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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 26 (August 1910)
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Hiller, Kurt: Über Kultur, [3]
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Oppel, Arnold: Weg vom Vorfrühling
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Ehrenstein, Albert: Der Fluch des Magiers Anateiresiotidas
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0208

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Geschenken des Lebens, zu Menschen, Natur, Ge-
staltungen der Kunst: da lächelt uns dann ernsthaft
und w,ässrig die moralisch nüancierte Schlichtheit
des Landpfarrers, die herzige Ahnungslbsigkeit
des Gänselieschens, die sentimentale Begrenztheit
des Ladenschwengels und die impertinente Lfnduld-
samkeit des Börsianers aus ihren bebrillten Ange-
sic'htern entgegen. Das sind dann die Herrschaften,
denen, trotz jahrzehntelanger Beschäftigung mit den
Schriften der Denkheroen, die anthropolbgischen
Typen des Forschungsreisenden oder des sozial-
politischen Agitators oder des treuen Beamten —
Gipfel der Menschheit bedeuten, denen ein Bier-
sdierz Fritz Reuters, ein Kapitei 1 vom Camenzin-
dischen Seichpeter, der vollzählig ausgestirnte Nacht-
himmel oder ein mäßig gemaltes Stück Odejiwald mit
Kühen — Gipfel 1 des' Geistes und der Schönheit sind;
Herrsehaften, die, in unbewußt-richtiger Erkenntnis
ästhetischer Zurückgebliebenheit und Plebeität, fort-
während nach Einfachheit und Volkskunst schreien;
aber vor alles Neue, das tiefer, zarter und verwickelter
ist, mit spöttischer Ueberlegenheit, dem bekannten
Mienenspiel des Unverstandes, hintreten und onkel-
haft-feixend es „maniriert“, „pervers“, „überspannt“
oder „dekadent“ nennen. DiesC Schär — um ein
Wort aus dem „Wiilen zur MaCht“ heranzuziehen —
„sie nimmt die Partei der Idioten und spricht einen
Fluch gegen den Geist aus“. Das nennt sie dann
„wissenschaftliCh“' und „gesund“.

Es ist der extreme Flügel des Intellektualismus,
der sich in seiner Taktik gegen das Erlesene eng
berührt mit der äußersten Nichtintellektualität, mit
den Bäurisehen und den Bourgeois. Trotz der Stil-
reinheit, die ihm die raffiniert-einseitige Ausbildung
des Verstandesmechanismus verschafft, ist er von
„Kultur“ so unermeßlich weit entfernt, durch un-
überbrückbare Klüfte von ihr getrennt — dieser
Geist der deutschen ProfessorenphilOsophie, diese
unbeseelte Phalanx der Nur-Begrifflichen, die
kalten Dämonen der Erkenntnis’ (mit Nietzsche zu
reden) oder, etwas weniger feierlich: die H o 11 e n -
totten der reinen Vernunft.

Aber ebensö kulturfeindlich ist die Gegengat-
tung: der deutsche „Dandy“; dessen Prototyp Herr
Richard Schaukal in seinem Andreas von Balthesser
geschaffen hat; der indes auCh die idealen Land-
schaften des Herrn G. Ouckama Knoop bevölkert
und sich selbst bei viel feineren Geistern, wie etwa
bei Herrn Oskar A. H. Schmitz, einiger Beliebtheit
erfreut.

