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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 19 (Juli 1910)
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Brod, Max: Über die Schönheit hässlicher Bilder
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Leppin, Paul: Daniel Jesus, [10]: Roman
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Wedekind, Frank: Fiorenza
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0153

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^ a?en. Was für seltsame, von mystischen Rtiyth’-
beherrschte Qestalten, und die Gesichter offen,
n8[> unschuldig, wie aus der „Wiener Mode“ . . .
Pjerfirmen stellen Ansichtskarten aus, lustig,
diese verschneiten Kapellen im Walde, die
°tographierten Liebespaare im Fortschritt der
Uationen, harmlose Ostergrüße, als Hasen ver-
^dete Kaninchen, operettenhafte Alpengletscher,
'd und Freud, Schusterbuben, Villa Miramara,
. 1jdkolorierte Unwahrscheinlichkeiten . . . Und der
«katessenhändler nebenan. Wie droilig zieht das
y seinen Karren voll von Chocolade Suchard,
• e abenteuerlich und unkontrollierbar wird auf
r s. en Päckchen der Tee gepflückt. Von einer
^■nflasche schwingt ein Herrenreit^r höflich uns
j n Zylmder entgegen, Spanierinnen verführen von
hservenbüchsen herab, an Bonbonnieren treten
e in einer Zauberposse Feen und Ritter auf, der
^osbader Sprudel plätschert auf jener Kolonne
J* Oblatenschachteln sechsfach dazu, manche
^napsfabrikanten ziehen Berglandschaften, andere
jP biederen Jäger vor, der die Pfeife auf den
’Ztisch stemmt, Herolde verkünden den Ruhm
(.Pischen Schaumweins, während Biscuits Pernod
■^^ihren rothosigen piou-pious Deutschland okku-

^ ich gehe heim, verlasse das populäre Ausstat-
la SStück des Täglichen. Doch auch noch zu
a„!? Se habe ich Unterhaltung genug, die Phan-
j. 'k der Zigarettenschachteln, die Etiketten auf
^.°rflaschen, märchenhafte Vaudevilleszenen auf
H^Jkassetten und Wandkalendern, Diplome, Reise-

c^Ond gar die geliebte Mappe japanischer Holz-

hialt! Zurück! . . . Japanische Holzschnitte sind
j^h anerkannt schön! Mir scheint, da habe ich
as sehr Blamables gesagt („gesagt“ ist Ziererei
ncin, geschrieben) . . . Doch die Grenze zu
0 en, das ist die Schw-ierigkeit dieser an sich
ej nfachen Sache.

i?. -bid ich sehe schon, daß die gesamte Mensch-
i?r nichts dringender bedarf, als mein neues System
Aesthetik, das ich gewissenhaft und mit fast
h öarischem Fleiß schon lange schreibe, jedoch
^ ^einem fünfzigsten Geburtstage erst, das ist
e,s Slebenundzwanzigsten Mai 1834 herauszugeben
ei,fest entschlossen bin.

mdes bin ich schon vorher für Abordnungen
durch diesen Aufsatz besonders in Verwirrung
^^etzten Erdstriche zu sprechen, täglich zwischen
ta j. Und drei. Um diese Stunde sitze ich sehr be-
kjj.h zu Hause und spiele Karten mit zwei gleich-
!jj! nnt en Freunden. Ach Gott, die Feerie dieser
•öcU Cn aui ^ en Spielkarten übertrifft doch alles.

Burschen mit müden, träumerisch-ver-
jir auten Augen turnen, kreuzen ein Schwert und
V? S^ UrnPf es Rapie 1". trommeln, flöten, tragen stolz
Vf ß e*® en Halskrausen, die gestickten Westen.
rjff Rot-Zehn schaut ein Amor ins' Publikum und
:kes dennoch seitlich das zinnoberrote Herz. Wel-
I^Lied spielst du, Knabe, in merkwürdiger Tracht,
^ürri* 11 * reuen Hunde vor? Gravitätische Könige,
Jhj ev°U trotz der zu kurzen Beine, wo sind eure

JJ^ffanen

*een

eure chimärischen Länder? .

