Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

DOI Heft:
Nr. 44 (Dezember 1910)
DOI Artikel:
Strindberg, August: Zuchtwahl des Journalisten
DOI Artikel:
Scheerbart, Paul: Der Kaiser von Utopia, [4]
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0354

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Irgendwo müssen sie doch hängen; aber all dies
ist aus früherer Zeit, da weiss man nicht mehr Be-
scheid.

Ein junger Herr mit schwarzer Samtmiitze und
einer Farbenschatulle in der Hand war eingetreten und
auf dem grossen Gange stehen geblieben. Er warf einige
unehrerbietige Blicke iiber die Wände, Iegte den Kopf
zwischen die Schulterblätter zurück, guckte nach dem
Deckengemälde hinauf und zuckte die Achseln, wie
nur ein Kiinstlereleve die Achseln zucken kann, wenn
er etwas Geringwertiges sieht. Dann trat er direkt auf
die Frauen zu und fragte, wo Nummer achthundert-
undsechs hinge, das adlige Geschlecht achthundertund-
sechs.

Dariiber konnte Frau Lundin ihm Auskunft geben,
um so eher, als sie bereits am Morgen die königiiche
Leiter vor Nummer achthundertundsechs gestellt hatte.
Ein Klempner hatte nämlich das Dach eingetreten, als
er fiir den letzten Reichstag die „Tugenden“ reparieren
wollte. Die Folge war, dass es auf den Boden herein-
geregnet hatte, das Wasser durch die Zwischendecke
gedrungen war, sich durch die Gipsdecke hinunter-
gezogen und einen Wappenschild stark angegriffen hatte,
der gerade die genannte Nummer trug. Warum er
gerade die Nummer trug, das beruhte auf einem Zu-
fall, aber die Frauen glaubten, es herrsche wer über
den Zufall. Es war ein hässlicher Fleck in der Decke;
er sah aus wie ein Sumpf, aber aus dem Sumpfe
kroch eine rotbraune Schlange die Wand hinunter; sie
hätte sich auf achthundertundfiinf, achthundertundsieben
stiirzen können, auf jede einzelne von fünfzig Nummern,
aber sie ging an ihnen vorbei, als ob der weisse
Engel sein Zeichen auf sie gedrückt hätte, und traf
ihr Ziel wie ein wohlgerichteter Pfeil. Es schien nichts
ungewöhnlich an dem Wappen. Der Herzschild war in
drei silberne Felder geteilt, auf denen sich drei Hunde-
köpfe in Gold befanden; er war nicht mit einem Helm
oder einer Krone gekrönt, sondern hatte drei Pfauen-
federn, auf denen die Augen mit einer ungewöhnlichen
Naturtreue ausgeführt waren, so dass sie sich mit
wilden, schielenden Blicken umschauten. Aber jetzt
war die Schlange in den Federbusch gekrochen, hatte
mit ihrem schmutzigen Schleim die Augen überzogen,
so dass sie wie der graue Staar aussahen, und hatte
sich zwischen dem Laubwerk hindurch gewunden und
>hren grünen Eiter, den sie oben auf dem Kupferdach
zwischen den Tugenden gesammelt hatte, über die drei
silbernen Felder ausgegossen; an die Hundeköpfe aber
konnte sie nicht heran, denn sie waren von Gold.

Inzwischen war der junge Herr mit seiner Schatulle
die Leiter hinauf geklettert, und da sass er nun und
suchte einen Anlass seine Restaurierungsarbeit aufzu-
schieben, die ihm grade kein Vergnügen bereitete. Er
nahm eine kurze Pfeife aus der Tasche und wollte
Feuer schlagen, als er sich erinnerte, dass er an einem
besseren Orte sei, weshalb er der Artigkeit wegen den
Frauen die Frage hinwarf:

Darf man hier rauchen?

Oh, er sollte sich was schämen, antwortete die
ältere Frau.j

Darf man kauen?

Die Frau glaubte hierauf nicht antworten zu müssen,
aber erklärte bestimmt, dass er nicht auf den Boden
spucken dürfte.

Der junge Herr wartete keine weitere Ordre ab,
sondern schob einen Bissen Tabak zwischen die
Zähne und fing an, den norrköpinger Scharfschützen-
marsch zu pfeifen.

Das war mehr als eine alte Wanze ertragen konnte,
die hundert Jahre in einer Bank auf der Referenten-
gallerie gesessen hatte. Sie hatte allerdings viel von
der Welt gehört, viel verständige Reden, viel Quatsch
und recht viel Unsinn, aber niemals hatte sie jemand
an diesem Orte pfeifen hören.