Allerdings war es längst notwendig, Protest
einzulegen gegen die Gleichgültigkeit, mit der man
in unserem Vaterlande die Formen behündelte,
gegen die Geschmacksverwilderung, die im Auf-
treten und in den Kundgebungen deutscher Intel-
lektueller einriß und diese dem ständigen Spott
des eleganteren Westeuropa aussetzte; gewiß mußte
einer hypertrophisChen Cerebralkultur einmal der
Spiegel vorgehalten werden, damit sie sehe, wie ab-
stoßend ihre Gesichtszüge und wie lächhaft ihre
Geberden seien: aber wenn dergleichen Bestre-
bungen dahin tendieren, zu Gunsten einer Exteri-
kultur die Cerebrale zu beseitigen, so wird man
sein Veto einlegen müssen. Herr von Balthesser
steCkt die „kultivierten“ Menschen in den Moquier-
rahmen der Gänsefüßchen, und alies, was sie in
Anspruch nimmt, sie aufregt, das, in dessen Besitz
sie sich erhaben fühlen, das ist ihm so gleich-.
gültig wie ein unappetitlicheS halbgeleertes Bier-
glas. Die wahre Kultur, predigt er, liegt in der
Korrektheit von Kleidung, Gestus und Benehmen;
das Gespräch erzogener Menschen meidet jegliche
Auseinandersetzungen. Nur kein Hervorkchren von
Individualität; nur kein psychologisches Gezappel;
nur kein Brüsten mit WesentliChkeiten! Gute Gesell-
sChaft ist ohne Meinung, Urteile in der Causerie
sind ein ZeiChen schtechter Erziehung, und zu den
Aufdringlichsten gehört ein Mensch, der sich recht-
fertigt. Was ist für Herrn von Balthesser das Ekel-
häfteste, was er auf der Welt kennt? „Der Schön-
geist... der im Coenakel gefeierte Schriftsteller, der
den Weltmann spielt und auf Schritt und Tritt
Nüancen fallen läßt wie Knallerbsen“ — eine für-
wahr diabolische Karikatur des Typs, den wir Un-
heilige lächelnd als heilig Verehren: Lord Henry
Wottons.

Diese sozusagen morphologisChe Wer-
tung der Persönlichkeit, dieser Grundsatz, das Heer
der Menschen nicht unter dem Gesichtspunkt ihrer
intellektuellen und musischen Valeurs, sondern unter

dem Ges’ichtspunkt ihres somatischen StilS einzu-
teilen, diese Ethik des geordneten Scheitels, des
monistischen Oberhemdes und der Ungeistigkeit,
die unter den gesChtnaCkvoIl angezogenen, sport-
liebenden und sensitiven, aber unbedeutenclen jungen
Leuten neuester Salons so zahlreiche Anhänger zählt
— sie irrt sich eigentlich in ihrer Nomenklatur; denn
mit dem „Dandysmus“ der klässischen Pariser De-
cädence und Oscar Wildes hät sie gar nichts gemein!
Nicht nur, weil ihr völlig der ironische Timbre
fehlt, sondern hauptsäChlich aus diesem Grunde:
der klassische Dandysmus geht auf bestimmte neue
Formung der Geistigkeiten, der deutsche auf Ab-
schaffung der Geistigkeiten; der klässische spricht
das Tiefe in eineni gewissen heiteren Tonfall aus,
der deutsche spricht es gar nicht aus; und wenn
Hugo Von Hofmannstlial klagend feststellt, es fehle
bei uns den repräsentativen Dingen an Geist und.den
geistigen an Relief, so übersieht der deutsche Dandy
die erste Hälfte dieses Satzes und mißversteht die
zweite; denn er sorgt zwar fanatisch für Relief,
aber verleiht es nicht den geistigen Dingen... Das
ist die Formel dieses UntersChiedes: Der klas-
sische Dandy protestiert mit Grazie
gegen den intellektuellen Ernst, der
deutsche Dandy protestiert mit Ernst
gegendieintellektuelleGrazie. Und was
noch obendrein den deutschen als läppisch er-
scheinen läßt: er protestiert gegen das Protestieren,
er macht Opposition gegen den Typus des Oppo-
nenten, er veraChtet voll Begeisterung den Enthu-
siasmus. So werden das Balthessertum und die
ihm verwandten Richtungen in Leben und Litteratur
zu Beispielen dessen, was man eine Real-Unlogik
nennen kann: indem sie ihre Theoreme ausspre-
chen, handeln sie ihren Theoremen zuwider.