Dann

t]re - 'vir den Skat weg. Und in den Taroks mit
'Sa n Sarazenen, Albanesen auf Vorposten, mit
inj .^stänzerinnen, Liebespaaren in Fes und Jäger-
siC[j’ i ugendlichen Eheleuten, die an der Schalmei
tiijj erSötzen, mit Wahrsagerinnen und edlen Rossen
^Kiot uns der Zauber der Levante, Lord Byrons,
Uer abenteuerliche .uft der Türkenkriege, vielleicht

r ^? euzzüge. Uns belustigt der heraldische Aar,
lt. tend seine altertümliche Devise in den Klauen
T.lji' »fndustrie und Glück“. Wir zittern für das
Sa' der edlen Dame, die zögernd den Gondo-
öc^ nicht anblickt und so gern entführt werden

K

,, 'renza

11 pfank Wedekind

^tn* n einem Lande, in dem kein Tag vergeht, an
Unst n‘ an nicht durch die Presse von einer neuen
^JbUchen Großtat irgendeincs über alle Maßen
Se*tsa n ^ eg iss€urs hört, muß die Tatsache etwas
berühren, daß eine an plastischen Figuren,
ramatik des Dialoges, an Bühnenwirkungen
^rt so reiche Dichtung wie die „Fiorenza“

von Thomas Mann vier Jahre alt werden, und in
diesen vier Jahren an nicht mehr ais zw’ei Bühnen
zur Aufführung gelangen konnte.

Durch ihre dichterische Größe und Schönheit
verdiente die „Fiorenza“ längst Repertoirestück an
jeder Bühne zu sein, die Sich für eine Pflegestätte
der Kunst ausgibt. Und jeder, ddr über Regie und
Bühnentechnik überhaupt nur mitsprechen will,
müßte in seinem Kopfe längst seine eigene In-
szenierung der „Fiorenza“ fix und fertig haben,
so gut wie man als selbstverständlich dasselbe in
bezug auf Goethes „Faust“ und Schillers „Räuber“
von ihm erwartet.

Und was geschieht statt dessen?

Die deutsche Bühne und Schauspielkunst
schweigen das vornehme Stüdc seit vier Jahren tot,
obschon es in seiner letzten Szene, dem Dialog
zwüschen SavonarCola und dem sterbenden Lorenzo
di Medici, das Erhabenste, Geistvollste und dra-
matisch Wirksamste enthält, was je in deutseher
Sprache für die Bühne geschrieben wurde.

Oder fehlt es etwa den übrigen zw’ei Akten
der „Fiorenza“ an dramatischen Wirkungen ? Der
erste biebet als Höhepunkt die Erzählung deSsen,
was im Dom geschehen ist. Der zweite bringt
die prächtige Künstlerschar, den Dialog zwischen
den Brüdern, dann den Liebesdialog zwischen Fiore
und Piero.

Trotzdem Iiegt das Drama seit vier Jahren so
gut wie brach und unsere Regiekunst Iäßt sich der-
weile von der Kritik in alle Himmel erheben, und
öffentlich das Elend und Sterben des deutschen
Dramas proklamieren.

