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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 46 (Januar 1911)
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Selka, Hermann: Rachel
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0373

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Lust ist. Er liebt sie, aus einer Laune, Rachel gesund,
frei, glücklich zu machen.

In England treffen sie alle zusammen. Van Grooteu
und seine Tochter Rachel, Allan, der zufällig in
van Grootens Geschäft eine Stellung bekam, James,
der als Richter dahin versetzt wurde, Hooker, der auf
Rachels Wunsch aus Aegypten Iherübergekommen war
und ebenfalls in dem Geschäft eine Position erhalten
hatte.

Diese vier Männer und diese eine Frau leben dort
zusammen. Van Grootens Haus ist der Sammelpunkt
für sie und nur für sie.

Auch Simon Jumaisohn lebt in der englischen
Stadt; auch ihn hatte die Sehnsucht nach Rachel hier-
her getrieben. Sie soilte nicht erfüllt werden, seine
grosse, tiefe, reine Sehnsucht. AIs ihm das klar wurde,
gab er sich deu Tod.

Die anderen aber lebten und liebten weiter. Eine
geraume Zeit, ein paar Jahre ging das so. Jeder glaubte
an Rachel. — Und maachmal, wenn die Minute merk-
würdig war, sprach er davon zu einem der Männer.
— Nur Hooker nicht. Hooker sagte niemals einen
Ton 'über sein Verhältnis zu Rachel, er blieb ewig
ruhig, er war seiner Sache, seines Sieges ganz
sicher. —

An dem Tage, als das Schreckliche eintrat, war
er eben so ruhig, wie gewöhnlich, keine Miene ver-
zog er, mit der grössten Sicherheit und Festigkeit —
log er.

So retteten Hooker und James AHan. So kant
es [nie heraus, dass er der Mörder van Grootens
war, dass er ihn aus Eifersucht erschossen hatte.

Hooker konnte dieses Geheimnis tragen. Sehr gut
James und Allan gingen daran zugrunde. Die Last
ward ihnen zu schwer — Allan endete durch Selbst-
mord. James verliess seine Stellung, zog sich in sein
Heimatdorf zurück und Iebte dort in Einsamkeit, ein
lebender Toter.

James schrieb dort in seiner traurigen, elenden Muse
diese merkwürdige Geschichte auf.

* *

*

In der Form von Aufzeichnungen des Unter-
suchungsrichters James Temple hat Karin Micha-
elis, die Verfasserin des vielgelesenen und vieldebat-
tierten Buches „Das gefährliche Alter“ ihr neustes
Werk gegeben: „Rachel, ein Ghettoroman“. Der Unter-
titel führt irre. Es ist kein Ghettoromann. Alles predigt
sich im Hause des Engländers van Grooten ab. Ledig-
ich die kurze Einleitung führt in das Amsterdamer
Ghetto.

Aber die Skizze lässt erkennen, wie tief die nor-
dische Dichterin in das Wesen des Judenghettos ein-
gedrungen ist.

Man wird den Roman „Rachel“ viel lesen. Man
wird sich mithineinziehen lassen in den Trubel des
Ieise Geschehenden. Das ist das Eigene und das
seelentief Bewegende in diesem Werk: die zauber-
hafte, erschreckende Stille, mit der alle schwereH
Katastrophen sich abspielen. Es ist vielleicht nicht un-
möglich, „Rachel“ einen psychologischen Schauer-
roman zu nennen. Die Seelen werden aufgewühlt,
bis in ihre fernsten Falten legt sich die schwere Mystik
dieses Buches.

Schlaflos werden unsere Nächte, unruhig unsere
Tage. Wir denken nach. Es gibt Menschen unter
uns, die tragen schwer die Bürde des Lebens. Denn
sie müssen schweigen, sie dürfen nicht reden, oder
nur zu denen, die genau dasselbe sagen wie sie.

Ja, es gibt noch Leid auf der Welt. Ganz ver-
borgen. Und wohl mancher wird es fühlen. Mit
Freude, mit Lachen, mit Vergnügen wollte er es bannen.
Und nun kommt es doch hervor. Und beherrscht ihn.
Vollständig. Und doch wird er ruhig. — Denn es
kommt ihm zum Bewusstsein: weit besser ist es, sein
tatsächliches Leben zu leben, und sei es noch so
traurig und kummerschwer, als ein Scheinleben. Ewig
ein Lächeln, ein Witzwort bereit haben zu müssen,
ist tausendmal schlimmer als grosse, wehe, ungeweinte,
nie zu weinende Tränen sein zu nennen, in vollem
Bewusstsein.

Man soll dieses tiefe, merkwürdige Buch der Karin
Michaelis lesen. Diese komische Geschichte, wo vier
Männer um die Gunst einer Frau werben, wo vier
Männer um einer schönen Frau Liebe werben, die sie
selbst nicht besitzt.

Hermann Selka

Der Roman erschien im Verlag Concordia Berlin

Die Gerte /

Max Fröhlich

Als sie grösser wurde, missfiel ihr das Ghetto,
diese engen, dunklen Gassen Amsterdams. Ihr Pflege-
vater wollte nicht aus der Judenstadt ausziehen. Sie
ging. Wohin? Niemand weiss es.

In Aegypten finden wir sie wieder. Eine blühende
Jungfrau. Sie übt eine unumschränkte Gewalt auf van
Grooten, den Grosskaufmann, aus. Da sie seine Gattin
nicht werden will, adoptiert er sie. Siu willigt ein, nicht
gern, aber sie folgt ihrer Natur. D.:nn er hat, was
sie braucht: Geld.

In Aegypten wird sie von einem Eseltreiber, der
sie in die Berge bringen sollte, vergewaltigt; er küsst

sie und schlägt sie. Und Rachel ist votler Seligkeit,
sie liebt ihn und — ermordet ihn. Im Sande ver-
scharrt sie seine Leiche. Kein Mensch erfährt von dem
Morde. Nur ihr Pflegevater errät es. Sie zwingt ihn
zu schweigen und schickt ihn fort. Nacb England.
Dort hat er sein Geschäft, seine ständige Wohnung.

Rachel bleibt in Aegypten. Sie erwählt einen an-
deren jungen Eingeborenen zum Geliebten. Aber er
kann den Eseltreiber nicht ersetzen. In ihrer seelischen
Zerüttung lernt sie Hooker kennen. Sie liebt ihn und
er liebt sie. Nicht mit der Tat, nicht mit dem Ge-
danken, sondern weil er es eben will, weil es ihm

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