Sie hatte ihre Kindheit in einem Heckenpfahl zu-
gebracht, dann sich in einem königlichen Glaswagen
niedergelassen, der sich an dem Heckenpfahl festge-
fahren hatte und war schliesslich dem Reichsmarschall
(als er mit den Regalien hinauffuhr) ins Ritterhaus ge-
folgt. Da sie _ihre angeborenen volkstümlichen Nei-
gungen nicht ablegen konnte, suchte sie ihren Platz
auf der Gallerie, wo sie immer auf den Duft von
feuchten Kleidern und Schuhwerk rechnen jkonnte.
Jetzt hatte sie indes fünf Jahre geschlafen, sie und
ihre neunundneuzigjährige Tochter, als sie beide von
dem neuen unbekannten Lärm geweckt wurden. Schlaf-
trunken stiess sie die Tochter in die Seite und bat
sie aufzustehen und nachzusehen, was es gebe.

Die kam nach einem Ausflug auf die Barriere

mit der Nachricht zurück, ein Malergesell (wenn er
das gehört hätte!) sei dabei, eine von den Platten an-
zustreichen. Dies Wort Platten sprach sie mit grosser
Verachtung aus, weil die Wanzen alles, was nicht von
Holz ist, gering schätzen. „Holz muss es sein!“ In-
dessen, die Neugier der Alten war geweckt, und sie
beschloss, in Begleitung ihrer Tochter die Reise anzu-
treten, um selbst die Sache in Augenschein zu nehmen.
Sie sagten der Referentenbank für kurze Zeit Lebe-
wohl, wanderten den Boden der Gallerie entlang
zwischen kleinen Haufen getrockneter Tabakstengel
hindurch und erreichten schliesslich die Wand. Darauf
begann eine Wanderung ;über die Platten, wobei die
Alte die Bemerkung nicht zurückhalten konnte, dass
einem jdie Füsse recht kalt würden, wenn man auf
dem dummen Eisen gehe. Die junge dagegen musste
dann und wann ihre Verwunderung über all die feinen
und wunderbaren Sachen, die sie sah, Luft machen.
Sie wanderten durch Wälder von Eichen; sie stiessen
auf Kobolde und Greifen und Schlangen und Drachen;
sie wanderten über Türme und Festen und Städte,
zwischen Stümpfen von Menschen und Tieren, zwischen
Kronen und Szeptern, Sternen und Sonnen.

Schliesslich erreichten sie das Dachgesims.

Halte dich fest, sagte die Alte, denn jetzt geht es
über die Tiefe. Wir wollen zu dem grossen Gemälde
mitten in der Decke, da haben wir Leinwand und
Oelfarbe.

Es war eine gefährliche Reise. Bald war ein Riss
im Gips, bald hatte eine Spinne ihre Netze ausgelegt,
bald stürzte eine verräterische Brücke aus Staub
unter ihren Füssen zusammen, ihr Leben schwebte in
Gefahr und sie waren nahe daran, Schwindelanfälle zu
bekommen und in die Tiefe hinunter zu stürzen.
Schliesslich rochen sie Oelfarbe; sie waren da. „Folge
mir,“ sagte die Alte. Und jetzt wanderten sie zwischen
Wolken dahin, bis sie zu einem Mantel der Svea
kamen. Da hatte der Künstler ein Halbpfund Karmin
in einer brillanten Falte aufgelegt. In deren Schutz
liessen sie sich nieder. Die Alte rieb sich die Augen
und spähte hinab: „Sieh nach, was für eine Nummer
auf der Platte steht“ „Achthundertundsechs,“ sagte
die Tochter sofort. Die Alte wurde gedankenvoll und
lehnte ihre Stirn gegen das sechste Hinterbein. — „Drei
Hundeköpfe; drei Pfauenfedern I Oh Solon, Solonl“

Jetzt war die Reihe an der jungen, von Neugierde
überfallen zu werden; und sie hörte nicht eher auf,
um eine Erklärung zu bitten, bis die Mutter ihr die
Geschichte von Achthundertundsechs zu erzählen ver-
sprach, die hier folgen wird, wie sie in der Eile von
einer Maus aufgezeichnet wurde, die auf der Referenten-
gallerie sass. #

Schluss folgt


Der Kaiser von Utopia

Ein Volksroman

Von Paul Scheerbart

x

Die Warnung

Am Sonntag Abend fand der grosse Gottesdienst
statt, der das Frühlingsfest alljährlich abschloss.

Der Kaiser Philander der Siebente stand hoch oben
im grossen Dom auf dem Säulenerker und segnete
das Volk, und zur Linken des Kaisers stand der Ober-
priester Schamawi und reichte die symbolischen Geräte.

Und die Orgeln und die anderen Instrumente, die
grossen Chöre und die Lichtarrangements gehorchten
den kaiserlichen Zeichen.

Schamawi stand etwas tiefer als der Kaiser, aber
so, dass dieser jedes Wort des Oberpriesters verstehen
musste, ohne dass andere Ohren als die des Kaisers
es vernahmen.

Und Schamawi, Philanders Oheim, sprach nun
Dinge, die mit dem grossen Gottesdienste garnicht
zusammenhingen.

„Es ist ein Unrecht“, sagte er mit gedämpfter
Stimme, „dass meines Bruders Sohn sich trennen will
von seinem Volke“.