Aus dem Glossarium Schauspielkuust ron Frank Wedekind /Ver-
lag Geortr Mlliler MUnchen

Daniel Jesns

Roman

Von Paul Leppin

Nenate Furtaetnsa*

Schuster Anton lag auf se'iner Lagerstatt ünd
starrte ins Finstere. Sein Gesicht war bleich im
Dunkeln wie eine Maske, und dn seiner Seeie ging
etwas Sonderbares und Großes, etwas Plumpes
und Schreckliches wie ein gefesseltes Tier im Kreis
herum, und er konnte es nicht erkennen. Seine
Augen sahen weiter und weit durch die Decke hin-
durch, durch die Wände und Dielen, sie sahen in
sich hinein, bis sie müde wurden und bis seäne
Lider zu brennen begannen. Sie far.den nichts.
Alles umsonst. Alles zu Ende. Er war allein und
mußte immer wieder diran denken, daß er, ein Gott-
sucher, jetzt nicht einmal mehr beten konnte, weii
seine Hände vertrocknet waren in der Angst vor
dem Bösen, das rings um ihn geschah, und daß sie
sich nicht mehr zu falten vermochten vor der
Gnade. Wo war Gott? Wo sein Reich, das er
erträumt natte in den langen und wirren Gebeten,
wenn die Mepschen zu ihm ihren zerbrochenen
Glauben trugen?

Seit einer Woche bereits w rar Margarete aus
dem Hause gegangen. Heimlich und plötzlich, wie
ein Gespräch auf einmal veretummt, und Anton
wußte, daß sie nie wiederkehren würde. Er schaute
mit roten Augen in die Nacht hinein, und die Dinge
und die Menschen wurden seltsam und furchtbar
in seinem Herzen. Sie waren zuweilen w rie Glas,
hinter dem er ihre Sehnsucht mit den heftigen,
verzerrten Fingern erkannte, die an den gläsemen
Wänden rüttelten und pochten, bis sie wund und
eitrig wurden.

Eine irrsinnige, haltlose Angst überfiel den
Schuster. Der Schweiß fror weiße Flecke in die
Haut seines Gesichtes und stand wie eln schlimmer
Aussatz auf seiner Stim. Er wußte nichts mehr.
Er hatte alles vergessen und fürchtete sich unsäg-
Uch allein im Finstern, vor seinem Gott und vor
der Sünde seines Weibes, die wuchs, wie ein un-
geheurer kahler Baum, vor dem er sich entsetzte.
Die Streichhölzer schlotterten in seiner großen
Hand, als er die Kerze anbrannte und im Spiegel
sein herbes, verfallenes Gesicht beschaute, weil er
sich erinnem wollte an seine Augen, die im Gebet
oft wie zwei Lichter standen, an seinen Glauben und
an sich selber. Ein fretr.des, blasses Gesicht fand
er im Rahmen des Spiegels, mit tiefen Schatten und
Furchen, die er nicht deuten konnte und nicht ver-
stand. Er suchte in seincm Geuächtnis nach eincm

Lled oder einein heiUgen Vers, der ihm helfen solite,
seine Einsamkeit zu ertragen, und er konnte sich
nicht besinnen. Es war alles ausgelöscht in ihm
durch einen geheimen, meuchlerischen Freve^, der
iyie eine finstere Säule alles verdeckte, was er früher
geliebt hatte. Seitdem sein Sohn Josef mit Marietta
zu den Sternen am Ende der Straße gegangen war,
blieb sein Haus einsam, und keiner kam mehr wie
früher, um zu beten. Eine fremde rätselhafte Macht
hatte sein Reich zerblasen und seinen Glauben zer-
löchert wie ein Sieb. Sie hatte die Seele seines
Weibes mit vergifteten Zangen gebrannt, daß sie
vor ihren eigenen Wunden, vor dem Schauer und
den Krämpfen ihrer Gierde irgend wohin geflohen
war, wo die Sünde ihren roten Mantel über sie warf,
daß sie sich nicht mehr schämen mußte vor sich
und vor der Demut, um die sie Gott bestahl, wie
eine Metze. Und die sie vielleicht verschenkte und
verwarf an einen, der darauf spie und mit dem
Fuß auf ihre letzte Würde trat.

