Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

DOI Heft:
Nr. 31 (September 1910)
DOI Artikel:
Pudor, Heinrich: Frühling in Finnland
DOI Artikel:
Walden, Herwarth: Die schönste Frau
DOI Artikel:
Walden, Herwarth: Von der Operette und vom Tode
DOI Artikel:
Adler, Joseph: Die Wiederkäuer
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0252

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
land, mein Kind, wo gestern noch das Holz jm
Froste knarrte, wo gestern noch die Menschen Vor
Kälte schauerten; heute bin ich bei dir; da hast
du mich, ich bin liebetrunken, ich vergehe vor
Sehnsucht nach dir, ich wili von dir umarmt sein,
dich brennen fühfen ...“

Und die Menschen kamen aus ihren Zimmern
und ergingen sich in der warmen Luft — leise
kamen sie — wie ein Wunder schien es ihnen —
brünstig sogen sie die l'aue Luft ein. Und am
Abend, ehe sie sich niederlegten, öffneten sie die
Fenster und Türen, und schliefen nicht, um zu
träumen vom Frühling.

Die scbönste Frau

Ich bin jetzt endgültig gegen die Lebensfreude.
Die neue Operette im Theater desl Westens hät mir
den Rest gegeben. Da es nicht mehr möglich zu
sein scheint, in ein Theater zu gehen, ohne Herrn
Rüdoff Lothar persönlich oder künstlerisch zu be-
gegnen, wird man leichten HerzenS auf Vergnügen
verzichten, die allenfalls für reichgewordene Bäcker-
frauen und Berliner Lebemänner genügen. Kürzlich
fuhr ich in der Stadtbahn. Im Nebenkupee unter-
hieften siCh einige Herren sehr lebhaft über die
Talente des nicht zu vermeidenden Herrn Lothar.
„Denken Sie sich, da klängelt neulich Bote & Bock
bei Dr. Lothar an und fragft, ob er ihm bis zum
nächsten Tage um fünf Uhr einen Operettentext
schreiben könnte. Der Komponist brauche ihn aber
bestimmt um fünf Uhr. Und waS gfauben ßie.
Lothar nimmt daS an, und pünktfich zur festge-
setzten Stunde ist das Libretto fertig gewesen. Das
kann ihm niemand nachmachen.“

iCh bestreite es. Und begreife niCht, wie Iman
zu einem derartigen ungereimten gereimten Blödsinn
vierundzwanzig Stunden braucht. Wenn daS Zei^g'
nur gesüngen würde! Aber Herr Lothar ist im-
stande und iäßt es drucken. Er wird zusehends
poetischer und verekelt der Menschheit allmählich
selbst die harmlosesten Freuden. Jetzt spuckt seine
Lyrik sOgar in die Tasse Tee.

Wenn ich den goldnen Tee
In weisser Tasse seh,

Wenn aufwärts in die Luft,

Steigt sein balsamscher Duft,

Umgibt mich wundervoll immer
Des Zauberlandes Schimmer;

Die indische Märchenwelt,

In siissem Bann mich hält.

Ein Tropfen Vergessenheit,

Ein Tropfen Seligkeit,

Als spielte des Qanges Welle
Vor meiner Seele Schweile.

Der heisse Trank belebt mich,

Der goldne Trank erhebt mich.

Die Sonne des Südens ich glühen seh
In einer Tasse Tee.

Das sind Herrn Lothars Erfebnisse bei einer
Tasse Tee. Nimmt es Wunder, daß ihn ein Wafzer
übersinnfich maCht?

Was kann es schönres geben,

Als so im Walzer schweben,

Umgaukelt von Melodien
Zu fliegen dahin?

Von Tönen emporgehoben,

So schweb ich nach oben,

Hoch über der Erde Leid,

In Seligkeit.

Das ist die ernste Muse. Sie kann auCh schef-
misCh werden:

Ich streiche meines Muffes Pelz
Und lächle mit der Zähne Schmelz,

Ich bl'cke gradaus, frank und frei,

Und Koketterie ist doch dabei.

Doch beim Trank wird säe naturgemäß refigiös:

Solch ein edler Wein
Will getrunken sein,

Dazu hat ihn Gott gemacht,

Gottes Wille sei vollbracht!

Schfießlich vermag die Lotharsche Muse über-
sinnfich und schelmisch zugleich zu sein:

Nehme ich den Kelch zur Hand,

Perlend steigt der Sekt zur Hand
Und die Gläser klingen fein,

Wie ein Silberglöckelein:

Klingen leise durch das Herz,

Klingen leise himmelwärts.

Und es spricht ein jeder Klang,

Ach, von WUnschen heiss und bang.

Nachbarin, so guck doch, guck,

Erst ein Blick und dann ein Schluck.

Wenn sich abcr affes in Lothar empört, weiß
er audi kräftigere Töne anzuschfagen:

Die Lebensart ist schön und gut,

Jetzt aber schäumt in mir das Blut,

Ich schrei es wild und laut:

Jetzt fahr ich aus der Haut.

