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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 49 (Februar 1911)
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Unger, Erich Walther: Nietzsche, [2]
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Scheerbart, Paul: Der Kaiser von Utopia, [9]: Ein Volksroman$dVon Paul Scheerbart
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0395

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XXVIII

Alles sank, alles löste sich, alles verlor das Leuchten
der Seele und drohte Luft zu werden und Nichts.

Die furchtbarste Tragödie hebt an — Die Tra-
gödie, an deren Schicksals-Dimensionen das Grauen
klei« wurde. Die intensivste Macht des Lebens muss
sich selber verneinen.

Wenn der Sturm des Erlebens vorüber und lange
verrauscht war, so forderte das Bewusstsei« in eherner
Mitleidsiosigkeit andere Zeugnisse für die Güitigkeit der
Gedanken, andere, als die Gewalt des Schauens.

„Wie ? Woran das Herz meines Seins getastet hat,

das könnte — Schein sein? Ich selber-un-

wirklich ?“

Die Explosionskraft des Zarathustra, die so mäch-
tig war, dass sie ihren Träger vernichten konnte, wenn
er sich nicht ihrer entledigt hätte, deren Geburt eine
Frage des Lebens und deren Entladung einen nach
aussen abgewendeten Selbstmord bedeutet, diese tobende
Kraft nähert sich zum zweiten Male getahrdrohend ihrem
Erzeuger.

Und er weiss im tiefsten: Es geht um das Leben.
Er flieht vor sich selber und sucht Rettung vor seiner
gefährlich-eigenen Gewalt.

Er will im „Wilien zur Macht“ und in der „Um-
wertung“ den Gedanken des Zarathustra den logisch
philosophischen Grund bauen, damit ihr Gewicht von
ihr genotnmen werde. Aber seine innerste Natur war
unfähig hierzu, und statt dessen strömten aufs neue
die Gedanken, nur getragen durch die Macht der
Empfindung.

Und alles ruhte drohend über dem Nichts.

Wohl kamen noch die Schauer des Erlebens über
ihn und überredeten ihn:

Du bist wirklicher als je.

Und ein letzter Schauer kam: — Ecce homo.

In erbebendem Erstaunen stand er vor der Kraft
des Zarathustra, die immer näher kam, fordernd, und
nichts ist erschütternder als die Anbetung vor dieser
mörderischen Kraft, um so tiefer, je wahrer die Er-
kennis:

„In unendlicher Ferne liegt all das, was bisher
gross am Menschen hiess, unter dem Zarathustra —
der Begriff Uebermensch ward hier höchste Realität.
Dass ein Goethe, ein Shakespeare nicht einen Augen-
blick in dieser ungeheuren Leidenschaft zu atmen
wissen würde, das ist alles das wenigste und gibt
keinen Begriff von der Distanz, von der azurnen Ein-
samkeit, in der dies Werk lebt.“

Mit einem Dithyrambus wie dem letzten des dritten
Zarathustra flog ich tausend Meilen über das hinaus,
was bisher Poesie hiess.“

Aber das Wissen des Endes dunkelt hindurch.
Welchen Untergangskampf enthüllen die Worte:

„Es gibt Etwas, das ich die Ranküne des Grossen
nenne: Alles Grosse, ein Werk, eine Tat, wendet sich,
einmal vollbracht, unverzüglich gegen den, der sie tat.
Eben damit, dass er sie tat, ist er nunmehr schwach.
— Er hält seine Tat nicht mehr aus, er sieht ihr
nicht mehr ins Gesicht. Etwas hinter sich zu haben,
das man nie wollen durfte, etwas worin der Knoten

im Schicksal der Menschen eingeknüpft ist-und

es nunmeh*r auf sich zu haben — —. Es zer-

drückt beinahe.

Die Ranküne des Grossen: Man büsst es teuer,
unsterblich zu sein“

Immer näher geschah das Zusammenrücken von
unheimlich lebendiger Grösse und j Vernichtung, immer
mehr drohte er in dem Schatten zwischen Vergangenem
und Kommendem zu Grunde zu gehen, immer trotziger
ward die Gier des an Ohnmacht nicht Gewöhnten,
sich zu betäuben, der Rausch, sich an neue grenzen-
lose Gewalten glauben zu machen.

„Ich bin bei weitem der furchtbarste Mensch, den
es je gegeben hat,

„Ich bin kein Mensch-ich bin Dynamit.

„Der Blitzschlag der Umwertung, der die Erde in
Krämpfen beben lassen wird “

Und dennoch und dennoch graut er sich, das
„Ecce homo“ zu entsenden. Denn er weiss und
spricht es aus: Nach diesem kommt das Ende. Nach
diesem letzten Sich-Empor-Schleudern, diesem letzten
Jubel des überwachen Geistes kamen furchtbarer als
je seine Lebens-Gedanken zu ihm: — dann trat es
schneidend ins Bewusstsein:

Das ungeheuerste Erlebnis konnte falsch sein.