Und wie im Taumel preßte Schuster Anton
seine Fäuste in sein Gesicht und schrie und dachte,
wie er bereits einmal in Angst und Trauer gezittert
hatte: Wo war der Feind? Wo war jener Prophet,
von dem das verzückte Mädchen gesprochen hatte,
als sie der heilige Schlaf überfiel, daß sie dann
sprach wie die Muttergottes selber, die sie im
Traume in ihrem Zimmer fand, und die sie Iiebte,
wie er seinen Gott geliebt hatte, als 1 er noch beten
konnte und sein Weib noch bei ihm Iebte.

Und keiner wird sein, der sich nicht vor ihm
beugen wird. Auch du nicht! Auch du nicht!

So hatte der Schlaf Mariettas zu ihm geredet,
und nun wußte er, daß sich die Worte erfüllten.

Auf der Erde lag er weithingestreckt und grub
seine Finger in den morschen Leib der Dielen.
Sein Gesicht schlug den Boden wie im Irrsinn und
immer wieder schrie es in ihm:

Wo war der Feind? Wo war der Feind? Um
Gotteswillen, wo war er nur?

Und plötzlich stand in der halbgeöfmeten Tür
die Zigeunerin vor dem Schuster. Lautlos, im
Dunkeln, war sie hereingeschlichen und sah ihn
mit glimmenden Augen glanzlos an. Sie stand,
ein schlanker, unbeweglichyr Stein und rührte sich
nicht.

Der Schuster hob den Kopf, und zwischen
Tränen und Staunen erkannte er sie. Ein feiges,
schmerzhaftes Entsetzen kroch an seinem Riesen-
leib empor und ein flackernder Schrecken zeigte
ihm wie eine Vision den T^g, an dem er damals
mit dem Fuß nach ihr stieß, weil er in ihre hellen,
hungrigen Augen geschaut hatte. Die ihm auf ein-
mal alles sagten wie ein Buch. Der Feind! Der
Feind! hatte es damals in ihm gerufen, aber er
wußtc nun, daß sie es nicht sein konnte. Die
Zigeunerin war nur ein Bote, ein Rätsel des fremden
Gauklers, der ihm das Reich gcnommen hatte und
mit dem er die Menschen täuschte und belog. Wer
war es nur? Die Zigeunerin wußte es, und er
wollte sie fragen.

Er erhob sich, und sein verwüstetes Gesicht
sah zu Hagar hin, die reglos in einem langen Kleid
vor ihm stand^ das von ihrem Halse bis zur Erde
fiel. Und bevor er noch fragen konnte, sagte sie
ihm alles in ein paar Worten, von denen jedes
wie ein zersprungenes Glas kiirrte.

„Schuster Anton, dein Weib ist in der Villa
Jesus, im Bett des reichen Daniel, und sie küßt
seinen Buckel wie ein Kruzifix. Sie hat die Haare
wie eine Krone um den Kopf gebunden, und Daniel
lacht und gibt ihr heute abend ein Fest in der
Villa.“

Der Schuster wurde bleich wie ein Gestorbener.
Nur der Mund brannte in seinem breiten Gesichte.
Sein großes Herz blieb stecken wie eine Schraube.
Er hob die Hände und warf den Kopf in den
Nacken, und schrie, schrie wieder und wieder wohl
zwanzig Mal den einen Namen zur Decke, vor dem
er sich so gefürcntet hatte und der nun schwarz
und drohend in seiner Seele klebte. Der Prophet
— der Prophet — Daniel Jesus!

Erschöpft und blind von Blut und Entsetzen
fiel er zu Füßen der Zigeunerin und weinte in
einem seltsamen, wunderlichen Schmerz, der ihn
verzehrte, der alle Sehnsucht in ihm nahm und
seine Kehle bitter machte wie Fäulnis. Er fühlte
die Hände der Zigeunerin, die scinen Hals betaste-
ten, und hörte ihren Atem, der sein Haar verbrannte.
Er war wie eine Mauer, in die ein Sturm eine
Lücke gerissen liat, wie eine Tür, die jemand auf-


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