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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 46 (Januar 1911)
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Prokop: Berlin für den Fremden
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Adler, Joseph: Kunst für Alle
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0374

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Berlin für den Fremden

lch sehe nur ein paar Details, keinen Qesamt-
eindruck. Der weisse Dampf der Stadtbahn fällt die
Viadukte herab, zerfliessend wie eine Schneeflocke.
Der harte Asphalt ähnelt, vom Licht beglänzt, einer
weichen Masse, man fürchtet einzusinken, so oft man
auftritt, und deshalb wohl, um ihn kaum zu berühren,
fliegen die Automobile mit leichtem langem Wellenschlag
über ihn hin. Die Mietautos sind hier weiss, in Paris
gelb oder rot: es gibt keinen wichtigeren Unterschied
des Stadtbildes. Besser gesagt: ich liebe solche Be-
obachtungen, ja nichts als sie liebe ich . . . Lächer-
lich kleine Details. Die Mietautos als weisse leichte
Engel über ebenem Asphaltgewölk . . . Warum sind
die glatten Rasen der Anlagen von ganz niedrigen
Eisenschienen eingefasst? Ueberall hier? Will man
sie betreten, so hindert dieses Liliputgeländer nichts
(höchstens stolpern könnte man darüber); und will man
sie nicht betreten, wozu wird man immer erinnert, dass
es ausserdem verboten ist? . . . An manchen Stellen
ist der Erdboden auch zwischen den Schienen der
Elektrischen, nicht nur längs der Schienen, mit grünen
Beeten bespannt. Das hab ich noch nirgends gesehen
ausser in Berlin. Und es tut mir weh; wie sich das
Herz der Hausfrau zusammenkrampft, wenn man auf
einen neuen Sessel steigt, um die Uhr aufzuziehen
(es schadet ja vielleicht dem Sessel nichts, trotzdem
krampft sich dieses Herz zusammen) — oder wie wenn
man auf allzu kostbares Briefpapier einen Brief schreibt
(wozu ist es denn da als zum Brief schreiben, trotz-
dem tut es einem leid) ...

Eine zweifellos richtige Beobachtung habe ich noch
über Berlin zu machen. Ganz Berlin ist ein grosses
Plakat von Lucian Bernhard. Plakat für eine „Aus-
stellung der lebendigen Kraft“ . . . Noch keine Stadt
habe ich gesehen, die einen so einheitlichen Stil durch
einen einzigen Mann bekommen hätte wie Berlin durch
Bernhard . . . und seine Nachahmer. Denn das muss
ja einma! gesagt werden, dass er der erste war, der
die pathetische Wirkung des schwarzen Hintergrundes,
der schwarzen Schatten entdeckte, der statt der Unter-
streichungen dicke Lineale unter die Worte setzte,
giftgrün oder blassrosa, der statt der Punkte magische
Fünfsterne anwandte und statt der Buchstaben Run-
dungen eines dicken Pinsels . . . „Der Grundzug
meiner Kunst“, sagte er mir einmal, „ist Faulheit. Ich
male aus Faulheit.“ Sehr gut. Aber aus einer genialen
Faulheit, muss ich hinzusetzen. Einer seiner ersten
Aufträge war, ein Titelblatt für die Zeitschrift „Das
Leben“ zu machen. Welcher Anfänger hätte nicht
seinen Stolz darein gesetzt, durch recht ausführliche
Zeichnerei seine Originalität zu erhärten. Bernhard
der Faule machte drei Rhomben. Drei grosse Rhom-
ben, sonst nichts, in wilden Farben. Damals fiel er
mir zuerst auf als etwas ganz Seltsames, als irgend
etwas wie eine idyllische Dampfmaschine, ein ameri-
kanisches Arkadien. Und so hat er die Grossstadt
erobert, der verschwendrisch Sparsame [(was will das
Plakat, das Warenhaus, die ungeheuere Entfernung mit
ihren schnellen Eisenbahnen, das ganze moderne Leben
anderes als im Menschen immer die doppelte Illusion
erwecken: dass er sich stürmisch hinwirft und dass er
sich zugteich energisch zusammenhält) . . . Heute be-
herrschen die Bernhardschen Farben (das Gelb-Violett-
Grau des feingeschwungenen katholischen Stiefel-
Plakates), seine vollgefressene Antiquaschrift und seine
haarige Fraktur, seine Einrahmungen in Gestalt un-
regelmässig punktierter Ellipsen alle Wände, alle Bücher,