Er zerbrach daran.

Der Kaiser von Utopia

Ein Volksroman

Von Paul Scheerbart

XXVII

Die Familie

Es lag etwas Weiches und etwas Schlichtes in dem
kleinen Zimmer, das der Kaiser mit dem Antiquar be-
trat. Und weich und schlicht war auch die Art, in
der die beiden Herren von der Familie in dem kleinen
Zimmer empfangen wurden. Im Nebenzimmer hörte
man leise Klavier spielen — alte sehr einfache Musik,
die im Kaiserreich Utopia immer mehr in Vergessen-
heit geriet.

Der Hausherr hatte einen grauen Bart und treu-
herzige Augen und Iangsame Bewegungen, und seine
Frau war ganz ebenso.

Und man sprach von der alten Zeit, und die beiden
Töchter des Hauses mussten alte Silbersachen und
altes Porzellan — alte Ledersachen und alte Stickereien
— alte Holzschnitzereien und alte Elfenbeinarbeiten —
alte Bücher und alte Zeichnungen — herbeitragen und
zeigen.

Und dabei unterhielt man sich mit dem Kaiser,
als wäre er ein alter Freund und schon mit allen
alten Dingen so vertraut.

Und es gefiel dem Herrn Bartmann — alles wa*
er sah, und auch alles was er hörte. Und er sprach
mit der alten Dame des Hauses von der Seele der
Menschheit — und dass die doch gerade in den alten
Sachen stäke

„Aber auch“, meinte er, „hinter den alten Sachen
steckt noch mehr, als man sieht “

Und das wurde Iebhaft — auch von den beiden
Töchtern — bejaht. Alle waren eifrig bemüht, zu be-
weisen, wie lebendig die alten Möbel und die alten
Schmucksachen seien — man erklärte sich die alte
intime Symbolornamentik, betonte die Wichtigkeit der
immer wiederkehrenden Motive, lobte die alten ge-
dämpften Farben, das Abgegriffene, das Altväterliche
und besonders immer wieder die a'ten Ornament-
motive — die Rosetten, Kränze, Blumenschüsseln, die
alten Schnörkel und die alten Kronen.

Und der Herr Bartmann hatte das Gefühl, als
versinke er in all diesen Plunder, und als er beim
Abendbrot bemerkte, dass er beinahe das Alte ganz
lebendig vor sich fühlte, und von den Eindrücken
seiner Kindheit plauderte und diese mit all den alten
Sachen in Verbindung brachte, und immer wieder be-
tonte, dass man so zwischen alten Sachen in einer
ganz anderen Welt lebe und dass man diejenigen, die
so zwischen alten Sachen in einer anderen Welt leben,
ja nicht stören und sie durch nichts herausreissen
dürfe — da glaubten Alle, dass Herr Bartmann das
Ziel seiner Wünsche erreicht hätte.

Und die alte Dame des Hauses liess den ältesten
Wein bringen und dachte dabei gleichzeitig an ihre
älteste Tochter — und hörte zuweilen garnicht ordentlich
auf das, was gesagt wurde — und es schien dem
Kaiser so, als versinke er in eine weiche, schlichte,
alte Zeit — und das Klavierspiel der ältesten Tochter
vermehrte das Gefühl des Versinkens immer mehr,
so dass der Gast ganz schweigsam wurde.

Wie aber der Herr Bartmann einen Augenblick mit
Herrn Citronenthal allein war, warf er plötzlich hart
den Kopf zurück, und machte mit einem Ruck alle
seine Glieder ganz straff und sagte leise aber bestimmt:

„Herr Citronenthal, jetzt müssen wir unbedingt ein
Glas Bier zusammen trinken.“

Der Antiquar stimmte natürlich zu und ihm war
dabei so, als hörte er in der Ferne eine alte utopi-
anische Hochzeitsmusik.

Es war aber eine Sinnestäuschung.

Zum Abschied bat der Herr des Hauses seine»
neuen Gast, doch eine alte Schnupftabaksdose — eine
sehr feine Silberarbeit mit Email-Miniaturen — zum
Andenken anzunehmen.

Und der Kaiser musste das Geschenk schon an-
nehmen, und er verabschiedete sich von den beiden
Alten und den beiden Töchtern mit den dankbarsten
Worten, so dass die Vier garnicht ahnten, wie weit
fort die Gedanken ihres Gastes waren.

Draussen zog der Kaiser die Stirn in der Mitte
zusammen und rollte mit den Augen.