Das Publikum aber auch. Nur Herr Lothar
wird sich schwer hüten, es zu tun. Er hat recht.
Denn so lange ihm die Hoffnung bleibt, daß jemand
dies blöde Gestammel verfegt, ein änderer es an-
nimmt und aufführen fäßt, ein dritter esl lob't und
ein vierter es kritisieren muß, so fange hat Herr
Lothar stagar ein ReCht, sich im Lokalänzeiger
kritisdi zu äußern.

Irgend jemand schrieb zu diesem QuatsCh Musik
von versehiedenen schfcchten Komponisten ab. Und
der ganze Unfug wird im Theater des Westens
zu wohftätigen Zwecken für die Direktion aufge-
führt. Die Darstellung war der ganzen Angelegen-
heit würdig. Ich hatte feider ein junges wunder-
Schönes Mädchen mitgenommen. Es war zum
erstenmaf im Theater. Es tat mir leid. Trust

Von der Operette und vom Tode

Die Operettenfritzen werden immer dreister. Da
gibt es zum Beispie! einen Herrn Lehar, der ganz
nette Walzer schreiben kann. Dieser Herr besitzt
den Mut, sich mit Offenbach zu vergleichen. Und
noch dazu in lyrischer Form. Die Münchner (Neusten
NaChrichten sind„in der Lage“den ersten poetischen
Versuch des weftbekannten Operettenkomponisten
der gänzfich sprachlosen Oeffentlichkeit übermit-
tefn zu können.

Dass wir gefallen nimmt man uns übel
Und Wirft uns oft in einen Kübel
Mit Dilettanten der seichten Musik —

Gern bräche so mancher uns das Genick.

Uns aber schreckt nicht die kriegrische Meduse,
Wir opfern weiter der heiteren Muse,

Es gehn unsre Weisen von Mund zu Mund
Wir sind ja doch mit dem Volk im Bund.

Und was den Niedergang anbelangt,

Vor dem der geneigten Kritik so bangt,

In alten Journalen ist’s nachzuschlagen:

Die Phrase stammt schon aus Offenbach’s Tagen.

Was einstmals ich furchtbar Verrissen fand,

Wird überall „klassisch“ heut genannt.

Vielleicht Wird die Ehre auch mir widerfahren, —

Ncin, Herr Lehar, Sie können es gfauben, öas
wird nie eintreten. Wenn Sie auch den feinen
UntersChied zwischen Ditettanten und Künstlern der
seichten Musik konstruieren zu wollen scheinen.
Soweit haben es die Künstter noch nie gebracht, mit
dem Volk im Bund zu stehn. Aber das Volk hat
einen gesunden Magen und verschfuckt schließliCh
auch Ihre Weisen. Natürlich riecht es nachher ent-
sprechend aus dem Mund. U n s, deß können Sie
versichert sein, hängt Ihre Musik schon aus dem
Hafee. Daran können auch Ihre Gedichte nichts
ändern. D i e Bfamage, Sie verkannt zu haben,
nehmen wir gern mit in die Ewigkeit.

Eine neue Methode berühmt zu werden... Man
suche sich einen mögfichst bedeutenden oder zum
mindesten berühmten Künstfer (am besten jeinen
Schauspieler) aus, und zwar zu einer Zeit, in der
das Objekt durCh schwere Krankheit wenig wider-
standsfähig ist. Dann pffege man diesen Künstler
treu bis in den Tod. Man versuche, dem Ster-
benden Erinnerungen zu entreißen, die sich später
in Memoirenform, autorisiert und in Halbfranz ge-
bunden bequem in den Handef bringen lassen. Be-
sonders empfehfenswert bleibt es, den Unglück-
fichen so zu belästigen, daß er keine Sekunde bei
Tag oder Nacht ohne den Anblick des „Freundes“
feben oder sterben kann. Denn es könnte sonst
der Fall eintreten, daß ein Journalist das Kranken-
zimmer betritt und sich nicht Von der Aufopfe-
rung durch Augenschein überzeugen kann. Wenn
man in den fetzten Wochen die Tageszeitungen las,
so konnte man meinen, daß der berühmte Schau-
spieler Birinski im Sterben liege und von dem ! be-
kannten Dichter Kainz gepffegt werde. In jedem
Tefegramm stand zu Iesen, daß der Herr Birinski
wieder einmal das Krankenzimtner betreten pder
verfassen habe. Kainz starb nicht, sondern Herr
Birinski betrat um zwei Uhr das SterbegemaCh,
um Kainz sterben zu sehen. „Die Wärterin sagte
zu Kainz: Sie meinen wohl, Herr Birinski könne
sich ruhig zu Bette begeben? Ein zustimmendes