alle Zimmer. Fällt nicht an jeder Strassenecke der
violette Ritter in die Knie, mit seinem orangenen Bart
(den er nächstens vor Trübsal aufessen wird)? Be-
völkern nicht die lichten Windhunde, die lehmgelben
Affen, die zigarrenrauchenden Kobolde, aber auch die
zierlichen Gibsonmädchen in fruchtbar ausgeheckten
Horden alle Strassen? . . . Man unterschätze das
nicht! lch glaubte, der Fremde in Berlin, eine Weile,
dass auch die blauen Strassentafeln an den Ecken von
Bernhard stammen. Und dies ist ebenso, nicht etwa
in höherem Grade, falsch, wie sämtliche Bemerkungen,
die ein Fremder über eine Stadt macht.

Max Brod

Kunst für Alle

So viel um Kypros

Um mit Edel milde verfahren zu können, will ich
glauben, dass er seine Besprechung über die Neu-
ausgabe der Madeleineschen Gedichtsammlung „Auf
Kypros“ vor dem Erscheinen der Nummer 41 des
Sturms verfasst hat. In dieser stiess Trust die Made-
leineschen Musenpuppen allen Lektüremasochisten ge-
waltig vor den triebschwülen Unterleib Ihnen musste
die Erkenntnis aufdämmern, dass zur Parnasspitze
kreisende Serpentinwege wildromantischer Nymphomanie
ebensowenig führen, als ein einziger männlicher Tritt
eines selbst liebesmüden Dichters das Trippeln hunderter
Versstelzfüsse zum Verstummen bringen kann.

Trotzdem sind für Edel die Madeleineschen Verse
noch immer „formvollendet und feingeschliffen“, und
obgleich sie schon vor fünfzehn Jahren unser Ent-
zücken waren, haben sie ihren alten Zauber bewahrt.
Edel „schlürft sie wie ein heimliches, süsses Gift, das
u n s berauscht und toll macht“.

Ich wollte gerne in das Lob dieses Giftes ein-
stimmen, wenn es uns nicht allein berauschen und toll
machen, sondern uns auch Edels zähen Pharisäermut,
über Kunst und Literatur zu schreiben, für immer
töten könnte. Aber das Gift hat nur die Kraft, so
lange an sich selbst nicht zu krepieren. als es von
einem Edel geschlürft wird.

Der Est-Est-Verlag verabreicht das Fuselgift in
einem kostbaren Becher von Büttenpapier, mit Zeich-
nungen „unserer berühmtesten Maler. Slevogt, Haber-
mann, Corinth, Heilemann, Th. Th. Heine, Walser,
Liebermann, Schulz und L e o n a r d stellten i h r e
Kunst in den Dienst von Kypros und
wanden ein duftendes Bukett seltener
Blüten.“ Mehr noch: ihre Zeichnungen durch-
schiessen das Prachtwerk.

Edel ist der Genuss des Madeleineschen Giftes
doch nicht gut bekommen, er schwatzt von der Kunst
wie ein vollständig Betrunkener, er tobt in der
Feuilletongummizelle.