Kultur naCh unserem Begriff also bedeutet nicht:
hloße Verfeinerung einer einzelnen Funktion; auch
nieht: eine Addierung von zufälligen Verfeinerungen
verschiedener Vermögen; eher schon: eine Verfei-
nerung des Unsagbaren, das zwischen ihnen fließt;
eine synthetische Verfeinerung der Ge-
samtheit eines geistigen Daseins. Dem kultivierten
Menschen weist seine Kultur überall a priori den
Ort an, von dem aus er die Oegebenheiten des so-
zialen Lebens, der Philosophie, der Kunst betrachte;
ganz instinktiv, ohne daß seine Kriterien ihm immer
bewußt werden, fühlt er überall heraus, wo etwas
gesteigert, verfeinart und neuen Wesens ist. Und
falls er selber schafft, so wird jedwedes, das er-aus
sich herausstellt, das Cachet des höher differen-
zierten Geistes tragen (wenigstens für ein kenne-
risches Auge); alles, mag es nun ein Liebesibrief
oder ein Fachaufsatz sein.

Diese Eigensch|a,ft der synthetisChen Verfeine-
rung, „Kultur“, Ifat mit besonderen, für sich be-
stehenden Fähigkeiten, „Talenten“, sehr wenig zu
tun. Man kann völlig talentlos sein und doch Kultur
haben, sb wie man völlig kulturlos sein und
dennoCh Talente besitzen kann. Mehr ähnelt dann
schon Kultur dem Genialen; als einem Fluidum,
das die Gesamtpersönlichkeit durchdringt in allen
ihren Aeußerungen; ate einer Sache, die man nicht
wegzudenken vermag, ohne zugleich den ganzen
MenSChen wegzudenken. Freilich istdas Genie schöp-
ferisCh 1 und unterscheidet sich darin fundamental
vom Nur-Kultivierten; allein, was man so hiäufig
vom Genius gesagt hät, daß er die Besonderheiten,
Ideen und Begehrungen Seines Zeitalters in seiner
Seele zusammenraffe und in seinein Einzel-lCh ver-
körpere, daß der Geist seiner Epoche sich in ihm
kondensiert habe und aus ihm nun wirke —: das
gilt gerade auCh Vom KulturmensChen.

So überbrückt dieser durCh 1 sein einfaches Da-
sein jenen bösen Abgrund, von dem Simmel spricht;
und was weder dem Gebildeten, noCh dem Begriffs-
schmied, noch dem geistfeindlichen Aestheten ge-
Iüngen ist und je gelingen kann, das gelingt dem
Kultivierten, dem Wesen der synthCtischen Ver-
feinerung.

Sofern aber diese Eigenschäft dem, der sie hat,
bewußt wird und er allesi daran setzt, sie zu be-
wahren, zu pflegen und zu steigern, sie auch, wo
es nottut, in ihrem Werte zu rechtfertigen — verliert
das Ideal, das hier entwickelt wurde, all jenes Pas-
sivistische, das ihm zunächst wohl anhaftet und
das es ethisch gestimmten Naturen vielleicht anti-
pathisch oder verdächtig ttiacht. Dies Passivistische
verschwindet; denn was bisher nur Qualität ge-

wesen, transformiert sich alsdann in Gesinnujig.
Ein starkes Willenselement mischt sich bei, und die
Werte, die man meint, wenn man von „Charakter“
redet, erhalten Gelegenheit, sich zu realisieren. Und
dieS in der Tat ist es, was ic’h an einem Menschen,
wenn nicht am höchsten sChätze, so dodh am lo-
derndsten liebe: die kulturelle Gesinnung.

