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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 45 (Januar 1911)
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Herczeg, Ferenc: Ranko der Held
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Schickele, René: Lektüre
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Zech, Paul: Gang in den Winterabend
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Walden, Herwarth: Kunstverständnis
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0365

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Bei diesen Serbischen Bauern kommt alles aus dem
Herzen . . . ihre Kraft, ihre Ehre, ihre Seele . .
selbst der Hunger nagt ihnen nicht so sehr am Magen-
wie am Herzen . . . Der Staatsanwalt fragte ihn
weshalb denn sein Herz stumm geblieben sei, solange
Milka sich mit anderen Männern umhergetrieben habe,
aber Ranko wusste darauf nichts zu antworten. Die
Geschwornen aber verstanden ihn und sprachen ihn
frei und auch das Volk verstand ihn und preist ihn
im Liede . . .

Wir waren während dieses Gespräches ins Dorf
gekommen. Ich nahm die Einladung des Verwalters
an und kehrte bei ihm ein. Vor seiner Wohnung standen
ein Dutzend Bauern umher, die geduldig hier auf ihn
gewartet hatten.

Sie haben Glück — meinte er — dort steht gerade
der Held!

Er wies auf einen kleinen, schmächtiger Bauern,
der die Mütze in der Hand bescheiden bei den übrigen
stand. Er trug wie die anderen ein Bauernhemd, eine
weisse Filzhose mit schwarzer Verschniirung und
Bundschuhe mit roten Riemen Der Verwalter sprach
ihn mir zu Liebe an:

Nun, Nachbar Ranko, kommst Du morgen mit dem
Wagen herein?

Ich kann hereinkommen, Herr.

Und was verlangst Du Tagelohn?

Was der Herr mir mit gutem Herzen gibt.

Ich fand diese Antwort recht merkwiirdig; denn es
gibt auf der Welt niemanden, der so gern feilscht,
wie die Fuhrleute dieser Gegend.

Und wenn der Verwalter mit gutem Herzen gar-
nichts geben will? nahm ich jetzt das Wort.

Dann mach ich die Fuhre um Christi Liebe willen,
antwortete Ranko und sah mich mit seinen grossen
Augen ernst an.

Ich wollte ihm eine Zigarre geben, er nahm sie
aber nicht.

Wie willst Du aber leben, wenn Du für die Reichen
umsonst arbeitest? fragte ich weiter.

Ranko erwiderte mit lelse singendem Tonfall:

Der Herr, der die Lilien kleidet auf dem Felde. . .

ich sehe schon, Freund Ranko, Du bist Nazarener. .

lch habe das ewige Licht erbiickt!

Der arme Mensch hat sich eben nach seiner Art
mit seinem Gewissen auseinandergesetzt, sagte ich
ungarisch zum Verwalter.

Wir gingen ins Haus. Auf der Treppe blieb mein
Wirt stehen.

Ich muss Ihnen etwas sagen, was recht komisch
klingt. Wenn ich damals bei der Hauptverhandlung
Ranko schuldig gesprochen hätte, so würde man mir
unfehlbar das Dach über dem Kopf angezünaet haben.
Wenn ich aber jetzt hinuntergehe, und ihn halb tot
priigle, so wird ihn morgen das ganze Dorf auslachen
und mir wird durchaus nichts geschehen Auch das
Heldenlied von Ranko wird mit genau derselben Be-
geisterung weiter gesungen werden. . .

Und was folgt daraus?

Dass der Heldenruhm nicht Rankos Besitz ist,
sondern der des Volkes. Das Voik diirstet nach Helden,
und da es keine bekommt, hilft es sich eben, so gut
es kann. . .

Im Vorzimmer begrüsste |uns ein Kanarienvogel
mit lautem Singen.

In der anstossenden Kiiche stand ein Mädchen
vor dem Waschtrog und sang das traurige Lied von
Ranko, dem Helden.

Lektüre

Von Rene Schickele

I

Weil ich krank war, habe ich vieie Zeitschriften
und einige Biicher gelesen. Ich las Tag und Naeht;
denn es ist grässlich, im Bett zu liegen und nicht ein-
mal so krank zu sein, dass man garnicht mehr denkt,
ausser, sehr unbestimmt und voll Erinnerungen, an die
Endfragen der Menschheit . . . Einmal ging es mit
mir sehr schlecht, und es war mir alles wunderbar
gleichgiiltig geworden. Es dauerte nicht einmal vier-