Die Neuhellenen

Wenn ich ein Regisseur wäre, stolz und ehrgeizig,
einer, der nur Eigenes und Grosses schaffen will,
könnte ich der Lebensbühne nur noch Valet sagen,
ich müsste einen jähen Abgang durch ein Loch wählen,
nicht grösser als eine Revoiverkugel. lch müsste in

dem alles verdunkelnden Schatten des Theatertitanen
Reinhardt verzweifeln — bliebe mir nicht die Hoffnung,
eine Herostratostat begehen zu können. Ich müsste
den Musentempel der Vieltausenden, dessen Errichtung
am Tempelhofer Feld die Pythia Gabriele Reuter im
Orakel zu Mosse prophezeit, in Brand stecken können,
um doch wenigstens der Nachtheaterwelt meinen Namen
auszuliefern. Von der Mittheaterwelt ist ja kein grosser
Segen zu envarten. Sie ist ein schwindelhaftes Unter-
nehmen in den Händen einer Gesellschaft, die die
kostbaren Waren des assortierten Lagers der Ver«-
gangenheit verschleudert, ohne Furcht vor Konkurrenz
und Pleite Sie beherrscht den Markt vollständig, und
auch Jacobsohn, der sich einstmals republikanisch ge-
bärdete, hat festen Dienst genommen in der Söldner-
truppe des von Karl Hauptmann zum Kaiser des
Theaterreichs proklamierten Reinhardt. Er lässt jetzt
seine Über ihn verfassten Aufsätze in einem Buch er-
scheinen, das der Verlag Erich Reiss in wahrhaft «ach-
griechischer Sprache ankündigt:

Der Herausgeber der „Schaubühne“ legt uns
hier einen — sorgiich überarbeiteten
Teil dessen vor, was er als der in
jedem Betracht erste Mitarbeiter
seiner in jedem Betracht ersten
Theaterzeitschrift während eines Lustrums
geschrieben hat Dass es der wichtigste Teil
ist, dafür bürgt der Name des Mannes, um
den, als Mittel- und Zielpunkt, die Aufsätze
gesammelt sind: Max Reinhardt. Die über-
ragende Grösse dieses Proteus und
Prometheus der deutschen Bühne
wird in der von blutnaherLiebe,
d o c h n i e von blinder Verliebtheit diktierten
Darstellung Siegfried Jacobsohns nicht weniger
lebendig, ais die Werke, die aus den Händen
Reinhardts selbst zur Auferstehung gelangt
sind. Von dieser Zentralsonne aus
aber schiessen, wie es nur natürlich
ist, scharfe Strahlen zur Peripherie
hin, so dass das ganze Bühnenwesen unserer
Zeit transparent und das Buch damit zu
einem historischen Dokument von ungewöhn-
licher Bedeutung wird. Vor allem aber an
die Heutigen wendet es sich; an die zumal,
die in der Schaubühne weder Schillers
moralische Anstalt, noch eine blosse Ver-
gnügungsstätte sehen, sondern die im Spiegef
des Dramas ihr hundertfältig geteiltes Sein
zur Einheit erlöst und erhöht sehen wollen.
Diesen wird das Buch ein wertvoller Besitz
werden Denn mit der Konzentratr-
ons- und Kompositionskraft des
echten Sprachküns11ers deutet der
Autor ihnen ihrer Seele Erschütte-
rungen und läutert ihr dumpfes, passives
Ergriffensein zu lichtem, aktiven Begreifen.

Solche stilistische Schleifenfahrten weisen den Weg;
vom Zirkus nach Musentempelhof.

J. A.

Beaehtenswerte Bücher

Austührliche Besprechung vorbehalten
Rücksendung findet in keinem Falle statt

MAX DAUTHENDEY

Die Spielereien einer Kaiserin / Drama in
drei Akten.einem Vorspiel und einem Epilog
Verlag Albert Langen / München

Verantwortlich für die Schriftleitung
HERWARTH WALDEN / BERLIN-HALENSEE

Verantwortlich für die Schriftleitung in Oesterreich-Ungarn
I. V,: Oskar Kokoschka

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