Lächelh war die Antwort.“ Aber Herr Birinski Wird
sic’h hüten, dem Künstfer diesen Gefallen zu tun.
Der „getreue Pffeger und Freund“ kann doch in
den wichtigsten Momenten nicht seinen ange-
maßten Pfatz verlassen, nachdem er wochenlang
auf das Ereignis gewartet hat. Er paßt es ab,
und ist, wie tefegraphisch versichert wird, natürlich
in der Lage, Frau Kainz von dem schweren Schläg
in Kenntnis zu setzen. Aber das alles wird Herrn
Birinski niChts nützen, der Abgang war gut, aber
doCh ein Abgang. Ein ähnliches widerlich auf-
dringfiches Theater ist mir noch nicht vorgekom-
men. Birinskis Schauspief wird gespielt werden.
Es fäflt durch. Und wo nimmt er dann einen
neuen Künstfer her, der sich yon ihm zu Tode
pflegen läßt. So gütig, wie Kainz es war, ist nicht
jeder. Sonst zertritt man Ungeziefer. Doch sollte
Herr Lehar gefegentlich einen neuen Librettisten
brauchen, so empfehfe ich ihm Herrn Birinski.
L’ami de Kainz. H. W.

Die Wiederkäuer

Ich häbe d’Aurevillys' „Diner der Ätheisten“
sChon zweimäf gelesen, ohne von der Art des Diners
mehr zu erfahren, afe daß es jeglichen Freitag
auö Ffeisch und Fisch bestand, und daß die Gott-
fosen Kaffee tranken, als der junge Mesnilgrand
mit Seiner Erzähfung zu Ende war. Und so viel
ich weiß, hat auch RopS zu dieser Novelle keine
Illustration geschaffen, die den Kreis der Teuflischen
mit Gabeln und Messern hantieren zeigt. Nun
stehe ich seit einigen Tagen fast vor einem Rätsel.

„Jettchen Gebert,“ so sagt Robert Saudek im
Berfiner Tageblatt, „Georg Hermanns entzückend
gesChriebenes Kufturbild erfangte seinen Erfolg beim
Pubfikum niCht um seiner künstlerischen Qualitäten
willen, standern weil in keinem Buch der letzten
Jahre sta vief und so behaglich gegessen wurde.“

D’Aurevillys ältere Novelle fesselt, trotzdem der
Leser kaum erfährt, ob in ihr vief und behaglich
gegeSsen wird. Sie hatte keinen Massenerfofg. Aber
„esl müßte in der Tat mit unrechten Dingen zu-
gehen, wenn Erzählüngen Massenerfolge erzielen
könnten, ohne den Magen ihrer Leser zu befriedi-
gen“. Saudek muß uns’ eine LiteraturgesChichte
sChreiben. Er wertet die Güte eines Buches nach
der Wirkung, die es auf einen Gourmand ausübt.
Denn hat man als Feinschmecker seinen Magen
mit AndaCht gefüllt, kann man beim besten Willen
(AndaCht muß eine sehr sChwere Speise sein) in
diesfer RiChtung nichts mehr feisten, dann setzt man,
Von einem DiChter gefeitet, die liebe Tätigkeit jm
Geiste fort. „Denn man ist gebifdet und hat Phan-
tasie“.

Aber man fet nicht nur gebifdet und hät Phan-
taSIe, sondern man ist auCh gebifdet, um zu wissen,
oder weif man Öaä weiß, ist man gebildet, daß
die Geberts auffallend viel aßen und wenig tranken.
DoCh mit den „GebertS“ liält es nur ein Teil der
Berfiner Bevölkerung. Im allgemeinen ist sie trink-
fest wie der alte „Haindl“. Er schwört wohl hoch
und heifig auf sein Backhähndl, aber seinen Feu-
rigen muß er dazu trinken. Weif „der liebe Gott
bekanntfich Zeitbedürfnisse schafft und auch für
Befriedigung Sorgt, verfangte die Zeit (ob die Wie-
ner „Zeit“ gemeint ist?) nach einem VerherrliCher
der Wiener Küche. Und der Verherrficher kam.“

Dem Gott, der in daS Freibett der Zeit Bedürf-
nisse fegt, die nach Befriedigung lechzen, damit
jeder Kastrat an ihnen sich versuche, sei Dank
dafür gesägt, daß Wien, die Stadt der besten Küche,
seinen DiChter gefunden hat (einen würdigeren
konnte sie sChon nicht finden), nachdem ihn Berlin,
die Stadt, „in weteher der Kalbsbraten bekanntlich
federn sfehmeckt“, bereits gefunden hatte. An der
Jugend und an der Art der Panierung eines Back-
hähndfe soll der reichsdeutsche Leser der „Haindl-
kinder“ erkennen, waS afte Kultur vermag. Der
Reichsdeutsche Iversteht nach Saudek überhaupt nicht
zu essen, der tranchiert ein Backhuhn mit Messer
und Gabef, afe wenn es ein Schweinsrücken wäre,
während der Wiener Sein gebratenes Stück in die
Hand nimmt und das Mark aus den Hühnerknochen
saugt, „daß die Zunge vor Wonne schnafzt“. Und
_,,HaIt! Hier liegt derTrick. DerDichter könnte sehr
wohl ergänzen... wer du bist, aber er tut das nicht,
er überlläßt die Arbeit dem lieben Leser“. Dieser
ergreift auch die ihm zugedachte Aufgabe, gibt

246
 
Annotationen