„Es ist ja nur für ein Jahr“, flüsterte der Kaiser,
während auf seinen Wink mit c.em Zackenstabe zehn-
tausend elektrische Flammen in allen möglichen grünen
Flammen erstrahlten.

Aber Schamawi fuhr fort:

„Ich weiss, dass meines Bruders Sohn mehr will,
ihm passt das Volk nicht, und er will sich befreien
von diesem Volke, weil er sich für grösser und be-
deutender als dieses Volk hält. Und Philander vergisst,
wie furchtbar es ist, einsam dazustehen. Weisst Du
denn, wie es ist, wenn alle Dich nicht mehr sehen —
wenn sie an Dir vorübergehen, als wärst Du nicht
da — wenn sie nicht hören, sobald Du sprichst —
wenn sie Dich immerfort missverstehen, als sprächest
Du die Sprache eines wilden Tieres?“

Der Kaiser hob beide Hände empor, und brausend
tönten die grossen Sängerchöre.

„Mir ist“, sagte Philander der Siebente, „als wäre
das heute schon alles so — wie Du sagst.“

Schamawi fuhr fort:

„So ist es also wahr: Du willst Dich trennen von
uns und allein gehen — ganz allein. Philander, Du
weisst nicht, was Du tust. Du gehst schweren Zeiten
entgegen. Und ist es wahr, dass Du Dich auch gegen
unsere Gottheit, gegen den Volksgeist — gegen den
Geist der Menschheit, der nicht von Fleisch und Blut
ist — auch auflehnen willst — dass Du Dich auch
von ihm, der uns alle leitet, trennen willst?“

„Warum“, versetzte der Kaiser, „willst Du das von
mir jetzt wissen? Ich werde Dirs sagen können übers
Jahr — so hoffe ich.“

Die Orgeln dröhnten und die elektrischen Lampen
wurden alie rot, und Schamawi sagte scharf:

„Meines Bruders Sohn ist klug und weiss seine
Worte fein zu wägen, aber ich sehe, dass er sich auch
gegen den Geist, der uns führt, auflehnt — und das
wird Dein Verderben sein. Ueberlege Dir nochmals,
was Du vorhast. Was Du auch gegen das Volk sagen
magst, bedenke, dass der Grosse, der Unsichtbare, der
unser Volk führt — nicht dasselbe ist wie das Volk.
Philander, er ist für uns der Allmächtige — und Du
sollst bleiben bei ihm — schwöre mir — bei dem
Andenken an Deinen Vaterl dass Du mich noch
einmal zu Dir rufen willst — bevor Du Dich trennst
von ihm, der unser Aller Geist ist — der Geist unseres
Volkes.“

Leise sagte der Kaiser:

„Ich schwöre Dirs!“

Und alle Musikinstrumente und alie Orgeln und
alle Chöre donnerten in den Dom hinein, dass die
Wände bebten.

Schamawi seufzte tief auf, doch des Kaisers Augen
strahlten.

XI

Die Einladung

In Schilda hatte der Oberbürgermeister Wiedewitt das
sehr grob gehaltene Schreiben des Kaisers von Utopia
erhalten und die geheimen Regierungssekretäre und
die Ratsherren waren entsetzt. Einige von den Rats-
herren waren gleich bereit, die neuen Gründungen
wieder abzuschaffen. Aber da kamen sie bei Käseberg
und von Möllerkuchen schön an — die legten sich
mächtig für den Uniform- und Titularverein ins Zeug.
Und Moritz Wiedewitt hatte den gloriosen Einfall, den
Kaiser einfach einzuladen nach Schilda zu kommen.

Und diese Einladung lag nun auf dem Schreib-
tische des Kaisers, und der Kaiser sass vor der
Einladung und lachte laut auf, als er das zierliche
Schreiben las.

„Die Einladung kommt mir sehr gelegen“, rief er
schmunzelnd, liess sich sofort Bart, Perrücke, Kaiser-
mantel und kaiserkrone bringen und befahl, den
Staatsrat zusammenzutrommeln.

Es war Dienstag und der Staatsrat kam — natürlich
ohne Schulterfeder — zusammen.

Der Kaiser begrüsste die Herren leutselig mit der
Zigarre im Munde, liess Wein, Bier und ein kleines
Frühstück auftragen und zeigte die Einladung und er-
klärte den Herren, dass er nach Schilda fahren und
ein Jahr Oberbürgermeister von Schilda sein möchte.

Die Mitglieder des Staatsrates machten so grosse
Augen, dass andere Leute Angst gekriegt hätten. Das
Augenverdrehen genierte jedoch den Kalser keineswegs;
er erklärte vielmehr eifrig, dass ihm, da der Staatsrat
noch immer keinen Stellvertreter gefunden hätte, sehr
angenehm sein würde, wenn der Staatsrat den Ober-
bürgermeister von Schilda als Stellvertreter akzeptieren
möchte.

„Grandiosität“, rief der Zeremonienmeister Kawatko,
„der Moritz Wiedewitt soll Kaiser von Utopia werden?“

348
 
Annotationen