Ich hoffe, man darf heute endlich wieder un-
gestraft und unbetadit das Wort „Ideal“ ausspre-
chen. Den Bemerkungen wohnte ate Leitmotiv inne
das Ideat der PersönliChkeit, wie es mir vorschwebt.
Ideale lassen siCh durch Vernunftgründe niemals le-
gitimieren; ihr oberstes Kriter bleibt stets ein Wille.
Und wenn viel GlüCk zusammentrifft, dann findet
soldier Wille Gefährten. Gefährte aber ist in diesen
heiklen und schwer faßbaren Dingen, in diesen
zwisthenrassigen Wundersamkeiten, die jenseits des
Atltags 1 und jenseits der Wissenschaft ihre irisie-
renden Flügel entfalten, schön der Verstehende.

Weg im Vorfrühling

Von Arnold Oppel

Daß mir aus Wald und weitem Seegelände
Vorfrühlinghaft milde Verheißung blüht,
kann ich nicht missen. Und so neue Spende
beschwert mit Fülle meine leeren Hände:
Geburtenbang strömt reiner mein Geblüt.

Wie meine Sinnen erdenwärts sich neigen,
fühl ich mit Wald und Wolke mich vertauscht;
und meines eignen Daseins Flüten steigen,
wenn mir zu Häupten in den heilen Zweigen
der Frühlingswind wie hohe Brandung rauscht...

Der Fluch des Magiers
Anateiresiotidas

Von Albert Efcrenstein

In einer al'ten Handschrift, an Hundert Jahre
vergilbter als die Stormschen zu sein pflegen, habe
ich folgende wahre Geschichte gefunden, welche
nicht uneben in ein neueres 1 Deutsch gekteidet zu
haben meine einzige Hoffnung ist, wejin nicht der
Trost meines Greisenalters.

Es war einmal eine Königstochter, Jezaide ge-
heißen, aus dem uralten Geschlecht der Sirvermor.
Ueber ihre Familie war, wie sonst nur in Märchen
gebräuchlich, ein Fluch verhängt, dessen Größe
groß war. O geiziger König Zizipe der Siebenund-
siebenzigste, warum hast du, ate einst zur Taufe
deines Erstgeborenen dreizehn glüCkwünschende
Zauberer erschienen waren, und der Hofjuwelier,
eingedenk trauriger Erfahrungen und Abzüge, er-
kllärte, die goldenen Stiefetzieher nur mehr dutzend-
weise abgeben zu können, warum häst du damats
die verhängnisVollen Worte gesprochen: „Ach was,
der eine wird sich halt so gefretten.“ Ja, er be-
gnügte sich diesmal mit einem silbernen Stiefel-
knecht, der große Magier Anateiresjotidas, in-
grimmig zwar, und so gewaltige Sprüche in seinert
Bart brummend, daß der vor SChireck jeden Moment
die Farbe wechSelte. Mit einem violetten Bart er-
schien er bei der königlichen Tarockpartie, zu def
er geläden war, und alle anderen Zauberer wußten,
wieviel Uhr es geschlagen hatte. Nur der König be-
merkte die Anzeichen fürchterlich aufziehenden Ge-
witters niCht, derart war er mit der Mondjagd be-
schäftigt. Er bot ihm in der Hitze des Gefechts
weder die Teilnahme, noch einen Stuhl an, viel-
leicht um sich nicht noch einen Hexenmeister zum
Feinde zu machen. Und so mußte AnateiresiotidaS
kiebitzen, stehend kiebitzen. Auch dies hätte def
Zauberer vielleicht noch ruhig hingenommen, abef
ihm öfferierte Zigarren trugen zwar die Leibbindeä
importiertester Havanna, waren jedoch mörderische
Schusterkuba. Diesmal hatte wiederum Hoftrafikant
Motschker die Upman nicht in minimaten Quanti-
täten zum Engrospreise liefern wollen und der könig'
liche Geizhals aus diesem Verhalten dieselben Kort'
sequenzen gezogen. Nur daß ein anständiger Hexert'
meister in punkto Zigarren keinen Spaß versteht
Mit einem Griff hätte der Befeidigte seine Sprech'
vverkzeuge auf den TisCh getegt und siCh entfernt-

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