undzwanzig Stunden. Da träumte ich schon wieder,
aass ich in den Strassen einer grossen Stadt den be-
vorstehenden Einzug Karls des Grossen durch Mauer-
anschläge bekannt machte. Die Strassen glichen ein-
ander und hatten keine Namen oder sonstwelche Merk-
male. Es war eine fiirchterliche Arbeit, die man mir
aufgegeben hatte. Ich iiberanstrengte mich, ich fiihlte
mich deutlich wahnsinnig werden. Gott sei Dank fiel
ich vorher in Ohnmacht. . . Als ich wieder zur Be-
sinnung kam, lief ich mit einem Handkoffer und einer
Bassgeige hinter einem Schnellzuge her. Ohne die
Bassgeige hätte ich ihn gewiss eingeholt. Aber so —I
Verzweifelt sank ich auf dem Bahndamm in Bassgeige
nnd Koffer, schweisstriefend und vor Kälte zitternd,
und lauschte, ob hinter mir ein Zug käme und mich
überführe. Ich wollte sterben. Denn ich ertrug das
Missverhältnis zwischen mir und der Bassgeige nicht
mehr. Ich war zu Tode erschöpft von den Grübeleien
über den Zweck des Instruments, das ich mit mir
durchs Leben schleppen sollte, ohne es spielen zu
können, ohne überhaupt die geringste Sympathie dafür
zu haben; ich wusste nicht einmal, wie ich zu dieser
wahrhaft teuflischen Bassgeige gekommen sei Da
begann ich über die „letzten Fragen“ nachzudenken...
Nachher sagte man mir, dass ich vor Wut geschrieen
und die Fäuste gescüttelt hätte.

Fieber erschöpft I)as ist seine angenehmste Eigen-
schaft. Wiederum war mir alles gleichgültig. Als der
Arzt mich untersucht hatte, sagte er, dass er diesmal
sehr zufrieden sei und erst nach zwei Tagen wieder
vorbei käme. Er schrieb eine Ordonnanz, Eine
Schreibmaschinenseite voll Medikamente. Das Mädchen
brachte ein Paket aus der Apotheke nach Hause,
und als das Paket aufgewickelt wurde, dachte ich an
die erfreuliche Vielfältigkeit einer Weihnachtskiste. Da
waren grosse Schachteln und kleine Schachteln, Büchsen,
Flaschen in allen Grössen und allerhand Ueberraschungen,
die noch einmal aus verschiedenen Schichten Papier
gewickelt werden mussten. Wenn endlich Seidenpapier
znm Vorschein kam, sagten wir „Ah! Jetzt.“ Und
dann kams. ... Ich roch an allem und kostete
einiges. Darauf schenkte ich alles der Conciergefrau.
Für den Fall, dass sie einmal krank würde. In diesen
Monaten ist niemand ganz sicher, und die Medikamente
waren gute, erprobte und von Autoritäten empfohlene
Apothekerfindungen, die jeder Arzt in meinem Arron-
dissement verschreibt. Im nächsten führen sie einen
andern Namen, weil sie ein andrer hervorragender
Apotheker erfunden hat, aber es sind immer dieselben
Köstlichkeiten. Ich erkannte sie gleich wieder, obwohl
die Wissenschaft sie mir das letztemal in einem Vor-
ort verschrieben hatte. Trotzdem muss jeder anstän-
dige Patient sie doch immer wieder aus der Apotheke
holen lassen; weil er sonst seinen Arzt um einen Teil
des Honorars betröge; weil es hierzulande nun einmal
so eingerichtet ist, dass der Arzt das Honorar in der
doppelten Form von direkten und indirekten Steuern
bezieht. Die zweite Form bildet eine Art Versicherung,
für den Fall, dass der Patient sich um das Honorar
drücken sollte. Ausserdem . . . soll ich es ge-
stehen? . . . schicke ich zum Apotheker, wie Poly-
krates seinen Ring ins Meer warf. Um die Götter
zu versöhnen. Wenn ich stürbe, könnte ich mir vor-
werfen, dass ich die verschriebenen Medikamente nicht
kaufte und darum sterben musste. Am Geiz . . . .
Und den Geiz habe ich immer für das niedeträchtigste
Laster gehalten, schon deshalb, weil ich es nicht habe.

Statt mein Weihnachtspaket zu verschleissen,

las ich.

II

Zeitschriften

Die kleinen „Marges“, die Eugene Montfort früher
allein schrieb, und die seit einem Jahre eine der
wenigen interessanten Zeitschriften geworden sind, die
sich in diesen kurzgefassten Zeitläuften noch auftreiben
lassen.

Wer kennt „Les Marges“ ?

Nur die harmlosesten Literaten der Republik.

