelalter verstorben
wären, was noch viel unangenehmer ist. Dagegen
bleibt die Erfindung der BuChdruckerkunst jschon
vom rein buchhändlerischen Standpunkt freudig zu
begrüßen. Was ohne die Buchdruckerkunst pus
dem Buchbindereigewerbe geworden wäre, läßt sich
gar nicht ausdenken. Was Kolumbus zur Ent-
deckung Amerikas bewogen hat, ist bis heute noch’
nidht festgestellt, vielleicht die Befürchtung, jdaß
sonst Europa von Amerika entdeckt würde. Das
Ziel seüier Fahrt war seine eigene Nase, der er
nadhreiste. Nun wuchsen die Weltumsegler ^vie
Pilze aus der Erde. Es gab kaum einen Seeweg
nach Ostindien, der nicht entdeckt wurde. Die
Kugelgestalt der Erde wurde geradezu mißbraücht,
so von Cortez und Pizarro. Viele Wilde, die sonst
keine Gelegenheit gehabt hätten, hingerichtet zu
werden, verdanken dies den europäischen Ent-
deckern. Maximilian, der sich den Beginn der Neu-
zeit von der Martinswand betrachtete, nahm den
Titel eines römisdhen Kaisers an. Ungefähr tun
diese Zeit wurden die Ablässe tief unter dem Selbst-
kostenpreis verkauft. Martin Luther, der es nicht
länger mit ansehen konnte, schlug fünfundneunzig
Thesen an der Schloßkirche von Wittenberg an,
ohne zu beachten, daß dort das Zettelankleben ver-
boten war. Kein Wunder, daß der Papst in seinem
ersten Zorn durch eine scharf gebellte Bulle ein-
undvierzig Artikel aus Luthers Schriften verdammte.
Eigentlich hatte er sich nur versprochen, indem
er sagte: „Diese verdammten einundvierzig Artikel“.
Weil er aber als Papst unfehlbar war, konnte er es
nicht mehr zurücknehmen. Luther heizte nun, wenn
es ihn fror, nur noch mit päpstlichen Dekretalen.
Daß unter solchen Umständen Bauernkriege an der
Tagesordnung waren, wird niemand überraschen.
Die Wiedertäufer, die sich durch Uebereifer im
Taufen mißliebig gemacht hätten, wurden gefangen
und hingerichtet. Auch sonst wurde Luther durch’
die verschiedensten Reformatoren, wie Calvin und
Zwingli, Schmutzkonkurrenz bereitet. Wie sich der
kleine Moritz von Sachsen den schmalkaldischen
Krieg vorgestellt hat, wollen wir mit Stillschweigen
übergehen. Was die Hugenotten eigentlich beab-
sichtigten, ist unklar. Sie wurden ermordet und
von Meyerbeer in Musik gesetzt. In Italien wuchs
damals ein guter Jahrgang in Uebermenschen.
Alexander der Sechste und Cäsar Borgia mordeten
so fleißig, daß man die Volkszählung nicht durch-
führen konnte. Gregor der Dreizehnte verbesserte
das Kalenderwesen durch Einführung von Abreiß-
kalendern. Im Jahre 1556 kommt PhiLipp der
Zweite in der Maske Mitterwurzers zur Regierung.
Eine seiner besten Rollen. Das durch und
durch 1 ungemütliche Vorgehen der Inquisition be-
wirkte den Abfall der Niederlande, die den Herzog
Alba durcli Hinrichtung Egmonts vergeblich an
Spanien zu fesseln gesuCht hatte. Auch in Eng-
land wurden einige SChillersche Figuren hingerich-
tet, wie Maria Stuart, die Shakespeare aus Rück-
sicht auf Elisabeth nicht verwerten konnte. Unter
Karl dem Ersten verweigert John Hampden die
Zahlung des Schiffsgeldes und wird dadurch als
modemer Mensch in weitesten Kreisen berühmt.
Von da an whd immer häufiger nichts gezahlt,
wodurch sich die ekelhafte Teuerung wenigstens
bis zu einem gewissen Grade mildert. Karl der
Große wird vom Parlament geköpft (Ruttipfparla-
ment). Cromwell, ein glattrasierter Herr mit oliven-
grünen Gesichtszügen, hat ys insbesondere auf die(
Presbyterianer scharf, was jedermann begreife*
wird, der schon einen Presbyterianer gesehen hat.

Dem westfälischen Frieden ging ein dreißig-
jähriger Krieg voraus, bei dem anfangs auffallend
stark geböhmakelt wurde. Im Beginn des dreißig-
jährigen Krieges steht ein Misthaufen, auf den der
Statthalter Martiniz und Slawata und der Geheim-
schreiber Fabricius geworfen wurden. Die Utra-
quisten waren Leute, die sich absolut nichts ge-
fallen ließen und leicht handgreiflich wurden.

Es kam zur Schlacht am weißen Berge, welche
im Interesse Friedrich des Fünften besser unter-
blieben wäre. Albrecht von Wallenstein, ein Mann,
der durch vieles Nachdenken einen Spitzbart be-
kommen hatte, konnte keinen Hahn krähen hören.
Gustav Adolf war nicht schlau genug, diesen Um-
stand zu benutzen, ;und statt Wallenstein durcH
geschickt imitiertes Krähen in die Flucht zu(
schlagen, bezog er ein festes Lager bei Nümberg,

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