Der Bierkeller

Der Herr Citronenthal führte nun den Herrn Bart-
mann in das beste Restaurant der Stadt und stellte
seinen Gast dort mehreren alten Herren vor, mit denen
sich die Beiden in das prächtige Eichenzimmer zurück-
zogen. In dem Eichenzimmer war alles voll üppigster
phantastischer Holzschnitzerei — selbst die Tischplatten
zeigten Holzskulpturen in Flachrelief.

Herr Bartmann trank die ersten drei Glas Schwantu-
bräu, ohne etwas zu sagen. Und der Aatiquar kam
auf die Familie zu sprechen, in der die Beiden Abend-
brot gegessen hatten, und er sprach so von der Familie,
dass der Herr Bartmann nicht umhin konate, sein
Schweigen aufzugeben.

„Halten Sie ein“, rief er plötzlich, „heute ist mir
das Unglück des Kaiserreichs Utopia klar geworden;
dieses ruhige, prächtige Leben ist ganz äazu angetan,
die Utopianer von oben bis unten zu verweichlichen;
die Utopianer sind schlaff wie alte Waschlappen —
und das ist ihr Unglück. Stellen Sie sich, meine
Herren, das ungeheuerliche allmächtige Leben in der
Natur vorl Da glüht und sprüht alles durcheinander,
dass die Funken nur so prasseln. Die Welt da draussen
ist voll Leben. Und das Lebea, das wir in der Natur
sehen, reisst uns in andere Sphären — wir müssen
empfinden, dass hinter allen Bäumen und hinter allen
Felsen noch mehr lebt, als das, was wir sehen. Und
der grosse Volksgeist, den wir alle anbeten, und der
unser Dasein durchströmt, wie der Aether die Welt
durchströmt — dieser grosse Volksgeist lebt ebenso
heftig, wie die grosse Welt da draussen. Aber die
Utopianer, die von diesem grossen Geiste geführt
werden, zeigen nicht, dass sie so leben wie der Geist,
der sie führt; die Utopianer sind schlaff und faul, und
all ihr Luxus, und all ihre Kunst, und all ihre Be-
quemlichkert, und all ihre prächtige Gerechtigkeitsliebe
fördern den Utopianer nicht mehr — nein, all diese
schönen Dinge machen den Utopianer schlaff, dass er
nicht mehr ordentlich und rasch zu denken vermag
und nicht mehr im Stande ist, das grosse Leben, das
da draussen in der grossen Welt lebt, mitzumachen.
Der Utopianer kann heute nicht mehr das grosse,
fieberhaft mächtige Weltleben verstehen und mit-
empfinden und infolgedessen auch nicht mehr grosse
Werke schaffen — nicht mehr Werke schaffen, die es
wert sind, als Spiegelbild der Unendlichkeit, der Un-
ermüdlichkeit und Unerschöpflichkeit zu gelten. Wann
denken die Utopianer an das, was hinter allen Er-
scheinungen lebt? Wann denken denn die Utopianer
in ihrem Leben — das grosse Leben sich zu gestalten
— das grosse Leben, dass der Geist lebt der uns
führt, und den wir Volksgeist zu nennen belieben,
nachzuleben? Und ist diese Schlaffheit nicht empörend?
Dieses faule Utopia ist es nicht wert, zu leben —
wenn es nicht so leben will — wie der Grosse, der
hinter uns steht, uns zu leben gebietet. Temperament-
los sind die Utopianer geworden. Ich wünsche Ihnen
einen guten Abend, meine Herren.“

Sagte es und geht hinaus.

Und zweiundzwanzig Minuten später fährt der
Kaiser von Utopia in seinem Sebastianischen Luftschiff
hoch über seinem Kaiserreich durch die Nachtluft zu
den funkelnden Sternen empor.

XXIX

Zwei Idylle

ln Schilda sass die Lotte Wiedewitt in ihrem
Arbeitszimmer und war durchaus guten Mutes.

„Wir werden uns schon durchsetzen!“ sagte sie des
öfteren vor sich hin, und dabei arbeitete sie fleissig
an einer neuen Wandbekleidung; sie beschäftigte sich
schon seit mehreren Monaten, da die Einkünfte auch
im Oberbürgermeisterhause sehr zu wünschen übrig
liessen, mit kunstgewerblichen Arbeiten.

In dem dreieckigen Arbeitszimmer der Frau Ober-
bürgermeisterin lagen in grosser Unordnung grosse
Muscheln, präparierte Fischgräten, Korallen und andere
feste Meeresgewächse in Menge herum und bildeten
ein anmutiges Stilleben.

An den Spiegeln der Wände hingen sehr viele
Fischgräten, die durch ein neues Verfahren steinhart
und mit allen möglichen Farben schillernd bunt ge-
macht waren.

Jetzt aber arbeitete die fleissige Lotte an einer
neuen Wandbekleidung, die auf Metallplatten bunte
Muster aus Perlmutter, Bernstein und gepressten See-

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