Man kennt die „Revue des deux Mondes“,
die „Revue de Paris“ und andere Folianten, vor
deren Lektüre Gott mich ewig behüten möge. Die
„Revue des deux Mondes“ lebt von dem soliden Re-
nomee, das der Ausruf Mussets ihr gemacht hat:
„Ich bin Mitarbeiter der Revue des deux Mondes ge-
worden, ich werde zu leben haben!“ obwohl sie

schon lange nicht mehr so gut honoriert und nur noch
dle Arbeiten wohlsituierter Leichen veröffentlicht >ie

„Revue de Paris“ lebt davon, dass es Balzac fast ge-
lungen wäre, sie zu ruinieren. Auch der „Mercure
de France“ erscheint. Er ist ein Bazar geworden.
Manchmal gibt es einen von Neuheit flammenden „Jour
de blanc“. Aber selten. Die Hauptmitarbeiter, die
einmal die „Jungen“ waren, sind alt geworden . . .

Die paar Jungeu, die literarischen Ehrgeiz haben,
schreiben in die „Marges“ und in die „Nouvelle Revue
franqaise“.

Man findet in jeder Nummer der „Marges“ knappe,
gut geschriebene Uebersichten über lyrische und epische
Neuerscheinungen, eine musikalische Kritik, einen
Bericht über die Kunstausstellungen und die Erstauf-
führungen. Der sehr begabte Guillaume Apolli-
naire pflegt seine eigene Rubrik: „Contemporains
pittoresques“. Eugene Montfort schreibt die Rand-
glossen. An „produktiver“ Literatur bringt die Zeit-
schrift wenige ausgewählte Gedichte, zwei, drei schöne
Prosaseiten und ein besonderes Stück für Feinschmecker.
In Nummer 29 war es ein Teil des Originalmanüskripts
von „Noa-Noa“. Die Fassung, die wir kannten
(und die noch immer sehr schön war!) ist nur von
einem Iiterarischen Herausgeber vorgenommene Ueber-
arbeitung des Originaltextes . . . Der ungepflegte Ganguin
gefällt mir besser ... In Nummer 22 waren es
u nveröffentii chte Notizen von Flaubert über
seine Orientreise, deren wunderbare Intimität leider jeden
Gedanken an eine deutsche Uebersetzung ausschliesst
Welch ein Liebhaber (um nicht zu sagen „Erotiker“)
war dieser wütende Mönch, der in den Nächten vieler
Jahre, allein zwischen seinen vier Mauern, frierend und
fiebernd, seine Sätze brüllend und wieder tagelang über
dem „richtigen“ Wort brütend mit dem Engel der
Vollendung bis zur Vernichtung rang .... Es hat
keinen Sinn, lieber Herr . . . fast zu leben wie
Flaubert und ganz schreiben zu wollen wie er, wenn
man von anderswoher kommt, anders geartet ist, und
nicht einmal, bevor man Asket wurde, die tiefe und
schreckliche Sanftmut der Sünde gekannt hat. Ein
Heiliger und ein Kastrat sind zweierlei, und es ist gut
zu wissen, welcher dieser beiden Kategorien man an-
gehört. Seit der „Entdeckung“ Flaubert sind die Eu-
nuchen, fdiese Pedanten) mutig geworden. Sie haben
sich korrekt lächelnd als Märtyrer bekränzt und sprechen
von Stil . . . Sie haben Unrecht. O, wie Unrecht!
Ihr Flaubert ist ein grotesker Irrtum. Flaubert war
verzweifelt! Und sie sind ohnmächtig — wenns hoch-
geht, ein wenig katzenjämmerlich. Jetzt so gut wie
früher und in Ewigkeit. In der Literatur ebenso, wie
anderswo

Fortsetzung folgt

üang in den Winterabend

Ueber verschneite Waldparzellen
Schweben Wolken wie ein Schwarm
Aufgescheuchter Libellen.

Schweigen kühlt alle Räume.

Wildfremder Wind

Beweint die frierenden Bäume.

Ein paar Häuser entsteigen
Der Lichtung

Wie ein ärmlicher Fackelreigen;

Nebel wandern gleich Traumgesichten
Quer drüber hin,

Bis sie den Zauber vernichten.

Bis der Sinn aller Kuppen
Den Raupea gleicht,

Die sich schinnend verpuppen.

Paul Zech

Kunstverständnis

Der Bürger urteilt über nichts so dreist und selbst-
herrlich wie über die Kunst. Jede neue Erscheinung
der Literatur, Musik und Malerei gibt ihm einen will-
kommenen Grund sich zu belustigen. Nach Art der
Paranoiker sieht er die Krankheit, den Grössenwahn,

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